Vorläufige Fassung
BESCHLUSS DES PRÄSIDENTEN DES GERICHTSHOFS
12. Februar 2025(* )
„ Beschleunigtes Verfahren “
In der Rechtssache C‑829/24
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 4. Dezember 2024,
Europäische Kommission, vertreten durch L. Armati, A. Bouchagiar, M. Mataija, Zs. Teleki und J. Tomkin als Bevollmächtigte,
Klägerin,
gegen
Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,
Beklagter,
erlässt
DER PRÄSIDENT DES GERICHTSHOFS
nach Anhörung des Berichterstatters J. Passer und der Generalanwältin J. Kokott
folgenden
Beschluss
1 Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass Ungarn mit dem Erlass des A nemzeti szuverenitás védelméről szóló 2023. évi LXXXVIII. törvény (Gesetz Nr. LXXXVIII von 2023 über den Schutz der nationalen Souveränität, im Folgenden: streitiges Gesetz) gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 49, 56 und 63 AEUV, aus Art. 3 der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) (ABl. 2000, L 178, S. 1), aus den Art. 14, 16 und 19 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36), aus den Art. 7, 8, 11, 12, 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie aus den Art. 5, 6, 9 und 10 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1) verstoßen hat.
2 Mit gesondertem Schriftsatz, der am 4. Dezember 2024 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die Kommission beantragt, die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 133 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.
3 Zur Stützung ihres Antrags legt die Kommission als Erstes dar, dass das streitige Gesetz die nationale Souveränität Ungarns schützen solle und zu diesem Zweck ein „Amt zum Schutz der nationalen Souveränität“ (im Folgenden: Amt) schaffe. Dieses habe die Aufgabe, die Tätigkeiten, die diese Souveränität gefährden oder bedrohen könnten, sowie die aus dem Ausland unterstützten Organisationen zu ermitteln, die Tätigkeiten ausübten oder unterstützten, die den Willen der Wähler oder das Ergebnis von Wahlen beeinflussen könnten. Die Kommission weist ferner darauf hin, dass das Amt in bestimmten Aspekten von einer rechtlichen Regelung profitiere, die vom allgemeinen Recht abweiche, insbesondere in Bezug auf seine Untersuchungsbefugnisse, die besonders weit gingen, zugleich aber der Kontrolle durch die Verwaltungsgerichte entzogen seien.
4 Als Zweites macht die Kommission im Wesentlichen geltend, dass die vorliegende Rechtssache aufgrund ihrer Natur eine rasche Erledigung erfordere.
5 Insoweit trägt sie erstens vor, dass das streitige Gesetz nach einer binären Unterscheidung zwischen inländischen und ausländischen Interessen strukturiert sei, die die Mitgliedschaft Ungarns in der Union nicht berücksichtige. Aufgrund dieser Unterscheidung sei die Anwendung dieses Gesetzes geeignet, die grundlegenden Verkehrsfreiheiten zu beeinträchtigen, die es Unionsbürgern und Einrichtungen wie Organisationen der Zivilgesellschaft oder Mediendiensteanbietern erlaubten, ihre Tätigkeiten, einschließlich der wirtschaftlichen, weiterhin in Ungarn auszuüben, insbesondere indem sie sich dort niederließen, dort Dienstleistungen erbrächten oder dorthin Kapital transferierten. Zudem sei die Anwendung dieses Gesetzes geeignet, verschiedene, den betroffenen natürlichen oder juristischen Personen garantierte Grundrechte zu verletzen, wie das Recht auf Achtung des Privatlebens, das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz oder die Vereinigungs‑, Meinungs- und Informationsfreiheit, die für das reibungslose Funktionieren einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft wesentlich seien.
6 Zweitens macht die Kommission im Wesentlichen geltend, dass das streitige Gesetz praktische und wirtschaftliche Folgen sowie Auswirkungen auf den Ruf der natürlichen oder juristischen Personen, auf die es Anwendung finde, insbesondere auf Organisationen der Zivilgesellschaft und Mediendiensteanbieter, und damit auf den Pluralismus und die Medienfreiheit haben könne, die sowohl grundlegend als auch teilweise schwer umkehrbar seien. Das Amt sei nämlich befugt, Untersuchungen in Bezug auf diese Personen durchzuführen und nach Abschluss seiner Untersuchungen Berichte zu veröffentlichen, in denen ihre Tätigkeiten als „Bedrohungen“ oder „Beeinträchtigungen“ der nationalen Souveränität eingestuft würden. Überdies erlaube es das streitige Gesetz, die Finanzierung dieser Tätigkeiten zu blockieren oder zumindest wesentlich zu erschweren.
7 Als Drittes und Letztes macht die Kommission geltend, dass die Situation, die sich aus dem Erlass des streitigen Gesetzes ergebe, zu sehr schweren und weitreichenden Verstößen gegen eine Vielzahl von Bestimmungen des Primär- und Sekundärrechts der Union führe, zu denen mehrere Bestimmungen gehörten, in denen Freiheiten oder Grundrechte verankert seien, die die Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft bildeten.
8 Ungarn hält den Antrag der Kommission auf ein beschleunigtes Verfahren für unbegründet und macht im Wesentlichen folgende Argumente geltend.
9 Zunächst beschränke sich die Kommission auf die allgemeine und abstrakte Behauptung, dass die Anwendung des streitigen Gesetzes praktische und wirtschaftliche Folgen sowie Auswirkungen auf den Ruf der natürlichen oder juristischen Personen, auf die es Anwendung finde, haben könne, die beträchtlich und teilweise schwer umkehrbar seien, lege aber keinen Beweis dafür vor, dass solche Konsequenzen erwiesen oder zumindest wahrscheinlich seien.
10 Sodann habe die Geltendmachung angeblicher Beeinträchtigungen der durch das Unionsrecht garantierten grundlegenden Verkehrsfreiheiten oder der Auswirkungen auf wirtschaftliche Tätigkeiten natürlicher oder juristischer Personen, auf die das streitige Gesetz Anwendung finde, im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage, mit der die Kommission einen Verstoß gegen die Bestimmungen des Unionsrechts, in denen diese Grundfreiheiten verankert seien, dartun wolle, keinen Ausnahmecharakter und begründe daher für sich genommen keine außerordentliche Dringlichkeitssituation, die es rechtfertige, dass eine bestimmte Rechtssache dem beschleunigten Verfahren unterworfen werden könne.
11 Im Übrigen lasse die Kommission im Rahmen ihres Vorbringens zum Vorliegen von Grundrechtsverletzungen die im streitigen Gesetz vorgesehenen Garantien außer Acht. Insbesondere habe jede Person, die von einer Untersuchung des Amtes und dem nach deren Abschluss veröffentlichten Bericht betroffen sei, die Möglichkeit, ein Gericht anzurufen, um namentlich einen Rechtsverstoß des Amtes feststellen zu lassen, dessen Beendigung zu erwirken oder eine Entschädigung für den ihr durch den Rechtsverstoß entstandenen Schaden zu erhalten. Zudem stellten die Schlussfolgerungen in den vom Amt veröffentlichten Berichten für sich genommen keine Sanktion dar und seien nicht unmittelbar rechtsverbindlich, wie sich aus der Entscheidung des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht, Ungarn) vom 15. November 2024 in der Rechtssache IV/02551/2024 ergebe.
12 Das behauptete Zusammentreffen von Verstößen gegen eine Vielzahl von Bestimmungen des Primär- und Sekundärrechts der Union rechtfertige gerade nicht die Anwendung des beschleunigten Verfahrens, sondern im Gegenteil eine eingehende und umfassende Prüfung der zahlreichen – und im Übrigen komplexen – Rügen der Kommission gemäß den nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und seiner Verfahrensordnung üblicherweise anwendbaren Verfahren.
13 Schließlich weist Ungarn darauf hin, dass die Kommission zwar beim Gerichtshof beantragt habe, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, im Vorverfahren aber davon abgesehen habe, kürzere als die üblichen Fristen anzuwenden, was belege, dass die vorliegende Rechtssache nicht dringlich sei. Zudem unterscheide sich das Verhalten der Kommission im Rahmen des Vorverfahrens von dem in anderen Rechtssachen, in denen sie kürzere als die üblichen Fristen angewandt habe, ohne jedoch später beim Gerichtshof zu beantragen, diese Rechtssachen dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.
14 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 133 Abs. 1 der Verfahrensordnung der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des Klägers oder des Beklagten und nach Anhörung der Gegenpartei entscheiden kann, eine Rechtssache einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.
15 Im vorliegenden Fall hält Ungarn den Antrag der Kommission, die vorliegende Rechtssache einem solchen beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, für unbegründet und stellt insbesondere die Ausführungen der Kommission zu den nachteiligen Auswirkungen des streitigen Gesetzes in Frage. Ungarn bestreitet jedoch weder, dass dieses Gesetz den Schutz seiner nationalen Souveränität bezweckt, noch, dass es zu diesem Zweck ein Amt einrichtet, das im Wesentlichen damit betraut ist, Tätigkeiten, die diese Souveränität gefährden oder bedrohen könnten, und aus dem Ausland unterstützte Organisationen, die Tätigkeiten ausüben oder unterstützen, die den Willen der Wähler oder das Ergebnis von Wahlen beeinflussen könnten, zu untersuchen. Ferner geht dieses Ziel eindeutig aus der Präambel dieses Gesetzes hervor, in der u. a. – wie aus der Klageschrift der Kommission hervorgeht, ohne dass Ungarn dem widersprochen hätte – von der Notwendigkeit die Rede ist, „die demokratische Debatte und die Transparenz der öffentlichen und sozialen Entscheidungsprozesse zu gewährleisten [sowie] Versuche ausländischer Einflussnahmen offenzulegen und sämtliche ähnlichen Versuche zu verhindern“. Des Weiteren führt die Kommission in ihrer Klageschrift aus, § 11 des streitigen Gesetzes sehe vor, dass dann, wenn das „Amt Tatsachen oder Umstände [feststellt], die zur Einleitung oder Durchführung eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens, eines Strafverfahrens, eines Verwaltungsverfahrens oder eines sonstigen Verfahrens führen können, … es zu diesem Zwecke die zur Durchführung dieses Verfahrens befugte Stelle über die ihm zur Kenntnis gekommenen Daten und Tatsachen [unterrichtet].“ Darüber hinaus könnten nach der in § 32 dieses Gesetzes vorgesehenen Änderung des ungarischen Strafgesetzbuchs bestimmte Personen, die mit diesen Organisationen in Verbindung stünden, wegen der Inanspruchnahme ausländischer Unterstützung, die im Rahmen ihrer Tätigkeiten verboten sei, bestraft werden. Ungarn tritt dieser Darlegung des streitigen Gesetzes nicht entgegen.
16 Folglich ist festzustellen, dass dieser Mitgliedstaat nicht den Inhalt der in der vorstehenden Randnummer genannten Bestimmungen als solchen bestreitet, sondern vielmehr im Wesentlichen in Abrede stellt, dass die sich daraus ergebenden Folgen erwiesen und schädlich seien. Ein solches Bestreiten genügt jedoch nicht, um das Vorbringen der Kommission zurückzuweisen, dass rasch festgestellt werden müsse, ob diese Bestimmungen gegen das Unionsrecht verstießen, um gegebenenfalls das Eintreten dieser Folgen zu verhindern.
17 In Anbetracht der oben angeführten Aspekte erfordert das Allgemeininteresse, dass die Frage der Vereinbarkeit des streitigen Gesetzes mit dem Unionsrecht so rasch wie möglich entschieden wird, um insoweit jede nachteilige Ungewissheit zu beseitigen und es Ungarn somit zu ermöglichen, das Gesetz entweder, falls es sich als unionrechtskonform erweist, in Ausübung seiner nationalen Zuständigkeiten und seiner Souveränität vollständig und ungehindert anzuwenden oder im gegenteiligen Fall die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.
18 In anderen Zusammenhängen ist nämlich bereits entschieden worden, dass es, wenn eine Vorabentscheidungssache große Ungewissheit hervorruft, die Grundfragen des nationalen Verfassungsrechts und des Unionsrechts berührt, in Anbetracht der besonderen Umstände einer solchen Sache erforderlich sein kann, sie im Einklang mit Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung rasch zu erledigen (Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. Oktober 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:851, Rn. 10, und vom 29. November 2024, LC und CP, C‑758/24 und C‑759/24, EU:C:2024:1012, Rn. 8). Im vorliegenden Fall, bei dem es sich um ein Klageverfahren handelt, ist es angesichts dessen, dass die Rechtssache die verfassungsrechtlichen Beziehungen zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten in dem wesentlichen und sensiblen Bereich des öffentlichen und demokratischen Lebens berührt, gleichermaßen erforderlich, sie gemäß Art. 133 Abs. 1 der Verfahrensordnung rasch zu erledigen.
19 Dieses Ergebnis wird nicht durch das Vorbringen Ungarns zur Komplexität der von der Kommission erhobenen Rügen in Frage gestellt. Zwar kann, wie Ungarn geltend macht, der komplexe oder sensible Charakter der in einer bestimmten Rechtssache aufgeworfenen Fragen in Anbetracht des rechtlichen und tatsächlichen Kontexts, der diese Rechtssache kennzeichnet, zu der Annahme führen, dass sich diese Rechtssache schwerlich für das beschleunigte Verfahren eignet (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 105), jedoch schließt dieser Umstand als solcher weder den Rückgriff auf das beschleunigte Verfahren – dessen Durchführungsmodalitäten es ermöglichen, sämtliche Besonderheiten der jeweiligen Rechtssache zu berücksichtigen (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 7. April 2016, Rat/Front Polisario, C‑104/16 P, EU:C:2016:232, Rn. 17) – in Rechtssachen, in denen der Rückgriff auf dieses Verfahren erforderlich ist, noch die Durchführung der gebotenen Prüfung komplexer Rügen aus.
20 Es zeigt sich mithin, dass die Art der vorliegenden Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert. Sie ist daher dem beschleunigten Verfahren nach Art. 133 der Verfahrensordnung zu unterwerfen.
Aus diesen Gründen hat der Präsident des Gerichtshofs beschlossen:
1. Die Rechtssache C ‑829/24 wird dem in Art. 133 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen beschleunigten Verfahren unterworfen.
2. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Unterschriften