T-519/24 – Keserű Művek/ Kommission

T-519/24 – Keserű Művek/ Kommission

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:T:2024:733

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTS (Achte Kammer)

23. Oktober 2024(*)

„ Außervertragliche Haftung – Kontrolle des Erwerbs und des Besitzes von Waffen – Durchführungsrichtlinie (EU) 2019/69 – Kausalzusammenhang – Begriff ‚Feuerwaffe‘ – Begriff ‚Schreckschuss- und Signalwaffen‘ “

In der Rechtssache T‑519/23,

Keserű Művek Fegyvergyár Kft. mit Sitz in Budapest (Ungarn), vertreten durch Rechtsanwalt A. Grád,

Klägerin,

gegen

Europäische Union, vertreten durch die Europäische Kommission, diese vertreten durch K. Talabér-Ritz und R. Tricot als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Französische Republik, vertreten durch B. Fodda, R. Bénard und O. Duprat-Mazaré als Bevollmächtigte,

Streithelferin,

erlässt

DAS GERICHT (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten A. Kornezov (Berichterstatter) sowie der Richter G. De Baere und D. Petrlík,

Kanzler: V. Di Bucci,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

aufgrund des Umstands, dass keine der Parteien innerhalb von drei Wochen nach Bekanntgabe des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat, und der Entscheidung gemäß Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage nach Art. 268 AEUV und Art. 340 Abs. 2 AEUV beantragt die Klägerin, die Keserű Művek Fegyvergyár Kft., den Ersatz des Schadens, der ihr infolge des Erlasses der Durchführungsrichtlinie (EU) 2019/69 der Kommission vom 16. Januar 2019 zur Festlegung technischer Spezifikationen für Schreckschuss- und Signalwaffen gemäß der Richtlinie 91/477/EWG des Rates über die Kontrolle des Erwerbs und des Besitzes von Waffen (ABl. 2019, L 15, S. 22) entstanden sei.

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

2        Die Klägerin ist eine Gesellschaft mit Sitz in Ungarn, die Waffen herstellt und mit ihnen handelt. Sie gibt an, für den Zeitraum vom 7. August 2009 bis zum 4. April 2029 über die ausschließlichen Rechte für die Herstellung und den Vertrieb eines Waffenmodells zu verfügen, mit dem Gummigeschosse verschossen werden könnten (im Folgenden: Keserű-Waffe).

3        Am 16. Januar 2019 erließ die Europäische Kommission die Durchführungsrichtlinie 2019/69. Gemäß Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie endete die Umsetzungsfrist der Mitgliedstaaten am 17. Januar 2020.

4        Ungarn setzte die Durchführungsrichtlinie 2019/69 u. a. mit dem Gesetz 2020. évi XLIX. törvény egyes törvényeknek a fegyverek megszerzésének és tartásának ellenőrzésére vonatkozó európai uniós jogi szabályozás módosításával összefüggő jogharmonizációs célú módosításáról, Magyar Közlöny 2020. évi 137. száma (Gesetz Nr. XLIX von 2020 zur Änderung bestimmter Rechtsakte zwecks Harmonisierung der Rechtsvorschriften im Rahmen der Änderung der Rechtsvorschriften der Europäischen Union über die Kontrolle des Erwerbs und des Besitzes von Waffen) zur Änderung des Gesetzes 2004. évi XXIV. törvény a lőfegyverekről és lőszerekről, Magyar Közlöny 2004. évi 56. száma (Gesetz Nr. XXIV von 2004 über Feuerwaffen und Munition) mit Wirkung vom 1. Januar 2021 sowie mit dem 326/2020. (VII. 1.) Korm. Rendelet a fegyverekről és lőszerekről szóló 253/2004. (VIII. 31.) Korm. rendelet jogharmonizációs célú módosításáról, Magyar Közlöny 2020. évi 158. száma (Regierungserlass 326/2020 [VII. 1.] zur Änderung des Regierungserlasses 253/2004. [VIII. 31.] über Waffen und Munition aus Gründen der Rechtsharmonisierung) mit Wirkung vom 1. Januar 2023 um.

5        Mit Schreiben vom 25. Oktober 2022 informierte das Országos Rendőr- főkapitányság (nationales Polizeipräsidium, Ungarn) die Klägerin über die neuen Regelungen für „Gas- und Schreckschusswaffen“. Die Klägerin zog daraus den Schluss, dass sie die Keserű-Waffe ab dem 1. Januar 2023 nicht mehr an Personen verkaufen dürfe, die keine Waffenbesitzkarte hätten.

6        Da der Klägerin aufgrund der Durchführungsrichtlinie 2019/69 ein Schaden entstanden sei, weil sie den Verkauf der Keserű-Waffe auf Personen mit Waffenbesitzkarte habe beschränken müssen, erhob sie die vorliegende Klage.

 Anträge der Parteien

7        Die Klägerin beantragt im Wesentlichen,

–        der Europäischen Union den Ersatz des Schadens aufzuerlegen, der ihr durch den Erlass der Durchführungsrichtlinie 2019/69 entstanden ist und der für den Zeitraum vom 1. Januar 2023 bis zum 4. April 2029 auf 1 590 088 Euro beziffert wird;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

8        Die Kommission, unterstützt von der Französischen Republik, beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

9        Mit ihrer Klage beantragt die Klägerin in erster Linie den Ersatz des Schadens, der ihr durch den Erlass eines rechtswidrigen Rechtsakts, nämlich der Durchführungsrichtlinie 2019/69, entstanden sei, sowie hilfsweise den Ersatz des durch den Erlass dieser Richtlinie entstandenen Schadens auch für den Fall, dass die Richtlinie rechtmäßig sei.

 Zur Haftung der Union wegen des Erlasses eines rechtswidrigen Rechtsakts

10      Zur Auslösung der Haftung der Union macht die Klägerin geltend, dass die Durchführungsrichtlinie 2019/69 rechtswidrig sei, da diese gegen die Art. 340 und 10 AEUV sowie gegen Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoße.

11      Im Wesentlichen könnten mit der Keserű-Waffe aufgrund ihrer technischen Eigenschaften ausschließlich Gummigeschosse verschossen werden; „scharfe Munition“ könne sie nicht abfeuern, und ihre Gussform sorge dafür, dass sie nicht in eine Feuerwaffe umgewandelt werden könne. Diese Waffe entspreche aufgrund der Art ihrer Herstellung umfassend dem mit der Durchführungsrichtlinie 2019/69 verfolgten Ziel, Menschenleben zu schützen und der Gefahr von Tötungsdelikten vorzubeugen. In der Durchführungsrichtlinie 2019/69 sei dieser Besonderheit der Keserű-Waffe nicht Rechnung getragen worden, und sie sei der gleichen Regelung unterworfen worden wie Schreckschuss- und Signalwaffen, mit denen feste Geschosse abgefeuert werden könnten und die deshalb einer anderen Kategorie von Waffen zuzuordnen seien. Dies stelle einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot dar. In der in Rede stehenden Richtlinie hätte eine Ausnahme für Waffen mit ähnlichen Eigenschaften wie jene der Keserű-Waffe vorgesehen werden müssen. Da die Kommission unterschiedliche Sachverhalte gleichbehandelt habe, habe sie gegen Art. 10 AEUV und Art. 21 der Charta sowie gegen das Verbot der Diskriminierung wegen, u. a., einer „besonderen Eigenschaft“ verstoßen.

12      Außerdem könne die Keserű-Waffe nicht als „Feuerwaffe“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 der Richtlinie (EU) 2021/555 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. März 2021 über die Kontrolle des Erwerbs und des Besitzes von Waffen (ABl. 2021, L 115, S. 1) betrachtet werden, da gemäß dieser Bestimmung Waffen, die aus einem der in Anhang I Abschnitt III dieser Richtlinie genannten Gründe von dieser Definition ausgenommen seien, nicht unter den Begriff „Feuerwaffen“ fielen. Die Keserű-Waffe erfülle die in Anhang I Abschnitt III Buchst. a der Richtlinie 2021/555 vorgesehenen Voraussetzungen und könne daher nicht als „Feuerwaffe“ eingestuft werden.

13      Die Kommission und die Französische Republik treten dieser Argumentation entgegen.

14      Nach Art. 340 Abs. 2 AEUV ersetzt die Union im Bereich der außervertraglichen Haftung den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind.

15      Nach ständiger Rechtsprechung setzt die außervertragliche Haftung der Union einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, das tatsächliche Bestehen des Schadens sowie einen Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die dem betreffenden Organ obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden voraus (vgl. Urteil vom 10. September 2019, HTTS/Rat, C‑123/18 P, EU:C:2019:694, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

16      Wenn eine der oben in Rn. 15 genannten Voraussetzungen nicht vorliegt, ist die Klage insgesamt abzuweisen, ohne dass die übrigen Voraussetzungen der außervertraglichen Haftung der Union geprüft zu werden bräuchten. Außerdem sind die Unionsgerichte nicht gehalten, diese Voraussetzungen in einer bestimmten Reihenfolge zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. September 1999, Lucaccioni/Kommission, C‑257/98 P, EU:C:1999:402, Rn. 13 und 63, sowie vom 5. September 2019, Europäische Union/Guardian Europe und Guardian Europe/Europäische Union, C‑447/17 P und C‑479/17 P, EU:C:2019:672, Rn. 148).

17      Im vorliegenden Fall ist zunächst die Voraussetzung eines Kausalzusammenhangs zwischen dem angeblich rechtswidrigen Rechtsakt und dem erlittenen Schaden zu prüfen.

18      Hierzu ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass sich diese Voraussetzung darauf bezieht, dass ein hinreichend unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Unionsorgane und dem Schaden in der Weise besteht, dass das gerügte Verhalten die entscheidende Ursache für den Schaden sein muss, wobei die klagende Partei die Beweislast für diesen Zusammenhang trägt (vgl. Urteil vom 5. September 2019, Europäische Union/Guardian Europe und Guardian Europe/Europäische Union, C‑447/17 P und C‑479/17 P, EU:C:2019:672, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19      Genauer gesagt muss sich der Schaden mit hinreichender Unmittelbarkeit aus dem rechtswidrigen Verhalten ergeben, was insbesondere Schäden ausschließt, die nur eine entfernte Folge dieses Verhaltens sind (Urteil vom 5. September 2019, Europäische Union/Guardian Europe und Guardian Europe/Europäische Union, C‑447/17 P und C‑479/17 P, EU:C:2019:672, Rn. 135, und Beschluss vom 12. Dezember 2007, Atlantic Container Line u. a./Kommission, T‑113/04, nicht veröffentlicht, EU:T:2007:377, Rn. 40).

20      Im vorliegenden Fall macht die Klägerin geltend, dass die Durchführungsrichtlinie 2019/69 rechtswidrig sei, da sie gegen das in Art. 10 AEUV und Art. 21 der Charta verankerte Verbot der Diskriminierung verstoße, und dass ihr dadurch ein Schaden entstanden sei, da der Verkauf der Keserű-Waffe seit 1. Januar 2023 nur noch an Personen erlaubt sei, die über eine Waffenbesitzkarte verfügten.

21      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Durchführungsrichtlinie 2019/69 der Festlegung technischer Spezifikationen für Schreckschuss- und Signalwaffen gemäß der Richtlinie 91/477/EWG des Rates vom 18. Juni 1991 über die Kontrolle des Erwerbs und des Besitzes von Waffen (ABl. 1991, L 256, S. 51), aufgehoben durch die Richtlinie 2021/555, dient. Gemäß Art. 26 der Richtlinie 2021/555 gelten Bezugnahmen auf die Richtlinie 91/477 als Bezugnahmen auf die Richtlinie 2021/555. Da der Schaden, den die Klägerin erlitten haben soll, den Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2023 und dem 4. April 2029 betrifft, fällt dieser Fall in den zeitlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2021/555.

22      Es ist daher zu prüfen, ob eine Waffe mit den Eigenschaften der Keserű-Waffe als „Schreckschuss- und Signalwaffe“ im Sinne der Richtlinie 2021/555 eingestuft werden kann und ob folglich die Durchführungsrichtlinie 2019/69, auf die der Klägerin zufolge der ihr entstandene Schaden zurückzuführen ist, eine Ausnahme für Waffen hätte vorsehen müssen, die ähnliche Eigenschaften aufweisen wie die Keserű-Waffe.

23      Gemäß Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2021/555 fällt unter den Begriff „Feuerwaffe“ „jede tragbare Waffe, die Schrot, eine Kugel oder ein anderes Geschoss mittels Treibladung durch einen Lauf verschießt, die für diesen Zweck gebaut ist oder die für diesen Zweck umgebaut werden kann, es sei denn, sie ist aus einem der in Anhang I [Abschnitt III] genannten Gründe von dieser Definition ausgenommen“. Die Einteilung der Feuerwaffen ist nach dieser Bestimmung in Abschnitt II des Anhangs I geregelt. Im Übrigen „[gilt e]in Gegenstand … als zum Verschießen von Schrot, einer Kugel oder eines anderen Geschosses mittels Treibladung umbaubar, wenn er a) das Aussehen einer Feuerwaffe hat und b) sich aufgrund seiner Bauweise oder des Materials, aus dem er hergestellt ist, zu einem Umbau eignet“.

24      Gemäß Abschnitt III Buchst. a des Anhangs I der Richtlinie 2021/555 sind Gegenstände, die der Definition zwar entsprechen, die jedoch zu Alarm‑, Signal- und Rettungszwecken, zu Schlachtzwecken oder für das Harpunieren gebaut oder für industrielle und technische Zwecke bestimmt sind, sofern sie nur für diese Verwendung eingesetzt werden können, nicht in die Definition der „Feuerwaffen“ einbezogen.

25      „Schreckschuss- und Signalwaffen“ werden wiederum in Art. 1 Abs. 1 Nr. 4 der Richtlinie 2021/555 definiert als „Objekte mit einem Patronenlager, die dafür ausgelegt sind, nur Platzpatronen, Reizstoffe, sonstige aktive Substanzen oder pyrotechnische Signalpatronen abzufeuern, und die nicht so umgebaut werden können, dass damit Schrot, Kugeln oder Geschosse mittels einer Treibladung abgefeuert werden“.

26      Aus den Akten sowie den Schriftsätzen der Klägerin ergibt sich, dass es sich bei der Keserű-Waffe um eine Waffe handelt, mit der aus einer Trommel Gummigeschosse abgefeuert werden können. Sie besteht aus einem Rahmen, einem in den Rahmen integrierten Lauf, einer am Rahmen befestigten Trommel mit Patronenlager, einem am Rahmen befestigten Abzug und einem durch den Abzug betätigten Schlagbolzen. Ihre Trommel ist so ausgestaltet, dass von vorne die Gummigeschosse und von hinten Gas- oder Alarmpatronen geladen werden. Eine der Kammern der Trommel befindet sich zum Zeitpunkt des Abfeuerns in der Verlängerung des Laufs der Waffe. Wie von der Kommission geltend gemacht und ohne dass die Klägerin dem widersprochen hätte, werden mit dieser Waffe mittels einer Treibladung Gummigeschosse abgefeuert.

27      Daraus folgt, dass es sich bei der Keserű-Waffe um eine tragbare Waffe handelt, die mittels einer Treibladung „Kugeln“ – in diesem Fall Gummigeschosse – durch einen Lauf verschießt, und sie daher als „Feuerwaffe“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2021/555 einzustufen ist.

28      Diese Schlussfolgerung wird durch das Vorbringen der Klägerin nicht in Frage gestellt.

29      Erstens ist das Argument der Klägerin, wonach mit der Keserű-Waffe nur Gummigeschosse, aber keine „richtigen“ Kugeln abgefeuert werden könnten, zurückzuweisen. Der Begriff „Feuerwaffe“ umfasst nämlich jede Waffe, die „Schrot, eine Kugel oder ein anderes Geschoss“ mittels Treibladung verschießt. In diesem Fall kann nicht geltend gemacht werden, dass der Begriff „Kugel“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2021/555 Gummigeschosse wie jene, die mit der Keserű-Waffe abgefeuert werden, nicht umfasse.

30      Zweitens ist nicht maßgeblich, dass die Keserű-Waffe aufgrund ihrer Gussform nicht so umgebaut werden kann, dass damit „richtige“ Kugeln verschossen werden können. Der Umstand, dass diese Waffe auf das Abfeuern von Gummigeschossen mittels Treibladung ausgelegt ist, reicht nämlich aus, um sie – wie oben in Rn. 29 ausgeführt – als „Feuerwaffe“ einzustufen.

31      Drittens ist zu dem Argument der Klägerin in Bezug auf die Härte der in der Keserű-Waffe verwendeten Gummigeschosse und den maximalen Spitzendruck zum Zeitpunkt des Abfeuerns dieser Geschosse festzustellen, dass diese Eigenschaften, ihr Vorliegen unterstellt, nicht den Schluss zulassen, dass die Keserű-Waffe keine „Feuerwaffe“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2021/555 darstellt. Wie es sich aus Rn. 29 des vorliegenden Urteils ergibt, erfüllt sie nämlich alle dort vorgesehenen Voraussetzungen, denn keine Bestimmung der Richtlinie 2021/555 deutet darauf hin, dass ein Gummigeschoss aufgrund seiner Härte oder des maximalen Spitzendrucks zum Zeitpunkt des Abfeuerns nicht als „Kugel“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 dieser Richtlinie zu betrachten wäre.

32      Viertens fällt die Keserű-Waffe entgegen dem Vorbringen der Klägerin auch nicht in die Kategorie von Waffen gemäß Anhang I Abschnitt III Buchst. a der Richtlinie 2021/555, die nicht in die Definition der „Feuerwaffen“ einbezogen sind.

33      Die Keserű-Waffe ist nämlich weder zu Alarm- noch zu Signalzwecken gebaut und erfüllt daher nicht die Voraussetzung, nur für diese Verwendung eingesetzt werden zu können, wie gemäß Abschnitt III Buchst. a des Anhangs I der Richtlinie 2021/555 erforderlich.

34      Gemäß Art. 1 Abs. 1 Nr. 4 der Richtlinie 2021/555 handelt es sich bei „Schreckschuss- und Signalwaffen“ um Objekte, die zum einen darauf ausgelegt sind, „nur“ Platzpatronen, Reizstoffe, sonstige aktive Substanzen oder pyrotechnische Signalpatronen abzufeuern, und die zum anderen nicht so umgebaut werden können, dass damit Schrot, Kugeln oder Geschosse mittels einer Treibladung abgefeuert werden können.

35      Es steht jedoch fest, dass die Keserű-Waffe nicht darauf ausgelegt ist, „nur“ Platzpatronen, Reizstoffe, sonstige aktive Substanzen oder pyrotechnische Signalpatronen abzufeuern, da sie – wie von der Klägerin selbst eingeräumt – dazu dient, Gummigeschosse abzufeuern, so dass sie die erste oben genannte Voraussetzung für die Einstufung als „Schreckschuss- und Signalwaffe“ nicht erfüllt.

36      Aus dem gleichen Grund kann die Keserű-Waffe nicht als Waffe betrachtet werden, die zu Alarm- oder Signalzwecken dient und damit die Voraussetzung erfüllt, im Sinne von Anhang I Abschnitt III Buchst. a der Richtlinie 2021/555 nur für diese Verwendung eingesetzt werden zu können.

37      Im Übrigen beschreibt die Klägerin ihre Waffe selbst als eine „mit Gas betriebene Schreckschusswaffe, die auf das Abfeuern von Gummigeschossen ausgelegt ist“. Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass diese Waffe zu Alarmzwecken konzipiert wurde, ändert dies also nichts daran, dass damit auch Gummigeschosse abgefeuert werden können, was nicht als bloße Verwendung zu Alarmzwecken eingestuft werden kann.

38      Fünftens handelt es sich bei dem Umstand, dass die Keserű-Waffe als nicht tödliche Waffe ausgestaltet wurde, entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht um ein maßgebliches Kriterium für die Bestimmung, ob es sich um eine „Feuerwaffe“ im Sinne der Richtlinie 2021/555 handelt.

39      Sechstens macht die Klägerin geltend, die Kúria (früher Legfelsőbb Bíróság) (Oberstes Gericht, Ungarn) habe mit dem Urteil Nr. Kfv.VI.39.008/2011/4 vom 24. Oktober 2011 entschieden, dass es sich bei der Keserű-Waffe nicht um eine „Feuerwaffe“ im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 2021/555 handele.

40      In diesem Zusammenhang genügt der Hinweis, dass die ausschließliche Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts dem Gerichtshof zukommt (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 246, und Gutachten 1/17 vom 30. April 2019, EU:C:2019:341, Rn. 111), so dass die Unionsgerichte nicht an die von einem nationalen Gericht vorgenommene Auslegung des Unionsrechts gebunden sein können.

41      Außerdem ist jedenfalls festzustellen, dass das oben in Rn. 39 genannte Urteil der Kúria aus dem Jahr 2011 stammt und darin die nach diesem Zeitpunkt erfolgte Entwicklung des Unionsrechts im Bereich der Kontrolle des Erwerbs und des Besitzes von Waffen nicht berücksichtigt werden konnte.

42      Daraus folgt, dass die Keserű-Waffe nicht als „Schreckschuss- und Signalwaffe“ im Sinne der Richtlinie 2021/555 eingestuft werden kann und dass sie daher nicht vom Anwendungsbereich der Durchführungsrichtlinie 2019/69 umfasst ist.

43      Die Durchführungsrichtlinie 2019/69 konnte den von der Klägerin geltend gemachten Schaden somit nicht verursachen.

44      Die Voraussetzung des Bestehens eines Kausalzusammenhangs zwischen dem gerügten Verhalten und dem geltend gemachten Schaden ist also nicht erfüllt.

45      Folglich besteht keine Haftung der Union aufgrund der geltend gemachten Rechtswidrigkeit der Durchführungsverordnung 2019/69.

 Zur Haftung der Union wegen des Erlasses eines rechtmäßigen Rechtsakts

46      Die Klägerin beantragt hilfsweise den Ersatz des durch den Erlass der Durchführungsrichtlinie 2019/69 entstandenen Schadens auch für den Fall, dass sie rechtmäßig ist.

47      Es kann jedoch dahingestellt bleiben, ob ein durch rechtmäßiges Handeln verursachter Schaden die Haftung der Union auslösen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. März 2010, Sviluppo Italia Basilicata/Kommission, C‑414/08 P, EU:C:2010:165, Rn. 141, und vom 18. September 2014, Holcim [Romania]/Kommission, T‑317/12, EU:T:2014:782, Rn. 235); es genügt jedenfalls die Feststellung, dass eine solche Haftung der Union nur dann ausgelöst werden kann, wenn drei Voraussetzungen – tatsächliches Vorliegen des angeblich entstandenen Schadens, ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Schaden und dem den Unionsorganen zur Last gelegten Handeln sowie Qualifikation des Schadens als außergewöhnlicher und besonderer Schaden – nebeneinander erfüllt sind (Urteil vom 15. Juni 2000, Dorsch Consult/Rat und Kommission, C‑237/98 P, EU:C:2000:321, Rn. 19).

48      Aus den gleichen Gründen wie in den Rn. 17 bis 43 des vorliegenden Urteils ausgeführt ist also festzustellen, dass die Klägerin keinen Kausalzusammenhang zwischen der Durchführungsrichtlinie 2019/69 und dem Schaden nachgewiesen hat, der ihr entstanden sein soll.

49      Dies führt also ebenfalls nicht zu einer Haftung der Union.

50      Folglich ist die Klage insgesamt abzuweisen.

 Kosten

51      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Beklagten die Kosten aufzuerlegen.

52      Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Die Französische Republik trägt daher ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Achte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Keserű Művek Fegyvergyár Kft. trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten, die der Europäischen Union, vertreten durch die Europäische Kommission, entstanden sind.

3.      Die Französische Republik trägt ihre eigenen Kosten.

Kornezov

De Baere

Petrlík

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 23. Oktober 2024.

Unterschriften



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