C-374/22 – Commissaire général aux réfugiés und aux apatrides (Unité familiale)

C-374/22 – Commissaire général aux réfugiés und aux apatrides (Unité familiale)

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:318

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GIOVANNI PITRUZZELLA

vom 20. April 2023(1)

Rechtssache C374/22

XXX

gegen

Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Belgien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Minderjähriger Flüchtling – Richtlinie 2011/95/EU – Antrag des Vaters auf abgeleiteten internationalen Schutz – Ablehnung – Art. 23 – Bedingungen für den Zugang zu den Leistungen für Familienangehörige – Definition – Erfordernis, dass die Familie des Flüchtlings bereits im Herkunftsland bestanden hat – Unmittelbare Wirkung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7, 18 und 24 – Gleichbehandlung – Wirksamkeit des internationalen Schutzes – Wahrung des Familienverbands“

1.        „Für Flüchtlinge und Personen, die sie zu schützen versuchen, bedeutet das Recht auf die Einheit der Familie ein Recht auf Familienzusammenführung in einem Asylland, weil die Flüchtlinge nicht sicher in ihr Herkunftsland zurückkehren können, um dort das Recht auf Familienleben in Anspruch zu nehmen. Die Vollständigkeit der Familie des Flüchtlings ist ein Recht und ein humanitärer Grundsatz zugleich; sie stellt darüber hinaus einen wesentlichen Schutzrahmen und eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg dauerhafter Lösungen für Flüchtlinge dar und trägt so dazu bei, ihnen einen Anschein von normalem Leben zurückzugeben.“(2) Eine der zentralen Fragen, die in der vorliegenden Rechtssache aufgeworfen werden, ist die Frage, ob es möglich ist, die Inanspruchnahme eines solchen Rechts allein auf Flüchtlingsfamilien zu beschränken, die im Herkunftsstaat gegründet worden sind.

2.        Diese Frage ist in mehr als einer Hinsicht heikel. Zunächst, weil sich eine solche Beschränkung aus der ausdrücklichen Entscheidung des Unionsgesetzgebers zu ergeben scheint. Sodann, weil die für Flüchtlinge geltende Unionsregelung ständig zwischen der Festlegung grundlegender Garantien, die Flüchtlingen, die aufgrund ihres Migrationshintergrundes besonders schutzbedürftig sind, geboten werden müssen, und dem Willen der Mitgliedstaaten schwankt, die Migrationsströme einzudämmen(3). Schließlich, weil die Besonderheiten des Ausgangsrechtsstreits dazu führen könnten, dass über den – für gleichwesentlich gehaltenen – Zusammenhang zwischen Fortbewegungsgedanken und Flüchtlingseigenschaft hinausgegangen wird, da die Kinder, denen diese Eigenschaft zuerkannt worden ist, in Belgien geboren wurden und Eltern haben, die sich in diesem Mitgliedstaat begegnet sind.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Richtlinie 2011/95/EU

3.        Die Erwägungsgründe 18 und 19 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes(4) haben folgenden Wortlaut:

„(18)      Bei der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1989 über die Rechte des Kindes vorrangig das ‚Wohl des Kindes‘ berücksichtigen. Bei der Bewertung der Frage, was dem Wohl des Kindes dient, sollten die Mitgliedstaaten insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands, dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen, Sicherheitsaspekten sowie dem Willen des Minderjährigen unter Berücksichtigung seines Alters und seiner Reife Rechnung tragen.

(19)      Der Begriff ‚Familienangehörige‘ muss ausgeweitet werden, wobei den unterschiedlichen besonderen Umständen der Abhängigkeit Rechnung zu tragen und das Wohl des Kindes besonders zu berücksichtigen ist.“

4.        Der 38. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 lautet: „Bei der Gewährung der Ansprüche auf die Leistungen gemäß dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten dem Wohl des Kindes sowie den besonderen Umständen der Abhängigkeit der nahen Angehörigen, die sich bereits in dem Mitgliedstaat aufhalten und die nicht Familienmitglieder der Person sind, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, von dieser Person Rechnung tragen. Unter außergewöhnlichen Umständen, wenn es sich bei dem nahen Angehörigen der Person, die Anspruch auf internationalen Schutz hat, um eine verheiratete minderjährige Person handelt, die nicht von ihrem Ehepartner begleitet wird, kann es als dem Wohl der minderjährigen Person dienlich angesehen werden, wenn diese in ihrer ursprünglichen Familie lebt.“

5.        Art. 2 Buchst. j („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

j)      ‚Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:

–        der Ehegatte der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, oder ihr nicht verheirateter Partner, der mit ihr eine dauerhafte Beziehung führt, soweit nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare;

–        die minderjährigen Kinder des unter dem ersten Gedankenstrich genannten Paares oder der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, sofern diese nicht verheiratet sind, gleichgültig, ob es sich nach dem nationalen Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte Kinder handelt;

–        der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist“.

6.        Art. 3 („Günstigere Normen“) der Richtlinie 2011/95 lautet: „Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“

7.        Art. 20 der Richtlinie 2011/95, der in Kapitel VII („Inhalt des internationalen Schutzes“) enthalten ist, stellt in seinem Abs. 5 klar: „Bei der Umsetzung der Minderjährige berührenden Bestimmungen dieses Kapitels berücksichtigen die Mitgliedstaaten vorrangig das Wohl des Kindes.“

8.        Art. 23 dieser Richtlinie, der ebenfalls zu deren Kapitel VII gehört, ist mit „Wahrung des Familienverbands“ überschrieben. Er hat folgenden Wortlaut:

„(1)      Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann.

(2)      Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist.

(3)      Die Absätze 1 und 2 finden keine Anwendung, wenn der Familienangehörige aufgrund der Kapitel III und V von der Gewährung internationalen Schutzes ausgeschlossen ist oder ausgeschlossen wäre.

(4)      Unbeschadet der Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten aus Gründen der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung die dort aufgeführten Leistungen verweigern, einschränken oder entziehen.

(5)      Die Mitgliedstaaten können entscheiden, dass dieser Artikel auch für andere enge Verwandte gilt, die zum Zeitpunkt des Verlassens des Herkunftslandes innerhalb des Familienverbands lebten und zu diesem Zeitpunkt vollständig oder größtenteils von der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, abhängig waren.“

9.        In den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 sind Vergünstigungen aufgeführt, die sich auf das Aufenthaltsrecht, den Zugang zur Beschäftigung, den Zugang zu Bildung und Verfahren für die Anerkennung von Befähigungsnachweisen, Sozialhilfeleistungen, die medizinische Versorgung, unbegleitete Minderjährige, den Zugang zu Wohnraum, die Freizügigkeit innerhalb eines Mitgliedstaats, den Zugang zu Integrationsmaßnahmen sowie schließlich die Rückkehr beziehen.

B.      Belgisches Recht

10.      Art. 9bis, der in Titel I („Allgemeine Bestimmungen“) Kapitel III („Aufenthalt von mehr als drei Monaten“) des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Ausweisen von Ausländern(5) in der u. a. durch das Gesetz vom 8. Juli 2011 geänderten Fassung (im Folgenden: geändertes Gesetz von 1980) enthalten ist, bestimmt:

„§ 1 –      Unter außergewöhnlichen Umständen und unter der Bedingung, dass ein Ausländer über ein Identitätsdokument verfügt, kann er eine Aufenthaltserlaubnis beim Bürgermeister des Ortes, wo er sich aufhält, beantragen; der Bürgermeister leitet den Antrag an den Minister oder dessen Beauftragten weiter. Wenn der Minister oder sein Beauftragter die Aufenthaltserlaubnis erteilt, wird sie in Belgien ausgestellt.

Die Bedingung, dass der betreffende Ausländer über ein Identitätsdokument verfügt, ist nicht anwendbar auf:

–        Asylsuchende, in Bezug auf deren Asylantrag kein definitiver Beschluss gefasst worden ist oder die … gegen diesen Beschluss eine für annehmbar erklärte Kassationsbeschwerde eingelegt haben …,

–        Ausländer, die auf gültige Weise nachweisen, dass es ihnen unmöglich ist, die erforderlichen Identitätsdokumente in Belgien zu besorgen.

§ 2 –      Unbeschadet der anderen Sachverhalte des Antrags können folgende Sachverhalte nicht als außergewöhnliche Umstände angenommen werden und werden für unzulässig erklärt:

1.      Sachverhalte, die bereits zur Unterstützung eines Asylantrags im Sinne der Artikel 50, 50bis, 50ter und 51 geltend gemacht worden sind und die von den Asylbehörden abgelehnt worden sind, mit Ausnahme der Sachverhalte, die abgelehnt wurden, da sie den Kriterien des Genfer Abkommens wie in Artikel 48/3 bestimmt und den in Artikel 48/4 vorgesehenen Kriterien in Bezug auf den subsidiären Schutz fremd sind oder weil sie nicht in den Zuständigkeitsbereich dieser Behörden fallen,

2.      Sachverhalte, auf die sich im Verlauf der Bearbeitung des Asylantrags im Sinne der Artikel 50, 50bis, 50ter und 51 hätte berufen werden müssen, sofern sie bereits bestanden und vor Ende dieses Verfahrens bekannt waren,

3.      Sachverhalte, auf die sich bereits im Rahmen eines vorherigen Antrags auf Aufenthaltserlaubnis im Königreich berufen wurde, mit Ausnahme von Sachverhalten, auf die sich im Rahmen eines Antrags berufen wurde, der wegen Fehlen der erforderlichen Identitätsdokumente oder Nichtzahlung beziehungsweise unvollständiger Zahlung der in Artikel 1/1 erwähnten Gebühr für unzulässig erachtet wurde, und mit Ausnahme von Sachverhalten, auf die sich in vorherigen Anträgen, die zurückgenommen wurden, berufen wurde,

4.      Sachverhalte, auf die sich im Rahmen eines Antrags auf Aufenthaltserlaubnis aufgrund von Artikel 9ter berufen wurde.

§ 3 –      Anträge auf Erlaubnis, sich im Königreich aufzuhalten, werden nur auf der Grundlage des zuletzt eingereichten Antrags geprüft, den der Bürgermeister oder sein Beauftragter dem Minister oder seinem Beauftragten weiterleitet. Es wird davon ausgegangen, dass ein Ausländer, der einen neuen Antrag einreicht, die zuvor eingereichten anhängigen Anträge zurücknimmt.“

11.      Art. 10 § 1 Nr. 7, der in Titel I Kapitel III des geänderten Gesetzes von 1980 enthalten ist, bestimmt:

„Unter Vorbehalt der Bestimmungen der Artikel 9 und 12 ist es folgenden Personen von Rechts wegen gestattet, sich länger als drei Monate im Königreich aufzuhalten:

7.      Eltern eines Ausländers, der im Sinne von Artikel 48/3 als Flüchtling anerkannt ist oder dem der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt ist, die mit ihm zusammenleben werden, insofern der Ausländer unter achtzehn Jahre alt ist und in das Königreich eingereist ist, ohne in Begleitung eines aufgrund des Gesetzes für ihn verantwortlichen volljährigen Ausländers zu sein, und er anschließend nicht tatsächlich unter der Obhut einer solchen Person stand beziehungsweise nach der Einreise ins Königreich allein gelassen wurde“.

II.    Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

12.      XXX besitzt die guineische Staatsangehörigkeit. Er reiste 2007 in Belgien ein. Er stellte einen ersten Antrag auf internationalen Schutz, der abgelehnt wurde, gefolgt von zwei weiteren Anträgen in den Jahren 2010 und 2011, die die belgischen Behörden unberücksichtigt ließen. Am 29. Januar 2019 stellte XXX einen vierten Antrag auf internationalen Schutz, in dessen Rahmen er diesmal geltend machte, Vater zweier in Belgien in den Jahren 2016 und 2018 geborener Kinder zu sein, von denen zumindest eines als Flüchtling anerkannt worden war(6), ebenso wie ihre Mutter(7). Der vierte Antrag wurde am 2. Oktober 2019 für unzulässig erklärt. Gegen diese Entscheidung legte XXX am 15. Oktober 2019 einen Rechtsbehelf beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) ein, den dieser am 17. April 2020 zurückwies.

13.      XXX legte daraufhin Kassationsbeschwerde zum vorlegenden Gericht ein. Vor diesem trägt er im Wesentlichen vor, als Vater eines minderjährigen Flüchtlings sei er als „Familienangehöriger“ im Sinne der Richtlinie 2011/95 anzusehen und müsse internationalen Schutz erhalten. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens trägt seinerseits vor, die Richtlinie 2011/95 sehe keine Verpflichtung vor, Familienangehörigen, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllten, diesen Schutz zu gewähren. Art. 23 der Richtlinie 2011/95 verlange lediglich, dass die Mitgliedstaaten Zugang zu den Leistungen der Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie gewährten; dieser Zugang sei aber auf bestimmte Familienangehörige beschränkt, sofern die Familie bereits im Herkunftsstaat bestanden habe, was bei der Familie von XXX nicht der Fall sei.

14.      Das vorlegende Gericht zweifelt daran, dass die Richtlinie 2011/95 eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsieht, die Mitglieder der Familie eines Flüchtlings nur deshalb als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen, weil sie Mitglieder dieser Familie sind. Es hinterfragt darüber hinaus die Anwendbarkeit von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 auf den Kläger des Ausgangsverfahrens, wo doch aus dem Wortlaut dieses Artikels hervorzugehen scheint, dass die Vorschrift nur für die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, gilt, die von der Richtlinie in ihrem Art. 2 Buchst. j definiert werden. XXX falle nicht unter diese Definition, wobei der Kläger des Ausgangsverfahrens zwar Vater zumindest eines als Flüchtling anerkannten Kindes ist, aber nicht bestreitet, dass die Familie, der dieses Kind angehört, nicht bereits im Herkunftsland bestanden hat, sondern in Belgien gegründet worden ist. XXX führt jedoch aus, das Wohl des Kindes verlange, dass der Begriff „Familienangehörige“ weit ausgelegt werde, erst recht in einem Abhängigkeitsverhältnis wie dem, das die Beziehung zwischen seinen Kindern und ihm kennzeichne. Im Rahmen seines vierten Antrags auf internationalen Schutz hatte er nämlich geltend gemacht, dass die Kindesmutter an schweren psychischen Problemen leide und er sich daher um seine Kinder kümmern müsse.

15.      Für den Fall, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, dass Art. 23 der Richtlinie 2011/95 auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar ist, trägt XXX vor, diese Vorschrift sei nicht in belgisches Recht umgesetzt worden und verlange, da es sich bei ihr um eine Vorschrift mit unmittelbarer Wirkung handle, dass ihm internationaler Schutz gewährt werde. Das vorlegende Gericht ist seinerseits der Ansicht, Art. 23 der Richtlinie 2011/95 habe zwar unmittelbare Wirkung, scheine aber nicht dazu zu führen, dass XXX internationaler Schutz zuerkannt werden müsse, obwohl er nicht die Voraussetzungen dafür erfülle. Insbesondere gestatte Art. 23 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 24 dieser Richtlinie es XXX lediglich, die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu beanspruchen. Das vorlegende Gericht hält es daher für erforderlich, den Gerichtshof zur etwaigen unmittelbaren Wirkung von Art. 23 der Richtlinie 2011/95 und zu den sich möglicherweise daraus ergebenden Folgen zu befragen. Darüber hinaus erwähnt das vorlegende Gericht das Argument des Klägers des Ausgangsverfahrens, wonach das in Art. 20 der Richtlinie 2011/95 genannte Wohl des Kindes und die Achtung des Familienlebens es geböten, Art. 23 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass dem Vater in Belgien als Flüchtlinge anerkannter und dort geborener Kinder selbst dann internationaler Schutz gewährt werden müsse, wenn er selbst nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Schutzes erfülle.

16.      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 2 Buchst. j und Art. 23 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass sie auf den Vater zweier in Belgien geborener und dort als Flüchtlinge anerkannter Kinder Anwendung finden, obgleich Art. 2 Buchst. j vorsieht, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, von der Richtlinie 2011/95 erfasst werden, „sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat“?

2.      Bedeutet der vom Kläger des Ausgangsverfahrens in der mündlichen Verhandlung vorgetragene Umstand, wonach seine Kinder in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm stehen und seiner Ansicht nach das Wohl seiner Kinder es gebietet, dass ihm internationaler Schutz gewährt wird, in Anbetracht der Erwägungsgründe 18, 19 und 38 der Richtlinie 2011/95, dass der Begriff der von der Richtlinie 2011/95 erfassten Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, auf eine Familie ausgeweitet wird, die im Herkunftsland nicht bestanden hat?

3.      Falls die ersten beiden Vorlagefragen bejaht werden, kann Art. 23 der Richtlinie 2011/95, der nicht in belgisches Recht umgesetzt worden ist, indem für den Vater von Kindern, die in Belgien geboren und dort als Flüchtlinge anerkannt worden sind, die Erteilung eines Aufenthaltstitels oder die Gewährung internationalen Schutzes vorgesehen wird, unmittelbare Wirkung haben?

4.      Falls dies zu bejahen ist, verleiht Art. 23 der Richtlinie 2011/95 bei fehlender Umsetzung dem Vater von Kindern, die in Belgien geboren und dort als Flüchtlinge anerkannt worden sind, einen Anspruch auf die in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten Leistungen, zu denen ein Aufenthaltstitel gehört, der ihm einen rechtmäßigen Aufenthalt mit seiner Familie in Belgien ermöglicht, oder einen Anspruch auf internationalen Schutz, auch wenn dieser Vater selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllt?

5.      Verpflichtet die praktische Wirksamkeit von Art. 23 der Richtlinie 2011/95 unter Berücksichtigung der Art. 7, 18 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und der Erwägungsgründe 18, 19 und 38 dieser Richtlinie einen Mitgliedstaat, der sein nationales Recht nicht so ausgestaltet hat, dass die Familienangehörigen (im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie oder hinsichtlich deren besondere Umstände der Abhängigkeit vorliegen) der Person, der eine solche Eigenschaft zuerkannt worden ist, bestimmte Leistungen beanspruchen können, wenn sie selbst nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung derselben Eigenschaft erfüllen, dazu, diesen Familienangehörigen einen Anspruch auf die abgeleitete Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, damit sie diese Leistungen beanspruchen können, um den Familienverband aufrechtzuerhalten?

6.      Verpflichtet Art. 23 der Richtlinie 2011/95 unter Berücksichtigung der Art. 7, 18 und 24 der Charta und der Erwägungsgründe 18, 19 und 38 dieser Richtlinie einen Mitgliedstaat, der sein nationales Recht nicht so ausgestaltet hat, dass die Eltern eines anerkannten Flüchtlings die in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie aufgeführten Leistungen in Anspruch nehmen können, dazu, diesen Eltern einen abgeleiteten internationalen Schutz zu ermöglichen, damit das Wohl des Kindes vorrangig berücksichtigt und die Wirksamkeit seiner Flüchtlingseigenschaft gewährleistet wird?

III. Würdigung

A.      Einleitende Bemerkungen

17.      Die Vorlagefragen werden dem Gerichtshof in einem tatsächlichen Kontext gestellt, in dem es um einen Vater in Belgien geborener Kinder geht, von denen zumindest eines als Flüchtling anerkannt ist und die sich mit ihrer Mutter – ebenfalls Flüchtling – im belgischen Hoheitsgebiet aufhalten, obwohl im Übrigen feststeht, dass diese Familie nicht bereits im Herkunftsstaat bestanden hat, sondern im Aufnahmestaat gegründet worden ist, einerseits, und der Vater selbst nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes zu erfüllen scheint andererseits. Das Ausgangsverfahren bezieht sich auf die Tatsache, dass dieser Vater die Weigerung der belgischen Behörden beanstandet hat, ihm einen solchen – gegebenenfalls abgeleiteten – Schutz zu gewähren.

18.      Außerdem geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten, insbesondere den schriftlichen Erklärungen von XXX, hervor, dass die Mutter angeblich u. a. deshalb als Flüchtling anerkannt worden ist, weil ihre Tochter vor Beschneidung geschützt werden muss, und sie selbst an schweren psychischen Gesundheitsproblemen leiden soll.

19.      In der vorliegenden Rechtssache wird somit die Frage aufgeworfen, ob die Richtlinie 2011/95 dem besagten Familienvater irgendeinen Schutz oder Vorteil bietet, der es ihm ermöglichen könnte, sich rechtmäßig in Belgien bei seinen geflüchteten Kindern aufzuhalten. Diese Frage stellt sich in einem turbulenten nationalen Kontext. Es scheint nämlich unstreitig zu sein, dass das Generalkommissariat für Flüchtlinge und Staatenlose dem Elternteil eines minderjährigen Flüchtlings bis 2018 automatisch einen abgeleiteten Status verliehen hat, der dem des Kindes ähnlich ist, unabhängig von Erwägungen im Zusammenhang damit, ob dieser Elternteil die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllt. Im Jahr 2019 hat das Generalkommissariat für Flüchtlinge und Staatenlose diese Praxis beendet. Der Elternteil eines Flüchtlings, dem internationaler Schutz verweigert wird, weil er nicht die Voraussetzungen dafür erfüllt, muss nunmehr einen Legalisierungsantrag aus humanitären Gründen gemäß Art. 9bis des geänderten Gesetzes von 1980 stellen. Den Angaben des Klägers des Ausgangsverfahrens zufolge unterliegt dieses gemeinrechtliche Verfahren eigenen Zulässigkeitsvoraussetzungen und bietet wenig Garantien, insbesondere auf dem Gebiet der Fristen.

20.      Der Wortlaut der Vorlagefragen wechselt zwischen Bezugnahmen auf die Zuerkennung internationalen Schutzes an die Familienangehörigen im Fall von XXX und Verweisen auf den Zugang zu den Leistungen der Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95.

21.      In diesem Zusammenhang ist vorab eine Klarstellung geboten. Wie der Gerichtshof entschieden hat, sieht die Richtlinie 2011/95 eine Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf die Familienangehörigen, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieser Eigenschaft oder dieses Status erfüllen, kraft Ableitung von einer Person, der diese Eigenschaft oder dieser Status zuerkannt worden ist, nicht vor, da Art. 23 der Richtlinie den Mitgliedstaaten nur die Verpflichtung auferlegt, ihr nationales Recht so anzupassen, dass diese Familienangehörigen gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf bestimmte Leistungen haben, wie z. B. die Ausstellung eines Aufenthaltstitels und der Zugang zu Beschäftigung oder Bildung, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung dieser Familienangehörigen vereinbar ist(8).

22.      Da Art. 3 der Richtlinie 2011/95 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet, günstigere Vorschriften zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes zu erlassen, sofern diese Vorschriften mit der Richtlinie 2011/95 vereinbar sind, hat der Gerichtshof nach einer strengen Prüfung u. a. entschieden, dass diese Richtlinie einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, auf der Grundlage günstigerer nationaler Bestimmungen dem minderjährigen Kind eines Drittstaatsangehörigen, dem in Anwendung der mit der Richtlinie geschaffenen Regelung die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, zur Wahrung des Familienverbands die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung zuzuerkennen, und zwar auch in dem Fall, dass dieses Kind im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats geboren worden ist und über seinen anderen Elternteil die Staatsangehörigkeit eines anderen Drittstaats besitzt, in dem es nicht Gefahr laufen würde, verfolgt zu werden, sofern das Kind nicht unter einen der Ausschlussgründe von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 fällt und es aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder eines anderen Merkmals seiner persönlichen Rechtsstellung Anspruch auf eine bessere Behandlung in dem genannten Mitgliedstaat hätte als die Behandlung, die sich aus der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt(9). Daher ist die Gewährung eines abgeleiteten internationalen Schutzes gemäß der Richtlinie 2011/95 als günstigere Maßnahme unter der doppelten Voraussetzung möglich, dass sie sich aus einer Entscheidung des betreffenden Mitgliedstaats ergibt und mit den Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 vereinbar ist, insbesondere nach wie vor einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweist.

23.      Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht jedoch hervor, dass auf einen Fall wie den von XXX in Belgien gegenwärtig keine nationale Vorschrift oder Praxis Anwendung findet, die günstiger ist, als es die Richtlinie 2011/95 vorsieht. Das Generalkommissariat für Flüchtlinge und Staatenlose scheint vielmehr den Wunsch gehabt zu haben, seine frühere günstigere Praxis zu beenden.

24.      In Ermangelung eines Willens des betreffenden Mitgliedstaats, eine günstigere Regelung einzuführen, wird es unter diesen Umständen unabhängig von der Frage, wie die im Mittelpunkt der vorliegenden Rechtssache stehenden Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 auszulegen sind, nicht möglich sein, XXX den Flüchtlingsstatus in abgeleiteter Form zuzuerkennen.

25.      Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, ist die Gewährung eines solchen Status jedoch nicht die einzige Form eines Schutzes gemäß der Richtlinie 2011/95, da diese den Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, auch den Zugang zu Leistungen garantiert. Daher sind die an den Gerichtshof gerichteten Vorlagefragen dahin zu verstehen, dass mit ihnen festgestellt werden soll, ob XXX eine oder mehrere der in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Leistungen in Anspruch nehmen kann.

26.      Im Übrigen möchte ich für die nachstehenden Ausführungen daran erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 nicht nur im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks dieser Richtlinie in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention und einschlägigen anderen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt, auszulegen sind, sondern auch, wie dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie zu entnehmen ist, die Achtung der in der Charta anerkannten Rechte(10), insbesondere ihrer Art. 7, 18 und 24, gewährleisten müssen.

27.      Dieses Erfordernis ständig vor Augen, beginne ich nunmehr mit der Prüfung der Vorlagefragen.

B.      Erste und zweite Vorlagefrage

28.      Wie die Kommission werde ich die ersten beiden Vorlagefragen, mit denen das vorlegende Gericht zu ergründen versucht, ob Art. 2 Buchst. j und Art. 23 der Richtlinie 2011/95 dahin ausgelegt werden können, dass der drittstaatsangehörige Vater von Kindern, die als Flüchtlinge anerkannt und in Belgien in eine in diesem Staat gegründete Familie hineingeboren worden sind, als „Familienangehöriger“ im Sinne der Richtlinie anzusehen ist. Das vorlegende Gericht fragt sich, wie sich das Abhängigkeitsverhältnis des Kindes gegenüber seinem Vater sowie der Wortlaut der Erwägungsgründe 18, 19 und 38 der Richtlinie 2011/95 auf die vorzunehmende Auslegung des Begriffs „Familienangehörige“ im Sinne dieser Richtlinie auswirken könnten.

29.      Nach wiederholter Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die unter Berücksichtigung u. a. des Kontexts der Bestimmung und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss(11).

30.      Dem Wortlaut nach tragen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann. In Art. 23 Abs. 2 heißt es, dass diese Staaten „dafür Sorge [tragen], dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist“. Zur Bestimmung des Anwendungsbereichs von besagtem Art. 23 Abs. 2 ist somit auf Art. 2 Buchst. j dieser Richtlinie zurückzugreifen, wonach „[i]m Sinne [der] Richtlinie … der Ausdruck … ‚Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie der Person [bezeichnet], der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat: … der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist“.

31.      Aus dem Wortlaut von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 geht daher eindeutig hervor, dass Familienangehörige im Sinne dieser Richtlinie nur insoweit als solche betrachtet werden, als die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat.

32.      Das scheint durch die kontextbezogene Auslegung bestätigt zu werden, wobei Art. 23 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit belässt, zu entscheiden, dass dieser Art. 23 auch für enge Verwandte gilt, „die zum Zeitpunkt des Verlassens des Herkunftslandes innerhalb des Familienverbands lebten“(12). Im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie werden auch die die Asylsuchenden „begleitenden“ Familienangehörigen erwähnt(13).

33.      Diese Wortlautauslegung wird durch die teleologische Auslegung untermauert, obwohl die Wahrung des Familienverbands nicht das wesentliche Ziel der Richtlinie 2011/95 ist(14). So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es Sinn und Zweck von Art. 23 der Richtlinie 2011/95 ist, „der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, den Genuss der ihr durch diesen Schutz verliehenen Rechte zu ermöglichen und dabei zugleich ihren Familienverband im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zu wahren“(15). Da es gerade darum geht, den Familienverband zu wahren, besteht die Familie somit grundsätzlich bereits vor dem Aufenthaltswechsel in den Aufnahmemitgliedstaat(16), so dass die Leistungen der Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 gegebenenfalls den Mitgliedern der bereits gegründeten Familie zuerkannt werden(17). Die Schwierigkeit der vorliegenden Rechtssache hängt hier mit der Tatsache zusammen, dass die minderjährigen Flüchtlinge ihren Aufenthaltsort nicht gewechselt haben.

34.      Unter Berücksichtigung dieser sehr klaren Auslegungselemente sind weder die Geltendmachung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen den als Flüchtlinge anerkannten Kindern und ihrem Vater noch der Wortlaut der Erwägungsgründe 18, 19 und 38 der Richtlinie 2011/95, die als solche nicht verbindlich sind, geeignet, der vorstehenden Auslegung eine andere Richtung zu geben.

35.      Zum einen kann die Abhängigkeit der Kinder von ihrem Vater in diesem Stadium der Analyse nicht zu einer Änderung dessen führen, was der Unionsgesetzgeber eindeutig zum Ausdruck gebracht hat, nämlich dass eine Familie, damit ihre Mitglieder als Familienangehörige im Sinne von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 angesehen werden können, u. a. bereits im Herkunftsstaat bestanden haben muss. Das Verhältnis jedes Kindes zu seinen Eltern ist grundsätzlich stark durch eine Abhängigkeit gekennzeichnet, und dennoch hat das den Unionsgesetzgeber nicht daran gehindert, dieses Verhältnis gemäß Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 nur dann zu schützen, wenn es bereits vor der Ankunft im Hoheitsgebiet des Aufnahmestaats begründet war. Auch wenn Bestimmungen des abgeleiteten Rechts, die die Ausübung von Grundrechten fördern sollen, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs weit auszulegen sind, vermag dieses Gebot einer weiten Auslegung eine Auslegung, die dem Wortlaut der Bestimmungen zuwiderläuft, nicht zu rechtfertigen(18).

36.      Zum anderen erinnert der 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 daran, dass das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung ist, an der sich die Mitgliedstaaten in ihren individuellen Entscheidungsprozessen orientieren müssen. Gleichwohl ist es nur innerhalb der durch den Unionsgesetzgeber in Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 festgelegten Grenzen zu berücksichtigen.

37.      Die Notwendigkeit, den Begriff „Familienangehörige“ auszuweiten, auf den der 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 Bezug nimmt, ist im historischen Kontext rund um den Erlass dieser Richtlinie zu sehen. Durch sie ist nämlich die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes(19) neugefasst worden. Auch letztgenannte Richtlinie definierte Familienangehörige durch Verweis auf eine Familie, die bereits im Herkunftsland bestanden hat(20). Der 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 ist so zu verstehen, dass mit ihm lediglich erläutert wird, weshalb die Vorschrift, in der die Familienangehörigen definiert werden, um einen dritten Gedankenstrich ergänzt worden ist(21) – eine Ergänzung, die eine Erweiterung des Begriffs „Familienangehörige“ darstellt, auf den dieser Erwägungsgrund Bezug nimmt.

38.      Der 38. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 wiederum bezieht sich meines Erachtens vor allem auf die Umstände der Abhängigkeit der Angehörigen von der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist. Darum verstehe ich auch nicht ganz, inwiefern die Geltendmachung dieses Erwägungsgrundes die Auffassung von XXX stützen könnte, der behauptet, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt gerade durch die Abhängigkeit seiner geflüchteten Kinder ihm gegenüber gekennzeichnet sei und nicht umgekehrt. Zwar enthält der besagte Erwägungsgrund auch einen Hinweis auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Berücksichtigung des Kindeswohls; ein solcher Hinweis kann aber nicht als Grundlage für eine Auslegung dienen, die vom sehr klaren Wortlaut von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 abweicht.

39.      Die in Nr. 31 der vorliegenden Schlussanträge vorgeschlagene Auslegung findet schließlich auch Resonanz in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Gewährung der in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 genannten Leistungen an Familienmitglieder der Person, die internationalen Schutz genießt, „an drei Voraussetzungen gebunden [ist], die sich erstens auf die Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Richtlinie, zweitens den Umstand, dass für diesen Angehörigen selbst die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes nicht erfüllt sind, und drittens auf die Vereinbarkeit mit der persönlichen Rechtsstellung des betreffenden Familienangehörigen beziehen“(22), wodurch der Zusammenhang zwischen dem Begriff „Familienangehörige“ im Sinne von Art. 23 der Richtlinie 2011/95 und Art. 2 Buchst. j dieser Richtlinie, in dem es gerade darum geht, diesen Begriff zu definieren, eindeutig bestätigt wird. Noch deutlicher hatte der Gerichtshof einige Monate zuvor entschieden, dass sich, wie sich aus einer Gesamtbetrachtung dieser beiden Vorschriften ergibt, „die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Anspruch auf [die in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 genannten] Leistungen vorzusehen, nicht auf Kinder einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, erstreckt, die im Aufnahmemitgliedstaat einer Familie geboren wurden, die dort gegründet worden ist“(23).

40.      Daher ist Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass der Begriff „Familienangehörige“ grundsätzlich voraussetzt, dass die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat.

C.      Dritte Vorlagefrage

41.      Die dritte Vorlagefrage wird nur gestellt, falls die ersten beiden Fragen bejaht werden. Für den Fall, dass der Gerichtshof in diesem Sinne entscheidet, ist nunmehr festzustellen, ob Art. 23 der Richtlinie 2011/95 unmittelbare Wirkung haben kann, da das vorlegende Gericht in eigener Verantwortung darauf hingewiesen hat, dass diese Vorschrift nicht in belgisches Recht umgesetzt worden sei.

42.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich der Einzelne in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat(24). In diesem Zusammenhang müssen Art, Aufbau und Wortlaut der betreffenden Bestimmung geprüft werden. Eine Unionsvorschrift ist zum einen unbedingt, wenn sie eine Verpflichtung normiert, die an keine Bedingung geknüpft ist und zu ihrer Durchführung oder Wirksamkeit auch keiner weiteren Maßnahmen der Unionsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf, und zum anderen hinreichend genau, um von einem Einzelnen geltend gemacht und vom Gericht angewandt zu werden, wenn sie in unzweideutigen Worten eine Verpflichtung festlegt(25). Eine Bestimmung einer Richtlinie kann auch dann, wenn die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen gewissen Gestaltungsspielraum beim Erlass der Durchführungsvorschriften lässt, als unbedingt und genau angesehen werden, wenn sie den Mitgliedstaaten unmissverständlich eine Verpflichtung zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses auferlegt, die im Hinblick auf die Anwendung der dort aufgestellten Regel durch keinerlei Bedingungen eingeschränkt ist(26).

43.      Somit ist nunmehr zu prüfen, ob Art. 23 der Richtlinie 2011/95 inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist, um von einem Einzelnen gegenüber einem Mitgliedstaat vor dessen Gerichten geltend gemacht zu werden.

44.      Der Wortlaut dieser dritten Frage bezieht sich auf den gesamten Art. 23 der Richtlinie 2011/95, ohne zwischen dessen einzelnen Bestandteilen zu unterscheiden. Da der Fall von XXX nicht unter Art. 23 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 fällt, nehme ich diesen Absatz von vornherein von der vorliegenden Würdigung aus.

45.      Art. 23 Abs. 1, wonach „[d]ie Mitgliedstaaten … dafür Sorge [tragen], dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann“, scheint mir nicht die Merkmale aufzuweisen, die unerlässlich sind, um unmittelbare Wirkung zugesprochen zu bekommen. Wie die Kommission(27) bin ich der Ansicht, dass er zu allgemein gefasst ist, um als „hinreichend genau“ im Sinne der in Nr. 42 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung angesehen werden zu können(28).

46.      Der inneren Logik von Art. 23 der Richtlinie 2011/95 folgend stellt Abs. 2 dieses Artikels klar, was von den Mitgliedstaaten in Bezug auf den Schutz des Familienverbands von Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, mit ihren Familienangehörigen im Sinne dieser Richtlinie erwartet wird. Dieser Absatz sieht vor, dass die Familienangehörigen, „die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist“.

47.      Der besagte Abs. 2 erlegt den Mitgliedstaaten – meines Erachtens eindeutig – eine Verpflichtung auf, den Familienangehörigen Zugang zu den Leistungen der Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 zu gewähren. So müssen Familienangehörige, die unter Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie fallen, nach den hierfür bereitgestellten nationalen Verfahren Anspruch auf einen Aufenthaltstitel (Art. 24), Reisedokumente (Art. 25), Zugang zur Beschäftigung (Art. 26), Bildung (Art. 27), Verfahren für die Anerkennung von Befähigungsnachweisen (Art. 28), Sozialhilfeleistungen (Art. 29), medizinische Versorgung (Art. 30), Maßnahmen zum Schutz unbegleiteter Minderjähriger (Art. 31), Wohnraum (Art. 32), Freizügigkeit innerhalb des Aufnahmemitgliedstaats (Art. 33), Integrationsmaßnahmen (Art. 34) und Unterstützung bei der Rückkehr (Art. 35) haben.

48.      Es könnte zum einen eingewandt werden, dass sich die durch Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 auferlegten Verpflichtungen nicht bereits aus dessen Wortlaut ergäben, da der Text dieser Vorschrift notwendigerweise zusammen mit einem der in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie genannten Rechte zu lesen sei, und zum anderen, dass dieser Text hinsichtlich seines persönlichen Anwendungsbereichs selbst eine ganze Reihe von Beschränkungen festlege und der besagten Vorschrift deshalb die Unbedingtheit nehme, die für die Zuerkennung einer unmittelbaren Wirkung erforderlich sei.

49.      Was den ersten Einwand angeht, so schreibt Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 keinen automatischen Zugang zu den Leistungen der Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie vor, sondern verlangt, dass Familienangehörigen, die als Personen mit Anspruch auf bestimmte Leistungen in Betracht kommen, ein Verfahren offensteht. Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 ist eine eigenständige Bestimmung, die die Voraussetzung für die Zuerkennung der in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten Leistungen darstellt.

50.      Was den zweiten Einwand betrifft, so habe ich weiter oben darauf hingewiesen, dass sogar einer Bestimmung, die den Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum bei der Festlegung der Durchführungsvorschriften lässt, unmittelbare Wirkung zuerkannt werden kann, wenn sie den Mitgliedstaaten unmissverständlich eine Verpflichtung zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses auferlegt, die im Hinblick auf die Anwendung der aufgestellten Regel durch keinerlei Bedingungen eingeschränkt ist. Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 lässt den Mitgliedstaaten, die ihre Verfahren festlegen oder ausgestalten müssen (Freiheit der Mittel), um den genannten Personen zu ermöglichen, die in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie aufgeführten Leistungen zu beanspruchen (gefordertes Ergebnis), tatsächlich einen Gestaltungsspielraum(29). Allein unter diesem Gesichtspunkt scheint mir Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie nicht bedingt zu sein.

51.      Außerdem lassen sich die Klarstellungen zu seinem sachlichen Anwendungsbereich nicht wie Bedingungen für die Anwendung der aufgestellten Regel im Sinne der zuvor erwähnten Rechtsprechung auslegen. Zwar muss der Einzelne, um Anspruch auf diese Leistungen zu haben, erstens im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 ein Familienangehöriger der Person sein, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, der zweitens selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung eines solchen Schutzes erfüllt, und drittens darf ihm der Zugang zu den erwähnten Leistungen nur geboten werden, soweit dies mit seiner persönlichen Rechtsstellung vereinbar ist. In Bezug auf die letztgenannte Klarstellung spricht der Gerichtshof von einem „Vorbehalt“ und nicht von einer Bedingung(30). Zum einen schließt das Bestehen eines Vorbehalts die unmittelbare Wirkung per se nicht aus(31). Zum anderen bezieht sich dieser „Vorbehalt“ auf den persönlichen Anwendungsbereich von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, der in Art. 23 Abs. 3 dieser Richtlinie(32) weiter präzisiert wird. Meines Erachtens darf die Frage der Bestimmung des persönlichen Anwendungsbereichs einer Vorschrift aber nicht mit der Frage ihrer unmittelbaren Wirkung verwechselt werden(33).

52.      Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 schließlich bietet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie vorgesehenen Leistungen aus Gründen der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung zu verweigern, einzuschränken oder zu entziehen. Hierbei handelt es sich um einen Vorbehalt, der gerichtlich überprüft werden kann; die Möglichkeit eines Mitgliedstaats, sich auf ihn zu berufen, steht der Annahme nicht entgegen, dass Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 den Einzelnen Rechte verleiht, auf die sie sich vor Gericht berufen können und die die nationalen Gerichte gewährleisten müssen(34).

53.      Letztlich sind die von der Rechtsprechung festgelegten Voraussetzungen für die unmittelbare Wirkung nunmehr hinlänglich bekannt, so dass uns hier die Frage gestellt wird, ob Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 hinreichend brauchbar(35) für die Anwendung durch das nationale Gericht ist. Und genau darauf kommt es an: „Die Deutlichkeit, Genauigkeit, Unbedingtheit, Vollständigkeit oder Perfektion der Norm und der Gesichtspunkt, dass diese keiner im Ermessen stehenden Durchführungsmaßnahme bedarf, sind in dieser Hinsicht nur Facetten ein und desselben Merkmals, das die Regelung aufweisen muss, nämlich, dass sie geeignet sein muss, vom Gericht auf einen Einzelfall angewandt zu werden.“(36) Aus meiner Würdigung ergibt sich, dass Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 meines Erachtens hinreichend brauchbar ist, um unmittelbar vor dem nationalen Gericht, das in der Lage ist, zu verstehen, wozu der Unionsgesetzgeber die Mitgliedstaaten verpflichten wollte, geltend gemacht werden zu können.

54.      Daher folgt aus meiner Würdigung, dass Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, soweit er die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsieht, Zugang zu den Leistungen der Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie zu gewähren, unmittelbare Wirkung zukommt und von einem Einzelnen vor den nationalen Gerichten gegenüber einem Mitgliedstaat geltend gemacht werden kann, der ihn nicht oder nur unzulänglich umgesetzt hat.

D.      Vierte Vorlagefrage

55.      Wie aus der Begründung des Vorabentscheidungsersuchens hervorgeht(37), zielt diese Frage nicht darauf ab, dass der Gerichtshof seine klassische Rechtsprechung zu den Folgen der Anerkennung der unmittelbaren Wirkung einer Bestimmung in der nationalen Rechtsordnung in Erinnerung ruft(38); sie entsteht vielmehr aus der Kontroverse zwischen dem Kläger des Ausgangsverfahrens und dem belgischen Staat über den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, wobei XXX vorträgt, das geänderte Gesetz von 1980 sei im Einklang mit Art. 23 dieser Richtlinie auszulegen, weshalb die belgischen Behörden ihm internationalen Schutz hätten gewähren müssen. Das vorlegende Gericht vertritt seinerseits die Auffassung, das sei nicht Zweck dieser Vorschrift; außerdem führe eine richtlinienkonforme Auslegung der nationalen Vorschrift zu einer Auslegung contra legem.

56.      Aus den in den Nrn. 21 ff. der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Gründen ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2011/95 eine abgeleitete Ausweitung des Flüchtlingsstatus auf Familienangehörige einer Person, der dieser Status zuerkannt worden ist, nicht vorsieht, sofern die Familienangehörigen selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung des Flüchtlingsstatus erfüllen, und zum anderen, dass Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie es Personen, die in seinen Anwendungsbereich fallen, gestattet, den Zugang zu den in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie genannten Leistungen einzufordern(39).

E.      Fünfte und sechste Vorlagefrage

57.      Im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof ist es Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Somit hat er hat die ihm vorgelegten Fragen bisweilen umzuformulieren(40). Unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und ihrer Konnexität sollten die fünfte und die sechste Vorlagefrage umformuliert werden. Diese Fragen sind meines Erachtens dahin zu verstehen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob Art. 23 der Richtlinie 2011/95 im Licht der Art. 7, 18 und 24 der Charta dahin auszulegen ist, dass er den Mitgliedstaaten zur Aufrechterhaltung des Familienverbands und zur Gewährleistung der Wirksamkeit der dem Kind zuerkannten Flüchtlingseigenschaft vorschreibt, dem Kindesvater Zugang zu den in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten Leistungen zu gewähren, obwohl er weder die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllt noch als „Familienangehöriger“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j und Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 angesehen werden kann.

1.      Analyse aus Sicht des Vaters

58.      In diesem Stadium der Analyse erinnere ich daran, dass ich dem Gerichtshof vorgeschlagen habe, zu entscheiden, dass Art. 23 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Familienangehörige“ im Sinne dieser Vorschriften voraussetzt, dass die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat. Folglich erfüllt XXX weder – den von den belgischen Behörden vorgenommenen Beurteilungen zufolge – selbst die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes noch die Voraussetzungen für die Anspruchsberechtigung für die Leistungen, die Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 den Familienangehörigen einer Person vorbehält, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist. Im Übrigen sieht die Richtlinie 2011/95, worauf ich bereits hingewiesen habe(41), die abgeleitete Gewährung internationalen Schutzes nicht mehr vor(42).

59.      Vorsorglich stelle ich noch klar, dass es ausgeschlossen erscheint, dass XXX Rechte aus der Richtlinie 2003/86 in Anspruch nehmen kann. Diese sieht für Flüchtlinge hinsichtlich der Zusammenführung mit ihren Familienangehörigen zwar günstigere Vorschriften vor(43), die Mitgliedstaaten können die Anwendung der Bestimmungen von Kapitel V dieser Richtlinie – gerade derjenigen, die der Familienzusammenführung von Flüchtlingen gewidmet sind – aber auf Flüchtlinge beschränken, deren familiäre Bindungen bereits vor ihrer Einreise bestanden haben(44). Die Möglichkeit der Einreise und des Aufenthalts von Verwandten in gerade aufsteigender Linie gemäß der Richtlinie 2003/86 liegt im Ermessen der Mitgliedstaaten und hängt davon ab, dass der Zusammenführende für den Unterhalt des fraglichen Verwandten aufkommt(45), es sei denn, es handelt sich um einen unbegleiteten Minderjährigen(46); in diesem Fall ist die Zusammenführung nicht länger in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt und unterliegt auch keinerlei Bedingung im Zusammenhang mit dem Aufkommen für den Unterhalt des Minderjährigen(47). Die Kinder von XXX sind aber keine unbegleiteten Minderjährigen. Grundsätzlich ist ein Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen, wenn sich die Familienangehörigen noch außerhalb des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats aufhalten, in dem sich der Zusammenführende aufhält, auch wenn eine Ausnahme möglich ist(48). XXX befindet sich jedoch bereits im belgischen Hoheitsgebiet. Aufgrund seiner atypischen Situation und der seiner Familie kann XXX in keine der „Schubladen“ gesteckt werden, die seine Anwesenheit im Unionsgebiet bei seinen Kindern rechtfertigen könnten.

2.      Analyse aus Sicht der Personen, die als Flüchtlinge anerkannt worden sind

60.      Die Situation von XXX als Familienangehöriger seiner geflüchteten minderjährigen Tochter wird hauptsächlich aus zwei Gründen nicht von der Richtlinie 2011/95 und/oder den Bestimmungen des abgeleiteten Unionsrechts, die das Recht von Flüchtlingen auf Familienzusammenführung konkretisieren, erfasst: Erstens hat die Familie, in die das geflüchtete minderjährige Kind hineingeboren worden ist, nicht bereits im Herkunftsstaat bestanden; zweitens haben dieses Kind und seine Familie ihren Aufenthalt nach der Geburt des Kindes nicht gewechselt.

61.      Ich würde jedoch gerne auf tatsächliche Umstände zurückkommen, die es meines Erachtens verdienen, dass die Analyse ausgeweitet wird. So folgt vorbehaltlich einer etwaigen Bestätigung oder Überprüfung durch das vorlegende Gericht aus meinem Verständnis des Dossiers, dass die Tochter von XXX aufgrund drohender Genitalverstümmelungen(49), mit denen sie konfrontiert wäre, falls sie sich in das Land der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern – dessen Staatsangehörigkeit sie ebenfalls besitzt, in dem sie aber nie gelebt hat, weil sie in Belgien geboren ist – begeben sollte, sowie deshalb als Flüchtling anerkannt worden ist, weil ihre Mutter, die ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft besitzt, an gravierenden psychischen Problemen leidet. Letzteres ist von den zuständigen nationalen Behörden selbstverständlich eingehend zu prüfen, es lässt sich aber nicht ausschließen, dass über der Zukunft dieses Kindes ein Schatten liegt, falls die Mutter nicht in der Lage ist, allein für ihre Kinder zu sorgen(50). In diesem Sinne verstehe ich die in der sechsten Vorlagefrage enthaltene Bezugnahme auf die „Wirksamkeit der Flüchtlingseigenschaft“. Denn der Vater hält sich nebenbei bemerkt in der Tat seit 16 Jahren illegal im Unionsgebiet auf und kann daher ausgewiesen werden(51).

62.      Somit muss die Perspektive gewechselt und nunmehr der Sichtweise der geflüchteten Kinder, insbesondere der Tochter, in Bezug auf die wir über mehr Informationen verfügen, sowie den Garantien Rechnung getragen werden, die ihr durch das Unionsrecht im Hinblick auf ihre Grundrechte geboten werden, da die Vorschriften des abgeleiteten Unionsrechts unter Beachtung der durch die Charta gewährleisteten Grundrechte auszulegen und anzuwenden sind(52).

63.      Dieses Kind, das heute sieben Jahre alt sein muss, ist grundsätzlich nicht in der Lage, ein von seinen Familienangehörigen unabhängiges Leben zu führen(53).

64.      Auch wenn die Richtlinie 2011/95, woran ich zu Beginn der Prüfung der vorliegenden Rechtssache erinnert habe(54), vor allem die Anwendung gemeinsamer Kriterien zur Bestimmung der Personen, die internationalen Schutz benötigen, sowie ein Mindestniveau von Leistungen für diese Personen in allen Mitgliedstaaten sicherstellen soll, stützt sich das gemeinsame europäische Asylsystem, zu dem diese Richtlinie gehört und worauf in deren drittem Erwägungsgrund hingewiesen wird, auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung des Genfer Abkommens und des Protokolls sowie die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist(55). Die förmliche Anerkennung der Eigenschaft als Flüchtling hat zur Folge, dass der betreffende Flüchtling in den Genuss eines internationalen Schutzes im Sinne der Richtlinie 2011/95 kommt, so dass er über alle in Kapitel VII dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte und Leistungen verfügt, und zwar sowohl Rechte, die den im Genfer Abkommen enthaltenen entsprechen, als auch in höherem Maße schützende Rechte, die in diesem Abkommen keine Entsprechung haben(56). Die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 2011/95 vorrangig das Wohl des Kindes zu berücksichtigen haben, ist eine allgemeine Regel, die für Kapitel VII in Art. 20 Abs. 5 dieser Richtlinie aufgestellt wird. Ich erinnere insoweit daran, dass Art. 23 der Richtlinie 2011/95 zu Kapitel VII gehört und sein erster Absatz die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann(57). Mit der Kommission stelle ich fest, dass der Wortlaut dieser Vorschrift nicht auf Familienangehörige im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 beschränkt ist.

65.      Im Übrigen hat der Gerichtshof – wie alle internationalen Akteure im Bereich des Flüchtlingsschutzes – bereits betont, dass die Einheit der Familie, die ein für den Flüchtling unentbehrliches Recht darstellt, von grundlegender Bedeutung ist. Er hat darüber hinaus anerkannt, dass zwischen den Maßnahmen zum Schutz der Familie des Flüchtlings und dem Zweck des internationalen Schutzes ein Zusammenhang besteht(58). Das besagte Recht ist umso unentbehrlicher, wenn der Flüchtling minderjährig ist, weil er dann besonders schutzbedürftig ist. Außerdem hat der Gerichtshof bereits darauf hingewiesen, welche Bedeutung u. a. das Übereinkommen über die Rechte des Kindes(59) hat, dessen Art. 9 Abs. 1 vorsieht, dass „[d]ie Vertragsstaaten sicher[stellen], dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird“(60).

66.      Daher verfolgt auch die Richtlinie 2011/95 das Ziel, sicherzustellen, dass für die Mitgliedstaaten bei der Anwendung dieser Richtlinie im Einklang mit Art. 24 Abs. 2 der Charta das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung ist(61). Wie Art. 20 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 verlangt, müssen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Bestimmungen von Kapitel VII dieser Richtlinie vorrangig das Wohl des Kindes berücksichtigen(62). Nach ständiger Rechtsprechung ist Art. 7 der Charta in Verbindung mit der in deren Art. 24 Abs. 2 anerkannten Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls und unter Beachtung des in ihrem Art. 24 Abs. 3 zum Ausdruck gebrachten Erfordernisses zu lesen, dass ein Kind regelmäßig persönliche Beziehungen zu seinen beiden Elternteilen unterhält(63). Konkret verlangen Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta, dass „bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen, zu denen die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Anwendung der Richtlinie getroffenen Maßnahmen gehören, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss“(64). Diese Maßnahmen müssen nicht notwendigerweise an den Minderjährigen gerichtet sein, können aber weitreichende Folgen für ihn haben(65). Folglich müssen die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 u. a. im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta ausgelegt und angewandt werden. Daraus ergibt sich für die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 2011/95 die Verpflichtung, dem Grundsatz des Familienverbands sowie dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen gebührend Rechnung zu tragen(66).

67.      So unentbehrlich es sein mag, das Grundrecht eines Flüchtlings auf Achtung des Familienlebens ist – im Gegensatz zu dem in Art. 4 der Charta aufgestellten Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung(67) – kein absolutes Recht und kann somit unter den in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Voraussetzungen eingeschränkt werden(68).

68.      Allerdings muss Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95, der sich auf die Einheit des Familienlebens bezieht, vom Kläger und seiner Tochter(69) meines Erachtens geltend gemacht werden können, da andernfalls eine gewisse Spannung zwischen diesem Art. 23 und Art. 7 der Charta in Verbindung mit deren Art. 24 zu entstehen droht. Ich will das sogleich erläutern.

69.      Falls XXX aufgrund der gewählten engen Definition des Begriffs „Familienangehörige“ im Sinne von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j dieser Richtlinie keinen Zugang zu den in deren Art. 24 bis 35 genannten Leistungen beanspruchen kann, dürfte er, da er keine Möglichkeit hat, seinen Aufenthalt in Belgien zu legalisieren, letztlich gezwungen sein, das Unionsgebiet zu verlassen. Bestenfalls wird er dann seine Familie zurücklassen, die aus der Mutter seiner Kinder und seinen Kindern besteht, von denen die Tochter als Flüchtling anerkannt ist, was eine Verletzung des Grundrechts der Tochter auf Achtung ihres Familienlebens(70) darstellen dürfte, das durch Art. 7 der Charta geschützt wird(71). Zwar ist eine solche durch die Richtlinie 2011/95 festgelegte Beschränkung, soweit sie nur Mitgliedern einer Familie Zugang zu den Leistungen gewährt, die bereits im Herkunftsstaat bestanden hat, gesetzlich vorgesehen. Es wäre schwieriger, wenn davon ausgegangen würde, dass die Beschränkung den Wesensgehalt des erwähnten Rechts achte, weil sie Flüchtlingsfamilien ausschließt, die nach der Flucht oder nach dem Wechsel des Aufenthaltsortes allein aus diesem Grund gegründet worden sind. Wenn aber ein Kind, das im Unionsgebiet geboren ist, als Flüchtling anerkannt werden kann, vermag ich nicht zu erkennen, weshalb seine Familie nur deshalb weniger schutzwürdig sein soll, weil sie gegründet worden ist, nachdem einige ihrer Mitglieder das Herkunftsland verlassen haben oder gar im Aufnahmestaat angekommen sind, obwohl die Schutzbedürftigkeit des Minderjährigen und die Bedürfnisse des minderjährigen Flüchtlings nach Schutz seines Familienlebens genauso groß sind wie die eines Kindes, das sich in der gleichen Situation befindet, dessen Familie aber möglicherweise ihren Aufenthaltsort gewechselt hat.

70.      Damit kommen wir zur Frage der Verhältnismäßigkeit der Beschränkung. Ich kann natürlich gut verstehen, dass die Beschränkung des Zugangs zu den Leistungen der Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 durch Erwägungen im Zusammenhang mit der Einwanderungs- und Asylpolitik der Union diktiert wird und allein deshalb einem im allgemeinen Interesse liegenden Ziel der Union entspricht. Im vorliegenden Fall könnte eine solche Beschränkung aber völlig unverhältnismäßige Wirkungen erzeugen, da sie zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung führt und die ernste Gefahr mit sich bringt, dass der Wesensgehalt eines anderen Rechts, nämlich des ebenfalls durch Art. 18 der Charta garantierten Asylrechts, angetastet wird.

71.      Zum Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung stelle ich fest, dass die Beschränkung der Definition der „Familienangehörigen“ auf eine vor Verlassen des Herkunftslandes gegründete Familie bedauert worden ist(72). Nach Auffassung des Kommissars für Menschenrechte eignet sich eine solche Beschränkung nicht dazu, „dem Rechnung zu tragen, was Flüchtlinge tatsächlich durchmachen. Viele von ihnen verbringen längere Zeiträume im Exil oder auf der Flucht und gründen auf der Durchreise oder während ihres prekären Lebens in den jeweiligen Herkunftsregionen vor ihrer Ankunft in Europa eine Familie. … In manchen Fällen steht die Unterscheidung danach, ob Familien vor oder nach Verlassen des Herkunftslandes gegründet worden sind, im Widerspruch zu Art. 14 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)] und wahrscheinlich zu anderen – auch [unions‑]rechtlichen – Gleichbehandlungsgarantien“(73).

72.      Ich muss zugeben, dass ich die vom Kommissar für Menschenrechte geäußerten Bedenken teile.

73.      Besondere Beachtung könnte dabei dem in der Rechtssache Hode und Abdi/Vereinigtes Königreich(74) ergangenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) geschenkt werden. In jener Rechtssache war der Kläger 2004 in das Vereinigte Königreich eingereist und seit März 2006 im Besitz des Flüchtlingsstatus. Im Juni desselben Jahres machte er Bekanntschaft mit der Frau, die 2007 seine Ehefrau werden sollte. Das Paar bekam 2008 bzw. 2011 zwei Kinder. Als Drittstaatsangehörige, die selbst keinen internationalen Schutz genoss, beantragte die Ehefrau bereits 2007 die Erteilung eines Visums, um ihrem Ehemann in das Vereinigte Königreich zu folgen. Trotz seiner Flüchtlingseigenschaft konnte der Ehemann nicht die nationalen Vorschriften über die Familienzusammenführung von Flüchtlingen in Anspruch nehmen, da diese nur auf Ehegatten anwendbar waren, die vor der Ausreise des Flüchtlings aus dem Herkunftsland zur Familie gehört hatten. Die Ehefrau beantragte also die Gewährung eines Aufenthaltstitels als Ehefrau eines im Vereinigten Königreich ansässigen und niedergelassenen Einwohners, was ihr ebenfalls verweigert wurde, weil ihr Ehemann, der sich auf der Grundlage eines auf fünf Jahre beschränkten Aufenthaltstitels im Vereinigten Königreich aufhielt, nicht im Sinne der nationalen Rechtsvorschriften als in diesem Staat „ansässig und niedergelassen“ angesehen wurde.

74.      Nachdem der EGMR darauf hingewiesen hatte, dass kein Staat gemäß Art. 8 EMRK verpflichtet sei, die Entscheidung verheirateter Paare über das Land ihres ehelichen Wohnsitzes zu respektieren, hat er entschieden, dass, sofern die nationalen Rechtsvorschriften bestimmten Gruppen von Migranten ein Recht auf Familienzusammenführung verliehen, sie dies in einer Weise tun müssten, die mit Art. 14 EMRK vereinbar sei. Als notwendigen ersten Schritt einer Prüfung anhand von Art. 14 EMRK hat der EGMR festgestellt, dass die Vorschriften über die Familienzusammenführung von Flüchtlingen das Familienleben der Kläger und ihrer Kinder offensichtlich beeinträchtigt hätten, so dass der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens tatsächlich in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK falle(75). Er hat ferner darauf hingewiesen, dass nur Ungleichbehandlungen aufgrund eines identifizierbaren Merkmals bzw. der „Eigenschaft“ eine Diskriminierung im Sinne von Art. 14 EMRK darstellen könnten(76). Außerdem müsse, damit sich eine Frage nach dieser Vorschrift stelle, eine Ungleichbehandlung von Personen vorliegen, die sich in vergleichbaren oder einschlägigen Situationen befänden. Eine solche Ungleichbehandlung sei diskriminierend, sofern sie keine sachliche und vernünftige Rechtfertigung habe, mit anderen Worten, falls sie kein legitimes Ziel verfolge oder falls es keine vernünftige Verhältnismäßigkeit zwischen den angewandten Mitteln und dem verfolgten Ziel gebe(77). Auch wenn der Vertragsstaat über ein Ermessen verfüge, so der EGMR, variiere dessen Umfang nach Maßgabe der Umstände, des Themengebiets und des Zusammenhangs(78).

75.      Der EGMR hat daher entschieden, dass die Situation der Kläger, soweit sie sich auf einen Flüchtling, der nach Verlassen seines Herkunftslandes geheiratet habe, und die Frau dieses Flüchtlings beziehe, „einem sonstigen Status“ im Sinne von Art. 14 EMRK gleichgestellt werden könne und mithin in dessen Anwendungsbereich falle(79). Außerdem werde vom betreffenden Vertragsstaat nicht bestritten, dass Studierende und Arbeitnehmer einerseits und Flüchtlinge, die vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsland eine Ehe eingegangen seien, andererseits anders behandelt würden als Flüchtlinge und ihre Ehegatten, deren Ehe nach Verlassen des Herkunftslandes geschlossen worden sei(80). Flüchtlinge, die vor Verlassen ihres Herkunftslandes geheiratet hätten, befänden sich in einer vergleichbaren Situation, da sie ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft besäßen und auch ihr Aufenthalt im Vereinigten Königreich für einen begrenzten Zeitraum zulässig sei; der einzige relevante Unterschied sei der Zeitpunkt, zu dem die Eheschließung stattgefunden habe(81). Obwohl das Vereinigte Königreich versuchte, eine solche Ungleichbehandlung dadurch zu rechtfertigen, dass es verpflichtet sei, seinen internationalen Verpflichtungen nachzukommen, ohne jedoch zu behaupten, dass es mehr Leistungen biete, die Flüchtlinge dazu veranlassten, diesen Staat als Aufnahmestaat zu wählen, und obwohl es geltend machte, dass es sich dabei um eine politische Entscheidung handle, die sich im Rahmen des weiten Ermessens bewege, über das es auf diesem Gebiet verfüge(82), hat der EGMR entschieden, dass er keinen Grund sehe, weshalb Flüchtlinge, die nach dem Wechsel ihres Aufenthaltsortes geheiratet hätten, und solche, die vorher geheiratet hätten, ungleich behandelt werden sollten, und dass, obwohl das Vereinigte Königreich seinen internationalen Verpflichtungen nachgekommen sei, indem es die Familienzusammenführung der Ehegatten von Flüchtlingen gestattet habe, die vor dem Wechsel ihres Aufenthaltsortes verheiratet gewesen seien, der Umstand, dass eine internationale Verpflichtung eines Vertragsstaats erfüllt worden sei, eine durch eine bestimmte Maßnahme herbeigeführte Ungleichbehandlung von Personen, die sich in vergleichbaren Situationen befänden, nicht rechtfertigen könne(83). Der EGMR bejaht somit einen Verstoß gegen Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 8 dieser Konvention(84).

76.      Die Tatsache, dass die geflüchteten Kinder von XXX das Recht auf Wahrung des Familienverbands, das durch Art. 23 der Richtlinie 2011/95 garantiert wird, allein deshalb nicht in Anspruch nehmen können, weil sie keiner Familie angehören, die bereits im Herkunftsstaat bestanden hat, könnte daher auch im Hinblick auf Art. 20 der Charta einige Schwierigkeiten bereiten(85).

77.      Was schließlich die ernste Gefahr angeht, dass der Wesensgehalt des Asylrechts angetastet wird, so verlängert der Umstand, dass sich XXX nicht zu seinem eigenen Vorteil auf die Leistungen der Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 berufen kann, die Unrechtmäßigkeit seines Aufenthalts in Belgien. Vorbehaltlich der Überprüfungen, die das vorlegende Gericht für den Fall eines Ausfalls der Mutter des geflüchteten minderjährigen Kindes vorzunehmen haben wird, ist das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kind und Vater jedoch möglicherweise so beschaffen, dass das Kind dem Vater folgen muss, falls dieser verpflichtet ist, das Hoheitsgebiet zu verlassen(86). In einem solchen Fall – der zwar hypothetisch, aber in Anbetracht des Inhalts der dem Gerichtshof vorgelegten Akten nicht völlig unwahrscheinlich ist – wäre diesmal das Asylrecht des Kindes, das durch Art. 18 der Charta geschützt wird, direkt beeinträchtigt(87), wodurch das Kind daran gehindert wäre, dieses Recht tatsächlich in Anspruch zu nehmen(88).

3.      Schlussbemerkungen

78.      Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 eignet sich aufgrund seines allgemein gefassten Wortlauts daher für eine Auslegung, die gewährleistet, dass der Vater eines geflüchteten minderjährigen Kindes, der weder internationalen Schutz in Anspruch nehmen noch sich auf Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie berufen kann, einzig und allein, weil die Familie des Kindes nicht bereits im Herkunftsstaat bestanden hat, Zugang zu den in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie genannten Leistungen hat. Eine solche Auslegung stützt die Schlussfolgerung, zu der der Gerichtshof gelangt ist, als er entschieden hat, dass es „Sinn und Zweck von Art. 23 der Richtlinie 2011/95 [ist], der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, den Genuss der ihr durch diesen Schutz verliehenen Rechte zu ermöglichen und dabei zugleich ihren Familienverband im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zu wahren“(89).

79.      Vor der Zugangsgewährung müssen jedoch einige Überprüfungen vorgenommen werden. So muss zum einen sichergestellt sein, dass die familiäre Bindung zwischen dem Vater und seinem als Flüchtling anerkannten Kind tatsächlich und effektiv gegeben(90) und das Abhängigkeitsverhältnis stark ist. Bei Minderjährigen wird es darum gehen, sich zu vergewissern, dass die Aufrechterhaltung einer solchen Bindung zum betreffenden Familienangehörigen in Anbetracht der Situation der jeweils betroffenen Familie mit dem Wohl des Kindes zusammenfällt. Zum anderen finden die in Art. 23 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Beschränkungen offensichtlich weiterhin Anwendung, so dass der auf Art. 23 Abs. 1 dieser Richtlinie gestützte Zugang zu den Leistungen nicht mehr garantiert ist, sofern der Vater nach den Kapiteln III und V der Richtlinie 2011/95 von der Inanspruchnahme internationalen Schutzes ausgeschlossen ist oder ausgeschlossen wäre oder falls der Mitgliedstaat befindet, dass ein solcher Zugang seine nationale Sicherheit oder seine öffentliche Ordnung bedrohe.

80.      Folglich ist Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 5 dieser Richtlinie im Licht der Art. 7 und 18 sowie von Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta aus sämtlichen vorstehend genannten Gründen dahin auszulegen, dass der drittstaatsangehörige Vater geflüchteter, im Hoheitsgebiet des Aufnahmestaats in eine in diesem Hoheitsgebiet gegründete Familie hineingeborener Kinder, der selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllt, die Leistungen der Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 in Anspruch nehmen können muss, wenn sich das in Anbetracht sämtlicher besonderer Umstände der Situation der jeweils betroffenen Familie für die Gewährleistung der Achtung des Rechts seiner geflüchteten Kinder auf Familienleben einerseits und für die fortgesetzte Inanspruchnahme sämtlicher mit dem Flüchtlingsstatus verbundener Rechte durch seine Kinder andererseits als notwendig erweist, es sei denn, dieser Vater fällt unter die Ausschlussklauseln der Kapitel III und V der Richtlinie 2011/95 oder stellt eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung des Aufnahmemitgliedstaats dar.

IV.    Ergebnis

81.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j dieser Richtlinie

ist dahin auszulegen, dass

der Begriff „Familienangehörige“ grundsätzlich voraussetzt, dass die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat.

Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 kommt unmittelbare Wirkung zu, soweit er die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsieht, Zugang zu den Leistungen der Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie zu gewähren; er kann von einem Einzelnen vor den nationalen Gerichten gegenüber einem Mitgliedstaat geltend gemacht werden, der ihn nur unzulänglich oder gar nicht umgesetzt hat.

Die Richtlinie 2011/95 sieht keine abgeleitete Ausweitung des Flüchtlingsstatus auf Familienangehörige einer Person vor, der dieser Status zuerkannt worden ist, sofern die Familienangehörigen selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung des Flüchtlingsstatus erfüllen. Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 gestattet es Personen, die in seinen Anwendungsbereich fallen, den Zugang zu den in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 genannten Leistungen einzufordern.

2.      Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 5 dieser Richtlinie ist im Licht der Art. 7, 18 und 24 Abs. 2 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass

der drittstaatsangehörige Vater geflüchteter, im Hoheitsgebiet des Aufnahmestaats in eine in diesem Hoheitsgebiet gegründete Familie hineingeborener Kinder, der selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllt, die Leistungen der Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 in Anspruch nehmen können muss, wenn sich das in Anbetracht sämtlicher besonderer Umstände der Situation der jeweils betroffenen Familie für die Gewährleistung der Achtung des Rechts seiner geflüchteten Kinder auf Familienleben einerseits und für die fortgesetzte Inanspruchnahme sämtlicher mit dem Flüchtlingsstatus verbundener Rechte durch seine Kinder andererseits als notwendig erweist, es sei denn, dieser Vater fällt unter die Ausschlussklauseln der Kapitel III und V der Richtlinie oder stellt eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung des Aufnahmemitgliedstaats dar.




























































































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