C-339/22 – BSH Hausgeräte

C-339/22 – BSH Hausgeräte

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Language of document : ECLI:EU:C:2024:159

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NICHOLAS EMILIOU

vom 22. Februar 2024(1)

Rechtssache C339/22

BSH Hausgeräte GmbH

gegen

Electrolux AB

(Vorabentscheidungsersuchen des Svea hovrätt [Berufungsgericht für Svealand, Stockholm, Schweden])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Ausschließliche Zuständigkeiten – Verfahren, welche die Gültigkeit von Patenten zum Gegenstand haben – Art. 24 Nr. 4 – Anwendungsbereich – Patentverletzungsverfahren – Im Wege der Einrede aufgeworfene Ungültigkeit angeblich verletzter Patente – Folgen für die Zuständigkeit des mit dem Patentverletzungsverfahren befassten Gerichts – In einem Drittstaat eingetragenes Patent – ‚Reflexive Wirkung‘ von Art. 24 Nr. 4“

I.      Einleitung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Svea Hovrätt (Berufungsgericht für Svealand, Stockholm, Schweden) betrifft die Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen(2).

2.        Das vorlegende Gericht ersucht mit seinen Fragen erstens um Klärung der nach dieser Verordnung bestehenden Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten der Europäischen Union für die Entscheidung über Klagen, die die Verletzung in anderen Mitgliedstaaten eingetragener Patente zum Gegenstand haben, insbesondere wenn die Gültigkeit der angeblich verletzten Patente von der gegnerischen Partei bestritten wird. Wie ich in den vorliegenden Schlussanträgen erläutern werde, besteht im Umfeld dieser Frage erhebliche Unsicherheit, insbesondere infolge einer vor langer Zeit ergangenen mehrdeutigen Entscheidung des Gerichtshofs, nämlich des Urteils GAT(3). Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gibt dem Gerichtshof die Gelegenheit, eine von mehreren möglichen Interpretationen dieser Entscheidung zu bestätigen.

3.        Zweitens wird der Gerichtshof um Klärung der Frage ersucht, ob die Gerichte der Mitgliedstaaten für die Entscheidung über Verfahren, welche die Gültigkeit in Drittstaaten eingetragener Patente zum Gegenstand haben, zuständig sind. Insoweit wird der Gerichtshof auf die sensible und seit Langem offene Frage einzugehen haben, ob bestimmte Regelungen der Brüssel‑Ia-Verordnung auf „externe“ Sachverhalte genauso anwendbar sind wie auf „unionsinterne“ Zuständigkeitskonflikte oder ob sie eine „reflexive Wirkung“ haben, wie in den vorliegenden Schlussanträgen erläutert werden wird.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Internationales Recht

4.        Durch das am 5. Oktober 1973 in München (Deutschland) unterzeichnete und am 7. Oktober 1977 in Kraft getretene Übereinkommen über die Erteilung europäischer Patente in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: EPÜ) wird gemäß Art. 1 „ein den Vertragsstaaten gemeinsames Recht für die Erteilung von Erfindungspatenten“ geschaffen.

5.        Nach Art. 2 Abs. 2 EPÜ hat „[d]as europäische Patent … in jedem Vertragsstaat, für den es erteilt worden ist, dieselbe Wirkung und unterliegt denselben Vorschriften wie ein in diesem Staat erteiltes nationales Patent“.

B.      BrüsselIa-Verordnung

6.        Nach Art. 4 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung „[sind v]orbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung … Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen“.

7.        Art. 24 („Ausschließliche Zuständigkeiten“) Nr. 4 dieser Verordnung bestimmt:

„Ohne Rücksicht auf den Wohnsitz der Parteien sind folgende Gerichte eines Mitgliedstaats ausschließlich zuständig:

4.      für Verfahren, welche die Eintragung oder die Gültigkeit von Patenten … zum Gegenstand haben, unabhängig davon, ob die Frage im Wege der Klage oder der Einrede aufgeworfen wird, die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Hinterlegung oder Registrierung beantragt oder vorgenommen worden ist …

Unbeschadet der Zuständigkeit des Europäischen Patentamts nach dem [EPÜ] sind die Gerichte eines jeden Mitgliedstaats für alle Verfahren ausschließlich zuständig, welche die Erteilung oder die Gültigkeit eines europäischen Patents zum Gegenstand haben, das für diesen Mitgliedstaat erteilt wurde.“

C.      Schwedisches Recht

8.        § 61 Abs. 2 des Patentlagen (1967:837) (Patentgesetz) bestimmt: „Wird eine Patentverletzungsklage erhoben und macht die Person, gegen die sich diese Klage richtet, die Ungültigkeit des Patents geltend, darf über die Ungültigkeit erst entschieden werden, wenn eine entsprechende Klage erhoben wurde. Zur Erhebung einer solchen Klage binnen einer bestimmten Frist fordert das Gericht die Person, die sich auf die Ungültigkeit des Patents beruft, auf.“

III. Sachverhalt, nationales Verfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

9.        Die BSH Hausgeräte GmbH (im Folgenden: BSH) ist Inhaberin des europäischen Patents EP 1 434 512, das eine Erfindung für Staubsauger schützt und für Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, die Niederlande, Österreich, Schweden, Spanien, die Türkei und das Vereinigte Königreich erteilt (und entsprechend validiert) wurde.

10.      BSH erhob beim Patent- och marknadsdomstol (Patent- und Marktgericht, Schweden) am 3. Februar 2020 Klage gegen die Aktiebolaget Electrolux (im Folgenden: Electrolux), eine in Schweden eingetragene Gesellschaft. Mit dieser Klage wurde eine angebliche Verletzung des EP 1 434 512 durch Electrolux in den verschiedenen Staaten, für die es erteilt wurde, geltend gemacht. BSH beantragte insoweit u. a., Electrolux die weitere Nutzung der patentierten Erfindung in allen diesen Staaten zu untersagen, und begehrte Ersatz des durch diese rechtswidrige Nutzung entstandenen Schadens.

11.      In ihrer Klageerwiderung beantragte Electrolux, die Klage abzuweisen, soweit sie den deutschen, französischen, griechischen, italienischen, niederländischen, österreichischen, spanischen, türkischen und den auf das Vereinigte Königreich entfallenden Teil des EP 1 434 512 (im Folgenden: ausländische Patente) betrifft. Electrolux machte insoweit u. a. die Ungültigkeit der ausländischen Patente geltend.

12.      Darüber hinaus brachte Electrolux vor, dass die schwedischen Gerichte aufgrund dieser Einrede für die Entscheidung über das Patentverletzungsverfahren, soweit es die ausländischen Patente betreffe, keine Zuständigkeit hätten. Es sei insoweit davon auszugehen, dass Patentverletzungsverfahren im Sinne von Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung „die … Gültigkeit von Patenten … zum Gegenstand haben“, und nach dieser Bestimmung seien die Gerichte der verschiedenen Mitgliedstaaten, in denen diese Patente validiert worden seien, für die Entscheidung über das Verfahren, soweit „ihr“ Patent betroffen sei, ausschließlich zuständig.

13.      BSH entgegnete, dass die schwedischen Gerichte für die Entscheidung über das Patentverletzungsverfahren nach Art. 4 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung zuständig seien, da Electrolux ihren Sitz in Schweden habe. Art. 24 Nr. 4 der Verordnung sei nicht anwendbar, da die von BSH erhobene Klage als solche im Sinne dieser Bestimmung nicht „die Gültigkeit von Patenten … zum Gegenstand“ habe. Außerdem müsse das angerufene Gericht nach § 61 Abs. 2 des Patentlagen, wenn der Beklagte im Rahmen eines solchen Patentverletzungsverfahrens die Ungültigkeit des Patents geltend mache, anordnen, dass der Beklagte insoweit eine gesonderte Klage bei den zuständigen Gerichten erhebe. In der vorliegenden Rechtssache müsse Electrolux daher eine gesonderte Ungültigkeitsklage bei den Gerichten der verschiedenen Staaten erheben, für die die ausländischen Patente erteilt worden seien. Parallel dazu könne der Patent- och marknadsdomstol (Patent- und Marktgericht) über die Frage der Patentverletzung in einem vorläufigen Urteil entscheiden und das Verfahren sodann bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Ungültigkeitsverfahren aussetzen. Schließlich trug BSH in Bezug auf den türkischen Teil des EP 1 434 512 vor, dass Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung jedenfalls nicht auf von Drittstaaten erteilte Patente anwendbar sei und daher für die Zuständigkeit der schwedischen Gerichte keine Bedeutung haben könne.

14.      Mit Beschluss vom 21. Dezember 2020 wies der Patent- och marknadsdomstol (Patent- und Marktgericht) die Klage ab, soweit sie die Verletzung der ausländischen Patente betraf. Zwar seien die schwedischen Gerichte zum Zeitpunkt der Klageerhebung nach Art. 4 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung für die Klage zuständig gewesen, doch sei Art. 24 Nr. 4 dieser Verordnung anwendbar geworden, als Electrolux einredeweise die Ungültigkeit dieser Patente geltend gemacht habe. Nach dieser Bestimmung seien für die Prüfung der Frage der Gültigkeit die Gerichte anderer Staaten ausschließlich zuständig; da diese Frage für den Ausgang der von BSH erhobenen Patentverletzungsklage von entscheidender Bedeutung sei, erklärte das nationale Gericht sich für das Verfahren, soweit es die ausländischen Patente zum Gegenstand hat, für unzuständig. Dieses Gericht erklärte sich auch für das türkische Patent für unzuständig, da in Art. 24 Nr. 4 seiner Auffassung nach ein international anerkannter Grundsatz der gerichtlichen Zuständigkeit zum Ausdruck komme, wonach nur die Gerichte des Staats, der ein Patent erteilt habe, über seine Gültigkeit entscheiden könnten.

15.      Gegen diese Entscheidung legte BSH anschließend Rechtsmittel beim Svea hovrätt (Berufungsgericht für Svealand, Stockholm) mit der Begründung ein, dass Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung auf Klagen wegen Patentverletzung nicht anwendbar sei. Da Electrolux die Ungültigkeit indes einredeweise geltend gemacht habe, sei die Zuständigkeit geteilt: Die schwedischen Gerichte seien nach Art. 4 Abs. 1 für die Entscheidung über die Frage der Patentverletzung zuständig, während über die Frage der Gültigkeit nach Art. 24 Nr. 4 von den Gerichten der Staaten der Eintragung zu entscheiden sei. Die schwedischen Gerichte seien nach Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung auch für das türkische Patent zuständig. Die Zuständigkeit des Wohnsitzstaats des Beklagten sei nämlich ein anerkannter Grundsatz des Völkerrechts. Nach Ansicht von Electrolux wiederum soll Art. 24 Nr. 4 auf Patentverletzungsverfahren anwendbar sein, in denen die Ungültigkeit einredeweise geltend gemacht wird. Die schwedischen Gerichte seien für das Verfahren insgesamt nicht zuständig, da Fragen der Patentverletzung und der Gültigkeit nicht voneinander getrennt werden könnten.

16.      Vor diesem Hintergrund hat das Svea hovrätt (Berufungsgericht für Svealand, Stockholm) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung dahin auszulegen, dass die Wendung „Verfahren, welche die Eintragung oder die Gültigkeit von Patenten … zum Gegenstand haben, unabhängig davon, ob die Frage im Wege der Klage oder der Einrede aufgeworfen wird,“ so zu verstehen ist, dass ein nationales Gericht, das sich gemäß Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung für zuständig erklärt hat, um über einen Patentverletzungsrechtsstreit zu entscheiden, seine Zuständigkeit für die Entscheidung über die Verletzungsklage verliert, wenn einredeweise die Ungültigkeit des in Rede stehenden Patents geltend gemacht wird, oder ist die Bestimmung dahin auszulegen, dass das nationale Gericht lediglich nicht mehr zuständig ist, um über diese Einrede der Ungültigkeit zu entscheiden?

2.      Wirkt es sich auf die Beantwortung von Frage 1 aus, wenn das nationale Recht Regelungen wie § 61 Abs. 2 des Patentlagen enthält, wonach über eine im Rahmen eines Patentverletzungsverfahrens geltend gemachte Ungültigkeitseinrede nur entschieden werden darf, wenn die andere Partei eine gesonderte Ungültigkeitsklage erhebt?

3.      Ist Art. 24 Nr. 4 der Brüssel Ia-Verordnung dahin auszulegen, dass er in Bezug auf ein Gericht eines Drittstaats Anwendung findet, im vorliegenden Fall also dahin, dass für den in der Türkei validierten Teil des europäischen Patents die dortigen Gerichte auch ausschließlich zuständig sind?

17.      Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen vom 24. Mai 2022 ist am selben Tag eingegangen. BSH, Electrolux, die französische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht; die Beteiligten waren in der mündlichen Verhandlung vom 22. Juni 2023 vertreten.

IV.    Würdigung

18.      Die vorliegende Rechtssache betrifft die Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten für die Entscheidung über Klagen wegen einer Verletzung europäischer Patente, die in mehreren Staaten begangen worden sein soll. Bevor die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen näher geprüft werden, erscheint mir sinnvoll, dem Leser, der möglicherweise mit den Einzelheiten dieses komplexen Rechtsgebiets nicht vertraut ist, einen Überblick über die einschlägigen materiellen und die Zuständigkeit betreffenden Regelungen zu geben.

19.      Allgemein betrachtet, handelt es sich bei Patenten um Rechte des geistigen Eigentums, die von Staaten in von nationalen Patentämtern durchgeführten Eintragungsverfahren im Einklang mit den in ihrem nationalen Recht vorgesehenen Anforderungen an die Erteilung (oder die „Patentierbarkeit“) erteilt werden. Solche Patente gewähren ihrem Inhaber bestimmte ausschließliche Rechte an der patentierten Erfindung (im Wesentlichen ein Handelsmonopol), deren Umfang durch dieses Recht bestimmt wird. Da ein Staat grundsätzlich nur die hoheitliche Befugnis hat, den Handel in seinem Hoheitsgebiet zu regeln, ist der gewährte Schutz hierdurch begrenzt (dieser Aspekt wird allgemein als Grundsatz der Territorialität von Patenten bezeichnet). Der Nachteil dieses Systems besteht darin, dass eine Person, die ein und dieselbe Erfindung in mehreren Staaten schützen lassen möchte, in allen diesen Staaten einzeln ein Patent anmelden muss.

20.      Um für diesen Nachteil eine (wie sich zeigen wird, partielle) Lösung zu schaffen, wurde das EPÜ angenommen. Mit diesem Vertrag, der für 39 Vertragsparteien, darunter die Mitgliedstaaten und die Türkei, verbindlich ist, wurde ein autonomes System zur Erteilung sogenannter europäischer Patente mittels eines zentralisierten Eintragungsverfahrens vor dem Europäischen Patentamt (im Folgenden: EPA) mit Sitz in München eingeführt(4). Es legt hierzu u. a. einheitliche Anforderungen an die Patentierbarkeit fest. Das EPA hat die Aufgabe, europäische Patentanmeldungen anhand dieser Anforderungen zu prüfen(5). Sind sie erfüllt, erteilt das EPA ein europäisches Patent (je nach Wunsch des Anmelders) für eine, mehrere oder alle Vertragsparteien(6). Im Ausgangsverfahren hat BSH im Wege dieses Verfahrens das EP 1 434 512 erlangt, das für mehrere Mitgliedstaaten und die Türkei erteilt wurde.

21.      Allerdings ist ein europäisches Patent entgegen dem, was seine Bezeichnung nahelegt, kein einheitlicher Rechtstitel, der einen einheitlichen Schutz der betreffenden Erfindung in allen Staaten gewährt, für die er erteilt wurde. Ein europäisches Patent kommt nämlich im Wesentlichen als Bündel nationaler „Teile“ zustande, die den von den betreffenden Staaten erteilten Patenten gleichgestellt sind. Es muss daher von den jeweiligen Patentämtern dieser Staaten „validiert“ werden. Somit sind die nationalen „Teile“ eines europäischen Patents voneinander rechtlich unabhängig. Jeder von ihnen gewährt dem Patentinhaber die gleichen ausschließlichen Rechte an der patentierten Erfindung wie ein „gewöhnliches“ nationales Patent(7) und ist ebenso auf das nationale Hoheitsgebiet beschränkt. Außerdem kann ein europäisches Patent grundsätzlich(8) nur „teilweise“ oder „in Teilen“ widerrufen werden, da der Widerruf eines „Teils“ nur für das Hoheitsgebiet des entsprechenden Staats wirksam ist(9).

22.      Folglich kann, wenn eine bestimmte Erfindung durch ein europäisches Patent geschützt ist, die unberechtigte Nutzung dieser Erfindung durch einen Dritten zum einen eine Verletzung des Monopols des Patentinhabers in mehreren Staaten (nämlich denjenigen, für die dieses Patent erteilt wurde) zur Folge haben. Im Ausgangsverfahren wirft BSH Electrolux genau diese Art von „mehrstaatlicher“ Patentverletzung vor. Zum anderen wird, da das europäische Patent kein einheitlicher Rechtstitel ist, seine Verletzung in mehreren Staaten in rechtlicher Hinsicht als Bündel nationaler Patentverletzungen angesehen, da die Verletzung jedes seiner „Teile“ nach dem auf ihn anwendbaren nationalen Recht gesondert zu beurteilen ist(10). Die von BSH gegen Electrolux erhobene Klage stellt letztlich ein Bündel von Patentverletzungsklagen dar, die auf den verschiedenen „Teilen“ des EP 1 434 512 beruhen.

23.      Ebenso sind Streitigkeiten über europäische Patente, einschließlich Verletzungsklagen, den Vertragsparteien und ihren nationalen Gerichten vorbehalten(11). Auch bei grenzüberschreitenden Streitigkeiten nimmt das EPÜ zwischen diesen Gerichten keine Zuständigkeitszuweisung vor(12). Für diese Frage sind die von den Gerichten dieser Vertragsparteien angewendeten Regeln des internationalen Privatrechts maßgeblich.

24.      In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bestimmt sich die Zuständigkeit für grenzüberschreitende Patentstreitigkeiten zwischen Privaten nach den Regeln der Brüssel‑Ia-Verordnung(13), wenn der Beklagte, wie Electrolux, seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat.

25.      Die Zuständigkeitsregelung dieses Rechtsakts (und seiner Vorgängerregelungen)(14) (im Folgenden: Brüsseler System) folgt für diese Streitigkeiten der folgenden Zweiteilung.

26.      Zum einen unterliegen Verfahren, „welche die Eintragung oder die Gültigkeit von Patenten … zum Gegenstand haben“, einer besonderen Regelung nach Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung, wonach die Gerichte des Mitgliedstaats, der das betreffende Patent erteilt hat (im Folgenden: Staat der Eintragung oder Eintragungsstaat) ausschließlich zuständig ist. Soweit die Erteilung oder die Gültigkeit eines europäischen Patents in Frage steht, sind die Gerichte der verschiedenen Mitgliedstaaten, für die dieses Patent erteilt wurde, jeweils für ihren nationalen „Teil“ ausschließlich zuständig(15). Diese Regelung ist zwingend; die Parteien können von ihr nicht im Wege der Vereinbarung abweichen(16). Wenn ferner ein „falsches“ Gericht wegen einer Streitigkeit angerufen wird, ist dieses Gericht nach Art. 27 dieser Verordnung verpflichtet, sich von Amts wegen für unzuständig zu erklären(17).

27.      Zum anderen unterliegen alle anderen Verfahren im Zusammenhang mit Patenten den allgemeinen Regeln der Verordnung. Dies schließt grundsätzlich Patentverletzungsverfahren ein, da diese nicht die Eintragung oder die Gültigkeit von Patenten „zum Gegenstand haben“, sondern ihre Durchsetzung(18). Diese Regeln geben Rechtsuchenden im Rahmen der Zuständigkeit einen gewissen Spielraum.

28.      Die Gerichte des Staats der Eintragung sind zwar durchaus für Patentverletzungsverfahren nach Art. 7 Abs. 2 der Brüssel‑Ia-Verordnung zuständig(19), es handelt es sich dabei jedoch nicht um eine ausschließliche, sondern um eine Wahlzuständigkeit. Eine solche Klage kann daher vor anderen Gerichten erhoben werden. Insbesondere kann der Patentinhaber nach Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Beklagte seinen Wohnsitz hat, anrufen. Im Fall einer „mehrstaatlichen“ Verletzung eines europäischen Patents hat ein Patentinhaber ein offensichtliches Interesse daran.

29.      Die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats der Eintragung nach Art. 7 Abs. 2 der Brüssel‑Ia-Verordnung ist nämlich territorial begrenzt. Wie oben in Nr. 22 ausgeführt, dürfen die Gerichte jedes Staats, für den ein europäisches Patent erteilt wurde, nur entscheiden, soweit ihr nationaler „Teil“ und ihr Hoheitsgebiet betroffen sind(20). Folglich müsste der Patentinhaber, der vollständigen Rechtsschutz begehrt, in allen diesen Staaten gesondert Klage erheben.

30.      Dagegen gilt die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, nach Art. 4 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung universell. Sie kann sich somit auf die Verletzung des europäischen Patents in allen Staaten, für die es erteilt wurde, erstrecken(21). Diese Gerichte können für den dem Patentinhaber entstandenen gesamten Schaden Schadensersatz zusprechen oder die weitere Patentverletzung in allen diesen Staaten untersagen. Zusammenfassend ermöglicht diese Bestimmung dem Patentinhaber, alle seine Verletzungsansprüche an einem einzigen Gerichtsstand zu bündeln und dort vollständigen Rechtsschutz zu erhalten. In der vorliegenden Rechtssache hat BSH genau von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und ihre Klage gegen Electrolux insgesamt vor dem zuständigen Patentgericht in Schweden erhoben, wo die Letztere ihren Sitz hat.

31.      Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht Zweifel, ob und gegebenenfalls inwieweit eine solche Bündelung im Ausgangsverfahren tatsächlich möglich ist. Diese Zweifel ergeben sich daraus, dass Electrolux sich gegen die von BSH geltend gemachten Ansprüche einredeweise auf die Ungültigkeit der verschiedenen „Teile“ des EP 1 434 512 berufen hat, auf denen diese Ansprüche beruhen(22). Mit Blick auf diese Einrede hält das vorlegende Gericht für klärungsbedürftig, ob und inwieweit Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung anwendbar sei und Art. 4 Abs. 1 der Verordnung „übertreffe“. Nach Art. 24 Nr. 4 seien diese Gerichte nur für den schwedischen „Teil“ zuständig, während andere Gerichte für die ausländischen „Teile“ ausschließlich zuständig seien. Die Bündelung des Verfahrens an einem einzigen Gerichtsstand wäre nicht möglich, sondern vielmehr seine Fragmentierung unvermeidlich.

32.      Konkret geht es in der ersten und der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts, die zweckmäßigerweise zusammen zu prüfen sind, darum, ob das Patentverletzungsverfahren unter Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung fällt, wenn die Gültigkeit des zugrunde liegenden Patents im Wege der Einrede bestritten wird. Falls dies zu bejahen ist, möchte dieses Gericht wissen, ob es vorliegend nach dieser Bestimmung (was die ausländischen „Teile“ des EP 1 434 512 angeht) für die Entscheidung über das Patentverletzungsverfahren allgemein oder nur für die Frage der Gültigkeit unzuständig wird. Diesen Aspekt werde ich in Abschnitt A der vorliegenden Schlussanträge prüfen.

33.      Sofern die ersten beiden Fragen vom Gerichtshof dahin beantwortet werden, dass Art. 24 Nr. 4 für einen Sachverhalt wie denjenigen des Ausgangsverfahrens relevant ist, geht es in der dritten Frage darum, ob diese Bestimmung auch für die Gültigkeit des türkischen „Teils“ des EP 1 434 512 gilt. Diesen Aspekt werde ich in Abschnitt B der vorliegenden Schlussanträge prüfen.

A.      Sachlicher Anwendungsbereich von Art. 24 Nr. 4 der BrüsselIa-Verordnung (erste und zweite Frage)

34.      Wie oben ausgeführt, ist der Anwendungsbereich von Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung offenbar eindeutig. Nach dieser Bestimmung fallen in die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des Staats der Eintragung nur Verfahren, welche „die Gültigkeit von Patenten … zum Gegenstand haben“, und nicht solche, welche andere patentbezogene Fragen, einschließlich Patentverletzungen, „zum Gegenstand haben“.

35.      Tatsächlich liegt die Unklarheit nicht schon in diesem Wortlaut. Die Abgrenzung zwischen beiden Bereichen wird in der Praxis bisweilen unscharf. Während nämlich die Gültigkeit von Patenten Gegenstand spezieller Klagen (auf Nichtigerklärung oder Löschung) sein kann, kann die Ungültigkeit eines Patents auch im Wege einer Einrede, insbesondere gegen Ansprüche wegen Patentverletzung, geltend gemacht werden. Damit begehrt der angebliche Patentverletzer die Zurückweisung dieser Ansprüche durch Ungültigerklärung des Rechtstitels, auf dem sie beruhen(23). Electrolux hat eine solche Einrede im Ausgangsverfahren geltend gemacht.

36.      Darüber, dass die Gerichte des Staats der Eintragung für die erste Kategorie von Klagen ausschließlich zuständig sind, bestand stets Klarheit. Dagegen ist die Frage, ob und inwieweit sie dies auch in der zweiten Fallgestaltung sind, Gegenstand einer seit Langem geführten Diskussion.

37.      Seit den frühen 1990er Jahren, als Patentinhaber erstmals von den Möglichkeiten Gebrauch machten, ihre Patentverletzungsklagen nach den allgemeinen Regeln des Brüsseler Systems zu bündeln, sind die Gerichte der Mitgliedstaaten mit der Frage konfrontiert. Dem ursprünglichen Wortlaut der streitigen Regel der ausschließlichen Zuständigkeit im (damaligen) Art. 16 Nr. 4 des Brüsseler Übereinkommens war zu der Frage nichts zu entnehmen. Diese Gerichte vertraten drei hauptsächliche Ansätze:

–        Erstens wurde von einigen Gerichten, insbesondere in Deutschland, die Auffassung vertreten, dass die betreffende Regel der ausschließlichen Zuständigkeit im Fall der Geltendmachung der Ungültigkeit im Wege der Einrede in einem Patentverletzungsverfahren keine Anwendung finde. Gerichte außerhalb des Staats der Eintragung könnten diese Verfahren nach den allgemeinen Regeln des Übereinkommens durchführen und in diesem Rahmen über die Gültigkeit des betreffenden Patents/der betreffenden Patente entscheiden.

–        Zweitens wurde von anderen Gerichten, insbesondere im Vereinigten Königreich, die Auffassung vertreten, dass ein Patentverletzungsverfahren im Fall der Erhebung einer Ungültigkeitseinrede „die Gültigkeit von Patenten … zum Gegenstand habe“ und dementsprechend in die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats/der Mitgliedstaaten der Eintragung falle.

–        Drittens wurde von einer letzten Gruppe von Gerichten, u. a. denjenigen in den Niederlanden, die Auffassung vertreten, dass die streitige Regel Anwendung finde, wenn die Ungültigkeit in einem Patentverletzungsverfahren im Wege der Einrede geltend gemacht werde, allerdings differenzierter in der Weise, dass nur die Frage der Gültigkeit in die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des Staats der Eintragung falle und andere Gerichte über die Frage der Patentverletzung entscheiden könnten(24).

38.      Im Jahr 2006 trat der Gerichtshof mit seinem Urteil GAT in die Debatte ein. Hinzuweisen ist darauf, dass es in jener Rechtssache nicht um ein Patentverletzungsverfahren an sich ging. Sie betraf eine Klage, mit der ein Unternehmen von den deutschen Gerichten die Feststellung begehrte, dass es zwei französische Patente eines deutschen Unternehmens nicht verletzt habe (im Folgenden: negative Feststellung), u. a., weil diese Patente ungültig seien. Diese Gerichte sahen Art. 16 Nr. 4 des Brüsseler Übereinkommens als möglicherweise relevant an und legten dem Gerichtshof eine Frage hierzu vor. Der Gerichtshof nahm jedoch zu diesem konkreten Sachverhalt nicht im Einzelnen Stellung, sondern entschied allgemein, dass die (damals) in dieser Bestimmung aufgestellte ausschließliche Zuständigkeitsregel „alle Arten von Rechtsstreitigkeiten über die … Gültigkeit eines Patents betrifft, unabhängig davon, ob die Frage klageweise oder einredeweise aufgeworfen wird“(25). Entgegen dem Vorbringen von BSH ist diese Antwort allgemein genug, um auch die Fallgestaltung einzuschließen, dass in einem Patentverletzungsverfahren eine Einrede der Ungültigkeit erhoben wird. Die „einredeweise“ Geltendmachung wurde offenkundig in diesem Sinne hinzugefügt(26).

39.      Wenige Jahre später wurde das Urteil GAT vom Gesetzgeber in Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung kodifiziert, indem im Wortlaut dieser Bestimmung konkret geregelt wurde, dass in die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des Staats der Eintragung Verfahren fallen, welche die Gültigkeit von Patenten zum Gegenstand haben, „unabhängig davon, ob die Frage im Wege der Klage oder der Einrede aufgeworfen wird“.

40.      Allerdings wurde, vorsichtig formuliert, keine Klarheit in dieser Frage hergestellt. Die Antwort, die im Urteil GAT (und jetzt in Art. 24 Nr. 4) auf die im vorliegenden Abschnitt erörterte Frage gegeben wurde, warf nämlich mehr Fragen auf, als sie klärte. Während nämlich mit dieser Antwort der oben (1) aufgeführte erste Ansatz ungerechtfertigt vom Tisch gefegt wurde, ließ der Gerichtshof (und der Unionsgesetzgeber) nationale Gerichte und Streitparteien in Diskussionen darüber zurück, ob stattdessen der zweite oder der dritte Ansatz richtig seien (2).

1.      Das ungerechtfertigte Urteil GAT

41.      In der Regel folgt der Gerichtshof in dem Fall, dass ein und dasselbe Verfahren zwei verschiedene Gegenstände betrifft (wie in der vorliegenden Rechtssache die Patentverletzung und die Gültigkeit), die in den Anwendungsbereich einander gegenseitig ausschließender Zuständigkeitsregeln fallen (vorliegend die allgemeinen Regeln für die Patentverletzung und Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung für die Gültigkeit des Patents) bestimmten pragmatischen Grundsätzen, um zu bestimmen, welches Gericht oder welche Gerichte für die Entscheidung über sie zuständig ist bzw. sind.

42.      Zum einen muss, um zu bestimmen, welche Zuständigkeitsregeln anwendbar sind, dieses Verfahren anhand des Hauptgegenstands (oder „Gegenstands“) der vom Kläger erhobenen Klage qualifiziert und etwaige Vorfragen (oder Nebenfragen), die ansonsten, insbesondere im Wege einer Einrede, aufgeworfen werden könnten, außer Acht gelassen werden(27).

43.      Zum anderen gilt die Zuständigkeit des nach den anwendbaren Zuständigkeitsregeln bestimmten Gerichtsstands für die Durchführung des gesamten Verfahrens, d. h. nicht nur für die Klage, sondern auch für die Verteidigung, selbst wenn Letztere einen Gegenstand betrifft, der in der Regel einem anderen Gericht vorbehalten ist(28). Diese Verteidigung ist, prozessual betrachtet, nämlich Bestandteil des Klageverfahrens und unterliegt folgerichtig der Behandlung des Letzteren durch das Gericht.

44.      Wäre der Gerichtshof diesen Grundsätzen im Urteil GAT gefolgt, hätte er sich dem oben in Nr. 37 angeführten ersten Ansatz angeschlossen. Denn bei einem Patentverletzungsverfahren, in dem eine Einrede der Ungültigkeit erhoben worden ist, ist der Hauptgegenstand (oder „Gegenstand“) der Klage, ganz einfach, eine Patentverletzung. Dagegen ist die Frage der Gültigkeit ein hervorragendes Beispiel für eine Vorfrage. Da ein ungültiges Patent nicht verletzt werden kann, wird das Gericht zunächst über die Gültigkeit des Rechtstitels zu entscheiden haben, auf den der Kläger sich stützt, um dann über die Hauptfrage zu entscheiden, ob die Handlungen des Beklagten die Rechte aus dem fraglichen Rechtstitel verletzt haben. Nach diesen Grundsätzen wären auf dieses Verfahren aufgrund dieses Gegenstands und unabhängig von dieser Verteidigung die (damaligen) allgemeinen Regeln des Brüsseler Übereinkommens anwendbar gewesen. Weiterhin hätten die Gerichte, die nach diesen allgemeinen Regeln für die Durchführung und Entscheidung des Patentverletzungsverfahrens zuständig waren, insbesondere die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, auch für die Entscheidung über diese Verteidigung zuständig sein müssen.

45.      Der Gerichtshof hat im Urteil GAT offenkundig nicht so entschieden. Er hat vielmehr die Auffassung vertreten, dass die ausschließliche Zuständigkeitsregel für „Verfahren, welche … die Gültigkeit von Patenten … zum Gegenstand haben“ auch für Verfahren gilt, in denen diese Frage lediglich im Wege der Einrede aufgeworfen wird. Damit hat der Gerichtshof eine Auslegung vertreten, die meines Wissens für das Brüsseler System einmalig ist. Diese Lösung weicht nämlich sogar von denjenigen ab, die der Gerichtshof bislang für die anderen Regeln über ausschließliche Zuständigkeiten im (jetzigen) Art. 24 der Brüssel‑Ia-Verordnung vertreten hat. Im Einklang mit den oben erörterten Grundsätzen sind diese anderen Regeln nach Auffassung des Gerichtshofs nur dann anwendbar, wenn einer der dort genannten Punkte Gegenstand der Klage ist(29). In mehreren (aber leider nicht allen) Sprachfassungen  der Verordnung ergibt sich dieser Ansatz sogar aus dem Wortlaut dieser Bestimmung selbst(30). Außerdem war der Gerichtshof in seinem Urteil BVG, das wenige Jahre nach dem Urteil GAT erging, der Auffassung, dass die Regel der ausschließlichen Zuständigkeit für Verfahren, die die Gültigkeit einer Gesellschaft oder der Beschlüsse ihrer Organe zum Gegenstand haben (jetzt Art. 24 Nr. 2 dieser Verordnung), nicht für ein Verfahren gilt, in dem eine solche Frage lediglich im Wege einer Einrede aufgeworfen wird(31).

46.      Die genauen Auswirkungen der im Urteil GAT vertretenen Auslegung sind, wie oben erwähnt, ungewiss und werden unten in Abschnitt 2 erörtert werden. Fest steht, soweit vorliegend relevant, dass entgegen der Ansicht von BSH dann, wenn eine Patentverletzungsklage außerhalb des Mitgliedstaats der Eintragung erhoben und eine Einrede der Ungültigkeit geltend gemacht wird, diese Gerichte über die Gültigkeit der betreffenden Patente nicht als Vorfrage entscheiden dürfen.

47.      Dies vorausgeschickt, liefern die recht knappen Begründungserwägungen des Gerichtshofs im Urteil GAT meines Erachtens leider keine überzeugende Begründung für diese Lösung.

48.      Das erste Argument des Gerichtshofs betrifft die „Stellung [dieser Regel der ausschließlichen Zuständigkeit] in [der] Systematik [des Brüsseler Übereinkommens]“ (d. h. ihren Vorrang vor den allgemeinen Zuständigkeitsregeln) und ihren „zwingenden Charakter“(32). Dieses Argument ist meines Erachtens nicht überzeugend(33). Diese Gesichtspunkte sprechen nämlich eher für die gegenteilige Auslegung.

49.      Die Regeln über ausschließliche Zuständigkeiten sind im Brüsseler System Ausnahmen. Als solche sind sie eng auszulegen(34). Sie sollen nämlich nur in „einigen genau festgelegten Fällen“(35) anwendbar sein. Außerdem ist, wie der Gerichtshof im Urteil BVG entschieden hat, eine enge Auslegung dieser Regeln gerade deshalb „umso mehr geboten“, weil sie Vorrang vor den allgemeinen Regeln und zwingenden Charakter haben(36). Sofern Art. 24 Nr. 4 anwendbar ist, nimmt er Klägern die ihnen sonst mögliche Wahl des Gerichtsstands und kann dazu führen, dass Beklagte außerhalb des Mitgliedstaats ihres Wohnsitzes verklagt werden, wo sie in der Regel besser in der Lage wären, sich zu verteidigen.

50.      Dagegen kann die vom Gerichtshof im Urteil GAT vertretene Auslegung nur als „weit“ bezeichnet werden(37). Zwar ist die Gültigkeit von Patenten an sich sicherlich eine „genau festgelegte“ Frage. Sie kann jedoch in einer „kaum festgelegten“ Bandbreite von Verfahren, die andere Fragen zum Gegenstand haben, geltend gemacht werden(38).

51.      Die beiden anderen, vom Gerichtshof im Urteil GAT angeführten Gründe betreffen das allgemeine Ziel der Rechtssicherheit, das mit dem Brüsseler System verfolgt wird(39). Der Gerichtshof führte im Wesentlichen aus, dass wenn die streitige Regel der ausschließlichen Zuständigkeit im Fall einer Geltendmachung der Frage der Gültigkeit von Patenten im Wege der Einrede in einem Patentverletzungsverfahren nicht anwendbar wäre (usw.) und Gerichte außerhalb des Staats der Eintragung, bei denen dieses Verfahren anhängig sei, über diese Frage als Vorfrage entscheiden könnten, dies „zu einer Häufung [der Zahl der Gerichte, die über diese Frage entscheiden könnten] führen [würde]“. Dies wiederum würde „die Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsregeln … beeinträchtigen“ und „die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen [in der Sache] erhöhen“, was in seiner Gesamtheit die Rechtssicherheit beeinträchtigen würde(40).

52.      Auch dies ist meines Erachtens nicht überzeugend. Wenn man „das Gesamtbild betrachtet“, sprechen diese Gesichtspunkte wiederum eher für die gegenteilige Auslegung. Einerseits wird zugestandenermaßen mit der Lösung im Urteil GAT vermieden, dass verschiedene Gerichte zu einander widersprechenden Auffassungen über die Gültigkeit eines Patents kommen. Insoweit trägt sie zur Rechtssicherheit bei. Andererseits jedoch hat das Urteil GAT das Potenzial, die Anwendung des Brüsseler Systems in Bezug auf Patentverletzungsverfahren für Patentinhaber unsicherer zu machen.

53.      Während diese Regelung einem Patentinhaber normalerweise die Erhebung einer solchen Klage außerhalb des Staats der Eintragung ermöglicht, u. a. vor den Gerichten des Mitgliedstaats des Beklagten, schafft die Lösung im Urteil GAT Unsicherheit darüber, ob diese Gerichte in der Lage wären, Rechtsschutz gegen eine Patentverletzung zu gewähren, oder jedenfalls, ob sie hierzu innerhalb eines angemessenen Zeitraums in der Lage wären. Würde nämlich vom angeblichen Patentverletzer zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens eine Einrede der Ungültigkeit erhoben, wären diese Gerichte nicht in der Lage, über diese Verteidigung ohne Weiteres zu entscheiden und das Verfahren fortzusetzen, sondern würden, je nachdem, wie diese Lösung zu verstehen ist, entweder ihre Zuständigkeit verlieren und müssten das Verfahren einstellen oder müssten das Verfahren möglicherweise aussetzen, bis die Gerichte der Mitgliedstaaten der Eintragung über die Gültigkeit des Patents entschieden hätten (siehe ferner unten, Abschnitt 2).

54.      Unabhängig davon, welches Verständnis richtig ist, wird durch das Urteil GAT die Bündelung von Patentverletzungsklagen für die verschiedenen „Teile“ eines europäischen Patents vor diesen Gerichten zu einer unattraktiven Option. Sie veranlasst Patentinhaber stattdessen dazu, jeweils gesonderte Klagen in den verschiedenen Staaten der Eintragung dieser „Teile“ zu erheben, da zumindest feststeht, dass die Gerichte dieser Staaten für die Entscheidung sowohl über die Patentverletzung als auch über die Gültigkeit „ihres Teils“ (im Sinne der Ausführungen oben in den Nrn. 26, 28 und 29) zuständig sind. Dies wiederum begründet die Gefahr, dass verschiedene Gerichte in ein und demselben Patentverletzungsrechtsstreit zu einander widersprechenden Auffassungen kommen.

55.      Diese Unsicherheit und/oder Komplexität bei der Durchsetzung von Patenten ist im Hinblick darauf umso weniger wünschenswert, dass das geistige Eigentum als Grundrecht, insbesondere in Art. 17 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), geschützt ist. Nach dieser Bestimmung genießen Patentinhaber für ihre Rechte des geistigen Eigentums in der Union ein „hohes Schutzniveau“. Die Möglichkeit, im Fall einer Patentverletzung in geeigneter Weise eine zivilrechtliche Klage erheben und Rechtsschutz erwirken zu können, ist hierfür von wesentlicher Bedeutung. Dies ist ferner aufgrund des in Art. 47 der Charta garantierten Grundrechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf erforderlich. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 41 Abs. 2 des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (im Folgenden: TRIPS-Übereinkommen)(41) „[d]ie Verfahren zur Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums … nicht unnötig kompliziert oder kostspielig sein und keine … ungerechtfertigten Verzögerungen mit sich bringen [dürfen]“. Dies gilt meines Erachtens auch für die Anwendung der einschlägigen Regeln über die internationale Zuständigkeit.

56.      Jedenfalls war nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung der Regeln über ausschließliche Zuständigkeiten des Brüsseler Systems(42) die einzige Frage, die der Gerichtshof im Urteil GAT zu beantworten hatte (jedoch nicht erörtert hat), ob das mit der streitigen Regel der ausschließlichen Zuständigkeit verfolgte konkrete Ziel es „erforderlich“ macht, dass diese Regel auch auf Patentverletzungsverfahren Anwendung findet, in denen eine Einrede der Ungültigkeit erhoben worden ist. Meines Erachtens ist dies zu verneinen.

57.      Zunächst möchte ich eine gewisse Verunsicherung darüber aufklären, worin dieses Ziel liegt. Nach der vom Gerichtshof hierzu regelmäßig abgegebenen Erläuterung (die er im Urteil GAT „beiläufig“ erwähnt) verfolgt die betreffende Regel das Ziel der geordneten Rechtspflege. Die Gerichte des Eintragungsstaats sind seiner Auffassung nach wegen der „sachlichen oder rechtlichen Nähe“, die zwischen diesem Verfahren und diesem Staat besteht, „am besten in der Lage“, über ein Verfahren, welches die Eintragung oder die Gültigkeit von Patenten zum Gegenstand hat, zu entscheiden(43). Hierin liegt jedoch meines Erachtens nicht der eigentliche Sinn und Zweck dieser Regel.

58.      Wie oben in den Nrn. 19 und 21 erläutert, unterliegt ein Patent zwar dem Recht des Staats der Eintragung. Das Argument, dass z. B. ein deutsches Gericht „am besten in der Lage“ sei, das deutsche Patentrecht anzuwenden (wegen der Sprache, der Kenntnis dieses Rechts, usw.), hat ein gewisses Gewicht(44). Außerdem besteht, da ein Patent nur im Staat der Eintragung geschützt ist, in der Regel eine sachliche Nähe zwischen Rechtsstreitigkeiten über dieses Patent und dem Hoheitsgebiet des Letzteren.

59.      Diese Gesichtspunkte erklären jedoch nur, warum die Gerichte des Staats der Eintragung solche Rechtsstreitigkeiten durchführen und über sie entscheiden dürfen. Sie liefern eine Begründung dafür, warum beispielsweise diese Gerichte nach dem Brüsseler System für Patentverletzungsverfahren, die ihr Hoheitsgebiet betreffen, zuständig sind(45). Dagegen ist diesen Gesichtspunkten nichts dafür zu entnehmen, warum diese Gerichte für ein Verfahren, welches die Eintragung oder die Gültigkeit von Patenten zum Gegenstand hat, die alleinige Zuständigkeit haben sollten(46). Insbesondere ist das Patentrecht des Staats der Eintragung nicht so einzigartig, dass nur die Gerichte dieses Staats in der Lage wären, es zu verstehen(47). Auch wenn es für sie schwieriger sein mag, sind die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats durchaus fähig, solche ausländischen Rechtsvorschriften anzuwenden. Insoweit eine gegenteilige Ansicht zu vertreten, liefe darauf hinaus, die fundamentalen Grundlagen des Brüsseler Systems (und des gesamten Gebiets des internationalen Privatrechts) in Frage zu stellen(48).

60.      Der eigentliche Sinn und Zweck der streitigen Regelung liegt darin, dass, wie es im Jenard-Bericht heißt, „die Erteilung von Patenten Ausfluss der nationalen Souveränität ist“(49). Der einzige zwingende Grund, diese Regel der ausschließlichen Zuständigkeit vorzusehen, ist nämlich die oben in Nr. 19 erwähnte (traditionelle) Rolle der staatlichen Behörden bei der Erteilung solcher Rechte des geistigen Eigentums(50), insbesondere dass die nationalen Verwaltungen die Aufgabe haben, die Patentanmeldungen zu prüfen, die Patente bei Erfüllung der geltenden Anforderungen zu erteilen und die Patente entsprechend einzutragen. Die Lösung im Urteil GAT war jedoch meines Erachtens auch unter diesem Gesichtspunkt nicht „erforderlich“.

61.      Zum einen stellen nämlich Verfahren, welche die Eintragung oder die Gültigkeit von Patenten zum Gegenstand haben, schon ihrem Wesen nach die Arbeitsweise der Verwaltung des Eintragungsstaats in Frage(51). Im Mittelpunkt des Rechtsstreits steht die Frage, ob die zuständige staatliche Behörde (Patentamt) ordnungsgemäß „gearbeitet hat“. Mit einer Klage auf Nichtigerklärung beantragt der Kläger insbesondere im Wesentlichen die Überprüfung, ob diese Behörde das Patent von vornherein zu Recht erteilt hat, und, wenn dies nicht der Fall war, das Patent im Wege des Rechtsschutzes für ungültig zu erklären. Eine solche Erklärung hat ihrem Wesen nach Wirkung erga omnes und kann als solche der betreffenden Behörde entgegengehalten werden. Die Entscheidung des Gerichts kann der Letzteren sogar aufgeben, ihr Register entsprechend zu berichtigen. Es ist offenkundig, dass solche Entscheidungen nur von den Gerichten des Eintragungsstaats erlassen werden sollten. Hier kommt die Achtung der Souveränität der Staaten zum Tragen. Für Staaten wäre es nicht hinnehmbar, wenn das Handeln ihrer Behörden von den Gerichten eines ausländischen Staats geahndet werden könnte und der Letztere ihnen Weisungen erteilte, wie sie ihre nationalen Register zu führen hätten(52).

62.      Zum anderen stellen Patentverletzungsverfahren insbesondere die Arbeitsweise der Verwaltung des Eintragungsstaats nicht in Frage, selbst wenn die Ungültigkeit des angeblich verletzten Patents im Wege der Einrede geltend gemacht wird. Diese Frage wird dort vom Gericht als Vorfrage geprüft, jedoch nur zum Zweck der Entscheidung über die Frage der Patentverletzung. Die einzige mögliche Folge, die eintreten kann, ist, dass das Gericht die Patentverletzungsklage abweist. Eine solche Entscheidung betrifft die privaten Interessen der Streitparteien und hat dementsprechend im Allgemeinen nur Wirkungen inter partes(53). Sie kann nicht in die Souveränität des Eintragungsstaats eingreifen, da sie weder Auswirkungen auf seine Verwaltung hat noch den Anschein solcher Wirkungen entfaltet. Die Gültigkeit des Patents bleibt in rechtlicher Hinsicht unberührt. Dieser Verwaltung wird von keinem Gericht eines anderen souveränen Staats eine Weisung erteilt.

2.      Richtige Auslegung des Urteils GAT

63.      Aus all diesen Gründen ist das Urteil GAT meines Erachtens (und nach der Mehrheitsmeinung der von mir herangezogenen Literatur)(54) eine unglückliche Entscheidung. Beruhte die dort vertretene Lösung allein auf dieser Entscheidung, hätte ich dem Gerichtshof empfohlen, sie aufzugeben und stattdessen festzustellen, dass die Regeln über ausschließliche Zuständigkeiten für Verfahren, welche die Gültigkeit von Patenten zum Gegenstand haben, keine Anwendung finden, wenn in einem Patentverletzungsverfahren eine Einrede der Ungültigkeit geltend gemacht wird, soweit das Urteil des angerufenen Gerichts nur Wirkungen inter partes entfaltet(55).

64.      Wie oben ausgeführt, hat der Unionsgesetzgeber dieses Urteil jedoch in Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung kodifiziert(56). Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts ist der Gerichtshof also in der von ihm einmal gewählten Lösung „gefangen“. Ihm bleibt, auf Ersuchen des vorlegenden Gerichts, die Wahl zwischen zwei möglichen Auslegungen des Urteils GAT (und seiner Kodifizierung), die dem zweiten bzw. dritten oben in Nr. 36 angeführten Ansatz entsprechen.

65.      Nach der ersten Auslegung, die von Electrolux vertreten wird und die ich als „weite“ Auslegung bezeichnen werde, sind (oder werden) die Gerichte des Mitgliedstaats der Eintragung in dem Fall, dass die Ungültigkeit im Wege der Einrede im Patentverletzungsverfahren geltend gemacht wird, nach Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung für die Entscheidung über dieses Verfahren ausschließlich zuständig. Jedes andere Gericht muss sich nach Art. 27 dieser Verordnung für unzuständig erklären.

66.      Nach der zweiten Auslegung, die von der Kommission vertreten wird und die ich als „enge“ Auslegung bezeichnen werde, haben die Gerichte des Mitgliedstaats der Eintragung in dem Fall, dass die Ungültigkeit im Wege der Einrede im Patentverletzungsverfahren geltend gemacht wird, nach Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung eine ausschließliche Zuständigkeit nur für die Entscheidung über die Frage der Gültigkeit. Andere Gerichte könnten nach den allgemeinen Regeln dieser Verordnung die Zuständigkeit für die Entscheidung über das Patentverletzungsverfahren haben (oder behalten).

67.      Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts sind diesem keine klaren Hinweise darauf zu entnehmen, welche Auslegung die richtige sein soll. Erstens erscheint, wie von Electrolux vorgetragen, die „weite“ Auslegung des Tenors des Urteils GAT und des Wortlauts von Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung zwar naheliegender(57), diese Gesichtspunkte lassen sich jedoch in sinnvoller Weise auch „eng“ auslegen. Zwar hat der Gerichtshof in jenem Urteil festgestellt, dass die streitige Regel der ausschließlichen Zuständigkeit „alle Arten von Rechtsstreitigkeiten über … die Gültigkeit eines Patents betrifft“, er hat jedoch nicht angegeben, in welchem Umfang dies gilt. Diese Formulierung ist ganz einfach nicht eindeutig. Zweitens lässt sich auch in der späteren Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Stütze für die eine oder die andere Auslegung des Urteils finden, da sie insoweit widersprüchliche Aussagen enthält. Zum einen hat der Gerichtshof, wie von Electrolux vorgetragen, in seinem Urteil BVG anscheinend die „weite“ Auslegung bestätigt(58). Zum anderen hat der Gerichtshof, wie von der Kommission hervorgehoben, im Urteil Roche Nederland u. a. offenbar die „enge“ Auslegung bestätigt(59). Schließlich hat der Gesetzgeber hierzu im Wortlaut von Art. 24 Nr. 4 oder in den Erwägungsgründen der Verordnung keine Stellung bezogen(60).

68.      Um den Streit aufzulösen, sind daher die mit der Brüssel‑Ia-Verordnung eingeführte Systematik sowie die mit diesem Rechtsakt im Allgemeinen und mit Art. 24 Nr. 4 der Verordnung im Besonderen verfolgten Ziele heranzuziehen. Im Licht dieser Gesichtspunkte sollte der Gerichtshof die „weite“ Auslegung des Urteils GAT zurückweisen (Teil a) und stattdessen der „engen“ Auslegung folgen (Teil b). Er sollte den nationalen Gerichten ferner bestimmte Leitlinien dafür geben, wie diese Auslegung praktisch umzusetzen ist (Teil c).

a)      Kritische Mängel der „weiten“ Auslegung

69.      Erstens lässt sich die „weite“ Auslegung des Urteils GAT kaum mit der durch die Brüssel‑Ia-Verordnung eingeführten Systematik in Einklang bringen. In diesem System soll nach dem Willen seiner Urheber die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des Staats der Eintragung eine Ausnahme sein, die auf „Verfahren, welche die Eintragung oder die Gültigkeit von Patenten … zum Gegenstand haben“, beschränkt ist, während Patentverletzungsverfahren und sonstige Patentrechtsstreitigkeiten normalerweise vor anderen Gerichten anhängig gemacht werden können.

70.      Wäre das Urteil GAT indes in dem von Electrolux vertretenen Sinne zu verstehen, würde, wie von der Kommission vorgetragen, vielmehr die Ausnahme zur Regel. Da in Patentverletzungsverfahren häufig Einreden der Ungültigkeit erhoben werden, würden solche Verfahren vielfach in die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des Staats der Eintragung fallen. Die Anwendung der allgemeinen Zuständigkeitsregeln sowie die Wahlmöglichkeiten, die sie Patentinhabern eröffnen, würden auf die Fälle beschränkt, in denen ein solches Verteidigungsmittel nicht geltend gemacht wird.

71.      Zweitens würde entgegen dem Vorbringen von Electrolux angesichts dessen, dass die Einstufung von Patentverletzungsverfahren und somit die auf sie anwendbaren Zuständigkeitsregeln (im Widerspruch zu dem oben in Nr. 42 genannten Grundsatz) davon abhängen würden, ob eine Ungültigkeitseinrede erhoben wird oder nicht, die „weite“ Auslegung des Urteils GAT die mit der Brüssel‑Ia-Verordnung angestrebte Vorhersehbarkeit und Sicherheit der Zuständigkeit beeinträchtigen(61).

72.      Die Vorhersehbarkeit der Zuständigkeit für Patentverletzungsverfahren setzt nämlich voraus, dass Patentinhaber ohne Weiteres ermitteln können, bei welchem Gericht sie ein solches Verfahren anhängig machen können. Im Fall der „weiten“ Auslegung des Urteils GAT wäre es für sie jedoch schwierig, im Vorhinein zu bestimmen, ob ein solches Verfahren in die ausschließliche Zuständigkeit des Eintragungsstaats fällt oder vor anderen Gerichten anhängig gemacht werden kann, da sie keinen Einfluss auf die Verteidigungsstrategie haben, die der angebliche Patentverletzer verfolgen wird(62).

73.      Entschiede der Patentinhaber sich dafür, eine Klage außerhalb des Eintragungsstaats zu erheben, z. B. vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem der angebliche Patentverletzer seinen Wohnsitz hat, wäre die Zuständigkeit dieser Gerichte zudem unsicher. Sie könnte nämlich entfallen, wenn der angebliche Patentverletzer eine Einrede der Ungültigkeit erheben sollte. Diese Gerichte müssten eine Fortsetzung des Verfahrens ablehnen(63). Wenn ein solches Verteidigungsmittel nach den Verfahrensregelungen des Gerichtsstands nicht nur zu Beginn des Rechtsstreits, sondern auch in weiteren, späteren Phasen, einschließlich der Rechtsmittelinstanz, geltend gemacht werden kann, könnte ein Verfahren, das monate- oder gar jahrelang geführt wurde, unvermittelt in eine Sackgasse geraten. Der angebliche Patentverletzer könnte den Zeitpunkt für die Geltendmachung eines solchen Verteidigungsmittels auch strategisch auswählen und das Verfahren wirksam „torpedieren“. Wie von BSH und der Kommission vorgetragen, wären die Folgen für den Patentinhaber dramatisch. Beim gegenwärtigen Stand der Brüssel‑Ia-Verordnung haben die Gerichte eines Mitgliedstaats nämlich nach der Verordnung keine Möglichkeit, ein Verfahren an die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats zu verweisen. Die ursprünglich angerufenen Gerichte könnten das Verfahren nur einstellen und es dem Kläger überlassen, ein neues Verfahren im Eintragungsstaat anhängig zu machen.

74.      Damit nicht genug, könnte dies dem Patentinhaber gar nicht mehr möglich sein. Die für die Patentverletzungsansprüche geltenden Verjährungsfristen könnten nämlich zwischenzeitlich abgelaufen sein. Dem Patentinhaber würde letztlich ohne eigenes Verschulden jede Möglichkeit eines Rechtsschutzes gegen die Verletzung seiner Rechte des geistigen Eigentums genommen. Ein solches Ergebnis widerspräche Art. 17 Abs. 2 und Art. 47 der Charta sowie Art. 41 Abs. 2 des TRIPS-Übereinkommens.

75.      Selbst wenn diese Möglichkeit dem Patentinhaber noch offenstände, müsste er im Fall einer „mehrstaatlichen“ Verletzung eines europäischen Patents in allen betroffenen Staaten Patentverletzungsverfahren anhängig machen, um vollständigen Rechtsschutz zu erhalten(64). Es wäre nicht möglich, die Klagen an einem einzigen Gerichtsstand zu bündeln. Es könnte eine ganze Reihe von Gerichten an im Wesentlichen ein und demselben Rechtsstreit beteiligt werden, was die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen erhöht, wie oben in Nr. 54 erwähnt.

76.      Schließlich geht, entgegen dem Vorbringen von Electrolux, die „weite“ Auslegung des Urteils GAT über das hinaus, was zur Erreichung des konkreten Ziels von Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung „erforderlich“ ist, nämlich, wie oben in den Nrn. 60 und 61 erwähnt, die Souveränität des Staats der Eintragung zu achten. Selbst bei einem weiten Verständnis könnte (im Fall der Erhebung einer Ungültigkeitseinrede im Patentverletzungsverfahren) für dieses Ziel lediglich „erforderlich“ sein, dass die Gerichte dieses Staats die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über die Frage der Gültigkeit haben, nicht aber über diejenige der Patentverletzung.

b)      Die „enge“ Auslegung des Urteils GAT ist „das kleinere Übel“

77.      Die „enge“ Auslegung des Urteils GAT erzielt unter sämtlichen der oben erörterten Gesichtspunkte deutlich bessere Ergebnisse. Grundsätzlich bleibt es dabei, dass für Patentverletzungsverfahren die allgemeinen Regeln der Brüssel‑Ia-Verordnung gelten. Somit ist die Zuständigkeit für den Patentinhaber vorhersehbar und sicher. Erhebt er außerhalb des Eintragungsstaats Klage und erhebt der angebliche Patentverletzer eine Einrede der Ungültigkeit, verlieren die angerufenen Gerichte ihre Zuständigkeit für die Entscheidung über die Klage nicht. Diese Gerichte können „lediglich“ nicht über die Gültigkeit des betreffenden Patents oder der betreffenden Patente entscheiden, über die nach der Ausnahmeregelung in Art. 24 Nr. 4 dieser Verordnung nur von den Gerichten(65) des Eintragungsstaats entschieden werden kann. Außerdem lässt diese Auslegung im Fall einer „mehrstaatlichen“ Verletzung eines europäischen Patents eine partielle Bündelung von Klagen an einem einzigen Gerichtsstand zu. Nur über die Gültigkeit des Patents müsste, wenn sie bestritten wird, in den verschiedenen Staaten, für die es erteilt wurde, entschieden werden.

78.      Wie von der Kommission vorgetragen, folgt aus dieser Auslegung des Urteils GAT, dass vom Gerichtshof eine Ausnahme von dem nach dem Brüsseler System geltenden Grundsatz zugelassen wird, dass die Zuständigkeit für die Entscheidung über eine Klage sich auf jede mögliche Verteidigung erstreckt (siehe oben, Nr. 43). Allerdings ist eine solche Ausnahme, auch wenn sie innerhalb dieses Systems einmalig ist, nichts gänzlich Neues. Ähnliche Ausnahmen gibt es nämlich in den Regeln über die örtliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für bestimmte Gegenstände, für die eine ausschließliche Zuständigkeit nach nationalem Recht besteht(66).

79.      Praktisch betrachtet, obliegt es folglich dann, wenn ein Patentverletzungsverfahren betreffend ein in einem Mitgliedstaat eingetragenes Patent vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats anhängig ist und eine Einrede der Ungültigkeit erhoben wird, in Anbetracht des Umstands, dass diese Gerichte weder über die Frage der Gültigkeit entscheiden können, noch (nach derzeitigem Stand der Brüssel‑Ia-Verordnung) eine Zwischenfrage hierzu an die Behörden des Eintragungsstaats richten können, dem angeblichen Patentverletzer (wenn er dies nicht bereits getan hat), ein Ungültigkeitsverfahren vor diesen Behörden einzuleiten, so dass Letztere über diese Frage entscheiden können(67).

80.      Electrolux wendet nicht unberechtigt ein, dass die „Trennung“ zwischen der Frage der Patentverletzung und derjenigen der Gültigkeit in zwei, in verschiedenen Mitgliedstaaten eingeleitete Verfahren unter dem Gesichtspunkt der Rechtspflege fragwürdig sei. Diese Fragen stehen nämlich miteinander in engem Zusammenhang(68). Wie oben in Nr. 44 erläutert, muss die Vorfrage der Gültigkeit des Patents grundsätzlich geklärt werden, um über die Hauptfrage der Patentverletzung zu entscheiden. Abgesehen davon, dass das Recht des Eintragungsstaats für beide Fragen gilt, hängen diese zudem im Wesentlichen von demselben Gesichtspunkt ab, nämlich der Auslegung der Patentansprüche(69).

81.      Auch wenn es, praktisch betrachtet, nicht immer ideal ist, dass über die Fragen der Gültigkeit und der Verletzung von verschiedenen Gerichten und/oder Behörden entschieden wird(70), ist dies meines Erachtens jedoch auch nicht unmöglich. Auf nationaler Ebene haben nämlich mehrere Mitgliedstaaten, offenbar auch Schweden(71), ein „Trennsystem“ für die Patentgerichtsbarkeit eingeführt, nach dem über diese Fragen von verschiedenen Richtern in einem gesonderten, speziellen Verfahren entschieden wird(72).

82.      Auch wenn Gültigkeit und Verletzung in dieser Weise voneinander „getrennt“ werden müssen, folgt daraus nicht, wie Electrolux meint, dass das mit dem Verfahren befasste Gericht, wenn im Rahmen eines Patentverletzungsverfahrens eine Ungültigkeitseinrede erhoben wird, diese Verteidigung grundsätzlich außer Acht lassen müsste, oder auch nur dürfte, die Gültigkeit des Patents vermuten und in der Frage der Patentverletzung, ungeachtet des gegebenenfalls parallel in einem anderen Mitgliedstaat anhängigen Ungültigkeitsverfahrens, eine endgültige Entscheidung erlassen dürfte.

83.      Wie von BSH und der Kommission vorgetragen, kann Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung nämlich nicht in dieser Weise ausgelegt werden. Andernfalls würde einem angeblichen Patentverletzer eine der wirksamsten Formen des Schutzes vor missbräuchlichen Patentverletzungsklagen vollständig genommen. Dies würde eine unzulässige Beschränkung seiner Verteidigungsrechte darstellen, die u. a. durch Art. 47 der Charta garantiert sind und die mit dem Brüsseler System gewährleistet werden sollen(73).

84.      Ferner könnte dies in bestimmten Fällen zu einander widersprechenden gerichtlichen Entscheidungen führen. Es könnten nämlich einerseits die mit dem Patentverletzungsverfahren befassten Gerichte die Patentverletzung feststellen, während andererseits die Behörden des Staats der Eintragung das Patent später für nichtig erklären könnten. Ebenso könnten Letztere die Gültigkeit des Patents bestätigen, aber unter Zugrundelegung einer engen Auslegung der Patentansprüche (nach der die Feststellung einer Patentverletzung regelmäßig ausgeschlossen wäre), während die mit dem Patentverletzungsverfahren befassten Gerichte die Patentverletzung unter Zugrundelegung einer weiten Auslegung der Patentansprüche bejahen könnten (nach der das über die Gültigkeit befindende Gericht zu dem Ergebnis gekommen wäre, das Patent für nichtig zu erklären)(74).

85.      Wie im nächsten Abschnitt näher erläutert, gibt es Fälle, in denen die mit dem Patentverletzungsverfahren befassten Gerichte die Gültigkeit des Patents ungeachtet einer Ungültigkeitseinrede vermuten und entsprechend entscheiden dürften. In anderen Fällen müssen diese Gerichte jedoch zur Wahrung der Verteidigungsrechte warten, bis über die Gültigkeit des Patents von den Behörden des Eintragungsstaats entschieden worden ist, bevor sie eine endgültige parallele Entscheidung über die Patentverletzung erlassen(75).

86.      Es müssen also bisweilen prozessleitende Verfügungen und/oder Maßnahmen ergriffen werden, um die Koordinierung zwischen Patentverletzungs- und Ungültigkeitsverfahren zu gewährleisten. Electrolux trägt hierzu vor, dass weder in der Brüssel‑Ia-Verordnung noch im Unionsrecht im Allgemeinen hierfür eine Lösung vorgesehen sei. Konkret könnten die mit dem Patentverletzungsverfahren befassten Gerichte nach Art. 30 Abs. 1 dieser Verordnung dieses Verfahren aussetzen, bis die Behörden des Eintragungsstaats über die Gültigkeit des Patents entschieden haben, aber nur, wenn Letztere zuerst angerufen wurden. Im Fall eines späteren Ungültigkeitsverfahrens sieht diese Bestimmung keine Regelung vor. Wie von BSH und der Kommission vorgetragen, sind die mit der Patentverletzung befassten Gerichte jedoch bis zum Erlass einer entsprechenden Regelung durch den Unionsgesetzgeber(76) befugt, und bisweilen verpflichtet, die nach ihrem Prozessrecht vorgesehenen Lösungen (lex fori) anzuwenden.

87.      Electrolux entgegnet, eine solche Berufung auf das nationale Verfahrensrecht stelle eine Gefahr für die einheitliche Behandlung von Verfahren und Streitparteien in den Mitgliedstaaten dar, da verschiedene Gerichte möglicherweise über verschiedene Befugnisse verfügten oder sie möglicherweise unterschiedlich anwendeten. Hierin liegt meines Erachtens jedoch ein weiterer unvermeidlicher Nachteil des Urteils GAT. Außerdem wird dies auch nicht in vollem Umfang dem nationalen Recht überlassen. Wie im nächsten Abschnitt näher erläutert, wird Letzteres durch das Unionsrecht erheblich mitgestaltet, um ein hinreichendes Maß an Einheitlichkeit zu gewährleisten.

88.      Schließlich wird häufig die Ansicht vertreten, dass die „enge“ Auslegung des Urteils GAT auch für die wirksame Durchsetzung von Patenten nicht ideal sei. Die „Trennung“ zwischen den Fragen der Gültigkeit und der Patentverletzung in zwei Arten von Verfahren erhöhe die Kosten und den Aufwand für die Parteien. Die für die mit dem Patentverletzungsverfahren befassten Gerichte in bestimmten Fällen bestehende Notwendigkeit, eine Antwort der Behörden des Eintragungsstaats zur Frage der Gültigkeit abzuwarten, könne dieses Verfahren potenziell verzögern, während in der Regel aus Sicht des Patentinhabers dringend geboten sei, dass die betreffende Patentverletzung geahndet und untersagt werde(77). Sie könne angebliche Patentverletzer möglicherweise auch dazu veranlassen, „Torpedo“-Einreden zu erheben oder die Einleitung und Durchführung des Ungültigkeitsverfahrens zu verzögern, um das Patentverletzungsverfahren zu behindern. Zwar stimme ich mit diesen Einwänden (wie in Abschnitt 1 ausgeführt) grundsätzlich überein, unter den beiden, nach dem Urteil GAT verbliebenen möglichen Ansätzen bleibt sie jedoch das „kleinere Übel“. Außerdem lassen sich die vorstehend skizzierten Aspekte, wie nachstehend erörtert, mit pragmatischen Maßnahmen begrenzen.

c)      Praktische Leitlinien für die nationalen Gerichte

89.      In der mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten auf Nachfrage des Gerichtshofs erörtert, wie Gerichte außerhalb des Eintragungsstaats vorgehen sollten, wenn sie mit einem Patentverletzungsverfahren befasst sind und eine Ungültigkeitseinrede erhoben wird. Auch wenn dies, wie oben erörtert, in erster Linie eine Frage des Verfahrensrechts dieser Gerichte ist, ist der Gerichtshof meines Erachtens befugt, hierzu Leitlinien aufzustellen. Diese Verfahrensvorschriften dürfen nämlich nach ständiger Rechtsprechung die praktische Wirksamkeit der Brüssel‑Ia-Verordnung nicht beeinträchtigen und sind entsprechend anzuwenden(78). Auch durch die im TRIPS-Übereinkommen und in der Richtlinie 2004/48 aufgestellten Grundsätze sowie, was den Patentinhaber betrifft, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, auf Seiten des angeblichen Patentverletzers, die Verteidigungsrechte, die jeweils durch Art. 47 der Charta geschützt sind, wird das nationale Recht insoweit mitgestaltet.

90.      Wird eine Ungültigkeitseinrede vom angeblichen Patentverletzer (ordnungsgemäß)(79) erhoben, läge eine Lösung, die häufig im Schrifttum vertreten wird und vor dem Gerichtshof erörtert worden ist, darin, dass die mit dem Patentverletzungsverfahren befassten Gerichte, soweit sie hierzu nach ihrem Verfahrensrecht befugt sind (was nach meiner Vermutung in der Regel der Fall ist)(80), das Verfahren aussetzen, bis über die Gültigkeit des betreffenden Patents von den Behörden des Eintragungsstaats entschieden worden ist(81).

91.      Auch wenn dies in der Tat eine Lösung ist, stimme ich mit BSH darin überein, dass diese Gerichte eine Aussetzung nicht automatisch vornehmen sollten. Sie müssen die Frage vielmehr vorher wegen der (potenziell erheblichen) Verzögerungen, die eine solche Maßnahme für die Entscheidung über das Patentverletzungsverfahren unvermeidlich mit sich bringen würde, sorgfältig prüfen. Eine Aussetzung darf nur erfolgen, wenn sie nach Art. 3 der Richtlinie 2004/48 und Art. 41 des TRIPS-Übereinkommens verhältnismäßig und fair ist und solche Verzögerungen „gerechtfertigt“ sind. Diesen Gerichten ist daher der Beurteilungsspielraum einzuräumen, die Erfordernisse der Verfahrensökonomie und das Recht des Patentinhabers auf einen wirksamen Rechtsbehelf einerseits gegen die geordnete Rechtspflege und die Verteidigungsrechte des angeblichen Patentverletzers andererseits abzuwägen.

92.      Insbesondere müssen, wie von BSH und der Kommission vorgetragen, die mit dem Patentverletzungsverfahren befassten Gerichte zunächst die Gewichtigkeit des Ungültigkeitsvorbringens prüfen. Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung verwehrt ihnen meines Erachtens nicht, eine vorläufige Beurteilung vorzunehmen, wie die Behörden des Eintragungsstaats in der Sache entscheiden werden(82). Insoweit dürfen diese Gerichte eine Aussetzung nur dann in Erwägung ziehen, wenn dieses Vorbringen wirklich Aussicht auf Erfolg hat. Da Patente nämlich nach vorheriger Prüfung des Erfordernisses der Patentierbarkeit durch die Patentämter erteilt werden, gilt für sie eine Vermutung der Gültigkeit. Daher müssen die vom angeblichen Patentverletzer vorgebrachten Gründe prima facie hinreichend schlüssig erscheinen, um diese Vermutung in Frage zu stellen. Ist dies nicht der Fall, können die Gerichte die Gültigkeit des Patents vermuten und entsprechend über die Patentverletzung entscheiden. Auch unter dem Aspekt der Verfahrensökonomie und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf des Patentinhabers wäre es wenig sinnvoll, das Patentverletzungsverfahren im Fall von missbräuchlichen Ungültigkeitseinreden zu verzögern. Es besteht ferner keine Gefahr (oder zumindest eine vernachlässigbare Gefahr) einander widersprechender Entscheidungen, da (vernünftigerweise) nicht damit zu rechnen ist, dass die Behörden des Eintragungsstaats das Patent später für nichtig erklären(83). Eine solche Prüfung begrenzt auch die Möglichkeit der Patentverletzer, als Verzögerungstaktik konstruierte Einreden zu erheben(84).

93.      Bei gewichtigen Ungültigkeitseinreden müssen die mit dem Patentverletzungsverfahren befassten Gerichte eine Aussetzung vornehmen. In diesem Fall machen die Verteidigungsrechte dies nämlich in der Regel erforderlich(85). Gleiches gilt für die geordnete Rechtspflege, da die oben erörterte Gefahr einander widersprechender Entscheidungen erheblich wäre. Wie von der Kommission vorgetragen, müssen diese Gerichte jedoch, um die Verfahrensökonomie zu gewährleisten und, wiederum, einer Verzögerungstaktik des angeblichen Patentverletzers vorzubeugen, dem Letzteren eine Frist für die Einleitung eines Ungültigkeitsverfahrens im Staat der Eintragung setzen (wenn sie dies noch nicht getan haben). Leitet der angebliche Patentverletzer kein Verfahren ein, müssen diese Gerichte die Aussetzung aufheben, die Gültigkeit des Patents unterstellen und über die Patentverletzung entscheiden. Wurde eine Aussetzung vorgenommen, müssen diese Gerichte den Verlauf des Ungültigkeitsverfahrens verfolgen und entsprechend über eine weitere Aussetzung oder eine Aufhebung der Aussetzung entscheiden.

94.      Schließlich sind die mit dem Patentverletzungsverfahren befassten Gerichte für die Dauer der Aussetzung in keiner Weise daran gehindert, einstweilige Maßnahmen, einschließlich Sicherungsmaßnahmen, wie etwa eine einstweilige Anordnung, mit der die Fortsetzung potenziell rechtsverletzender Handlungen untersagt wird (wiederum je nach der Gewichtigkeit des Ungültigkeitsvorbringens) zu erlassen(86). Diese Möglichkeit wurde nämlich vom Gerichtshof im Urteil Solvay(87) ausdrücklich vorbehalten; von ihr ist Gebrauch zu machen, soweit dies zur Wahrung der Rechte des Patentinhabers verhältnismäßig ist.

B.      „Reflexive Wirkung“ von Art. 24 Nr. 4 (dritte Frage)

95.      Aus Abschnitt A der vorliegenden Schlussanträge folgt, dass die schwedischen Gerichte zwar nach Art. 4 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung für die Entscheidung über die von BSH erhobene Patentverletzungsklage zuständig sind, aber nicht über die Gültigkeit der angeblich verletzten Teile des europäischen Patents entscheiden können. Nach Art. 24 Nr. 4 dieser Verordnung sind für die Entscheidung über diese Frage die Gerichte der verschiedenen Mitgliedstaaten, in denen diese Teile validiert wurden, ausschließlich zuständig.

96.      Da die von BSH erhobene Klage allerdings auch auf den Teil dieses europäischen Patents gestützt ist, der in der Türkei validiert wurde und dieser von Electrolux angefochten wird, möchte das vorlegende Gericht mit seiner dritten Frage wissen, ob Art. 24 Nr. 4 dieser Verordnung „auf ein Gericht eines Drittstaats Anwendung findet“, d. h. ob danach im Ausgangsverfahren für diese Frage die türkischen Gerichte „ausschließlich zuständig“ sind.

97.      Wörtlich verstanden, erscheint die Antwort auf diese Frage offenkundig. Als Bestandteil des Unionsrechts ist die Brüssel‑Ia-Verordnung für die Mitgliedstaaten verbindlich. Sie regelt die Zuständigkeit ihrer Gerichte. Dieser Rechtsakt kann keinesfalls irgendeine Form von Zuständigkeit der Gerichte von Drittstaaten begründen. Die Europäische Union hat hierzu keine Befugnis. Die Zuständigkeit dieser drittstaatlichen Gerichte hängt von ihren eigenen Regeln des internationalen Privatrechts ab.

98.      Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, kann der Gerichtshof sich gleichwohl nicht auf diese selbstverständliche Feststellung beschränken. Im Kontext des Ausgangsverfahrens betrachtet, bezieht die dritte Frage sich eindeutig im Wesentlichen nicht auf die positive, zuständigkeitsbegründende Wirkung von Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung, sondern auf seine negative, zuständigkeitsentziehende Wirkung. In Wirklichkeit geht es um die Frage, ob diese Bestimmung den Gerichten der Mitgliedstaaten die Befugnis zur Entscheidung über die Gültigkeit drittstaatlicher Patente ebenso entzieht, wie dies für in anderen Mitgliedstaaten eingetragene Patente der Fall ist.

99.      Wie von der französischen Regierung vorgetragen, wirft diese Frage, wenn sie in diesem Sinne verstanden wird, eine übergreifende Frage auf, deren Bedeutung über den Rahmen der vorliegenden Rechtssache deutlich hinausgeht. Sie kann sich nämlich in Bezug auf jeden der Gegenstände stellen, für die Art. 24 der Brüssel‑Ia-Verordnung eine Regel der ausschließlichen Zuständigkeit vorsieht. Was ist beispielsweise, wenn die Gerichte der Mitgliedstaaten mit einer Klage befasst sind, die die Gültigkeit dinglicher Rechte an unbeweglichen Sachen (im Sinne von Art. 24 Nr. 1 der Verordnung) zum Gegenstand hat, diese Sache aber in China belegen ist? Dieselbe Frage kann sich auch in Bezug auf Vereinbarungen über einen ausschließlichen Gerichtsstand stellen. Bezeichnet eine solche Vereinbarung die Gerichte eines Mitgliedstaats, ist nach einer anderen Bestimmung dieser Verordnung, nämlich Art. 25, jedem anderen Gericht die Zuständigkeit entzogen. Was ist jedoch, wenn die Gerichte eines Mitgliedstaats trotz einer entsprechenden Vereinbarung zugunsten der Gerichte eines Drittstaats angerufen werden?

100. Die Antwort auf diese Frage ist dagegen sehr unklar. Sie hat vielmehr in der Lehre und vor den nationalen Gerichten zu erheblichen Diskussionen geführt. Eine klare und umfassende Stellungnahme des Gerichtshofs gibt es bislang nicht. Wie in den nächsten Abschnitten eingehend erläutert, ergibt sich die Komplexität der Frage daraus, dass das Brüsseler System, was seinen räumlichen Anwendungsbereich betrifft, unter etwas leidet, was ich als „Gestaltungsmangel“ bezeichnen würde (1), so dass eine eingehendere Auseinandersetzung damit erforderlich wird, welches der beste Weg zum „Schließen der Lücken“ dieses Systems in Bezug auf diese Fallgestaltungen ist (2).

1.      „Gestaltungsmangel“ des Brüsseler Systems

101. Der vorgenannte „Gestaltungsmangel“ ergibt sich aus einem Paradoxon. Einerseits fallen in den räumlichen Anwendungsbereich der Brüssel‑Ia-Verordnung eindeutig auch Rechtsstreitigkeiten, die starke Bezüge zu Drittstaaten aufweisen. Nach Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung in ihrer Auslegung durch das Grundsatzurteil Owusu(88) ist diese Verordnung nämlich räumlich auf jede grenzüberschreitende Streitigkeit anwendbar, wenn der Beklagte, wie Electrolux in der vorliegenden Rechtssache, seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat; erfasst sind nicht nur „unionsinterne“ Rechtsstreitigkeiten. Rechtsstreitigkeiten, die über den Sitz dieser Partei hinaus mit Drittstaaten verbunden sind, sind, auch wenn der Gegenstand mit einem solchen Staat in engem Zusammenhang steht oder wenn es eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten drittstaatlicher Gerichte gibt, ebenfalls umfasst(89). Grundsätzlich fällt eine Rechtssache nach Art. 6 Abs. 1 nur dann nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung, wenn der Beklagte keinen Wohnsitz in der Europäischen Union hat.

102. Andererseits ist das Brüsseler System eigentlich nicht für Rechtsstreitigkeiten mit Bezug zu Drittstaaten ausgestaltet. Dieses System wurde größtenteils mit Blick auf „unionsinterne“ Rechtsstreitigkeiten konzipiert. Die Art. 24 und 25 der Brüssel‑Ia-Verordnung belegen dies eindeutig. Der Wortlaut der erstgenannten Bestimmung beschränkt ihren Anwendungsbereich auf Rechtsstreitigkeiten, deren Gegenstand mit einem „Mitgliedstaat“ in engem Zusammenhang steht. Die zweite bezieht sich auf Gerichtsstandsvereinbarungen nur in Bezug auf „die Gerichte eines Mitgliedstaats“. Die Fallgestaltung von Rechtsstreitigkeiten, die entsprechende Verbindungen zu Drittstaaten haben, wurde bei der Ausarbeitung dieser Regeln nicht vorgesehen. Folglich schweigt dieses System allgemein dazu, wie sich solche Verbindungen auf die Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten gegebenenfalls auswirken sollen(90).

2.      „Schließen der Lücken“ des Brüsseler Systems

103. Wird ein mitgliedstaatliches Gericht mit einem Rechtsstreit befasst, an dem einerseits ein Beklagter aus der Union beteiligt ist, der aber andererseits einen starken Bezug zu einem Drittstaat aufweist (weil er einen Gegenstand betrifft, der mit diesem Staat in engem Zusammenhang steht, oder weil für ihn eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten seiner Gerichte gilt), stellt sich durch das allgemeine Schweigen der Brüssel‑Ia-Verordnung hierzu die Frage, wie dieses Gericht zu verfahren hat. Dem Schrifttum und der Erörterung, die in der vorliegenden Rechtssache vor dem Gerichtshof stattgefunden hat, lassen sich drei mögliche Antworten entnehmen.

104. Am einen Rand des Spektrums steht die erste Antwort, die von keinem der Beteiligten vor dem Gerichtshof vertreten worden ist, wonach die Art. 24 oder 25 der Brüssel‑Ia-Verordnung auf diese Fallgestaltung entsprechend anwendbar sein sollen. Demnach wäre einem Mitgliedstaat nach der einschlägigen Bestimmung die Zuständigkeit für die Entscheidung über einen solchen Rechtsstreit entzogen, so dass er das Verfahren einstellen müsste.

105. Am anderen Rand des Spektrums steht die zweite Antwort, die von BSH, (widerwillig) von der französischen Regierung(91) und von der Kommission vertreten wird, wonach stattdessen die allgemeinen Regeln dieser Verordnung anwendbar sein sollen. Die Folge wäre u. a., dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, nach Art. 4 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung die Zuständigkeit haben sollen. Ferner sollen sie zu ihrer Ausübung und somit zur Entscheidung über die Rechtssache, außer in bestimmten, eng begrenzten Fällen, verpflichtet sein.

106. Dazwischen steht eine dritte Antwort, die von Electrolux vertreten wird. Sie entspricht der Theorie der „reflexiven Wirkung“ (effet réflexe), die vor vielen Jahren von Droz entwickelt wurde(92). Im Kern soll danach ein Gericht eines Mitgliedstaats nach dieser Verordnung zwar die Zuständigkeit für einen Rechtsstreit, der solche Bezüge zu einem Drittstaat aufweist, haben können, es soll sich jedoch für unzuständig erklären können, soweit dies die darin vorgesehene Systematik „widerspiegelt“.

107. Meines Erachtens sind die beiden an den Rändern des Spektrums stehenden Ansichten abzulehnen und ist der vermittelnden Ansicht zu folgen. Wie in den folgenden Abschnitten erläutert, finden nämlich angesichts dessen, dass die Art. 24 und 25 unter diesen Umständen keinesfalls anwendbar sein können (a), stattdessen die allgemeinen Regeln der Verordnung Anwendung (b), ohne dass jedoch ein Gericht eines Mitgliedstaats verpflichtet sein kann, die ihm nach diesen Regeln in diesen Fällen zugewiesene Zuständigkeit auszuüben (c). Anschließend werde ich die Voraussetzungen klären, nach denen es sich zulässigerweise für unzuständig erklären kann (d).

a)      Die Art. 24 und 25 können keine Anwendung finden

108. Entgegen der von einem Teil des Schrifttums vertretenen Ansicht(93) können meines Erachtens die Art. 24 und 25 der Brüssel‑Ia-Verordnung eindeutig als solche auf Rechtsstreitigkeiten, die Bezüge der dort geregelten Art zu Drittstaaten haben, nicht anwendbar sein.

109. Eine solche Auslegung stände unmittelbar im Widerspruch zum ausdrücklichen Wortlaut dieser beiden Artikel, der sich, wie oben dargelegt, auf Rechtsstreitigkeiten, deren Gegenstand mit einem „Mitgliedstaat“ in engem Zusammenhang steht, und auf Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten der Gerichte eines „Mitgliedstaats“ beschränkt(94). Außerdem wäre, wie von BSH, der französischen Regierung und der Kommission vorgetragen, eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs dieser Vorschriften im Wege ihrer sinngemäßen Übertragung auf entsprechende Fallgestaltungen, an denen Drittstaaten beteiligt sind, mit dem Grundsatz der engen Auslegung von Ausnahmen unvereinbar. Im Übrigen hat der Gerichtshof dies bereits abgelehnt. Im Urteil IRnova hat er entschieden, dass, da Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung Rechtsstreitigkeiten über die Gültigkeit drittstaatlicher Patente „nicht regelt“, „diese Bestimmung [in dieser Situation] nicht als … anwendbar angesehen werden [kann]“ (und dies entsprechend auf alle Bestimmungen von Art. 24 übertragbar ist)(95). Ebenso hat der Gerichtshof im Urteil Coreck Maritime(96) zu der Art. 25 entsprechenden Vorschrift des Brüsseler Übereinkommens festgestellt, dass „[b]ereits nach dem Wortlaut des Artikels 17 [dieser] nicht auf eine [Gerichtsstandsvereinbarung] anwendbar ist, die als zuständiges Gericht ein Gericht eines Drittstaats bezeichnet“.

110. Außerdem ergibt, wie von der französischen Regierung vorgetragen, die mit den Art. 24 und 25 der Brüssel‑Ia-Verordnung eingeführte Systematik, wonach die Gerichte der Mitgliedstaaten verpflichtet sind, sich zugunsten der nach diesen Vorschriften berufenen Gerichte für unzuständig zu erklären, nur für „unionsinterne“ Streitigkeiten einen Sinn. In diesem Fall ist nach dieser Verordnung dann, wenn das eine Gericht nicht zuständig ist, das andere zuständig. Dies ist bei „externen“ Rechtsstreitigkeiten nicht der Fall. Wie bereits erwähnt, hängt die Zuständigkeit drittstaatlicher Gerichte von ihren eigenen Regeln des internationalen Privatrechts ab. Auch wenn diese Gerichte sich in der Regel als zuständig betrachten mögen, wenn der Gegenstand des Rechtsstreits mit ihrem Hoheitsgebiet in engem Zusammenhang steht oder ihre Zuständigkeit in einer Gerichtsstandsvereinbarung gewählt wurde, ist dies möglicherweise nicht immer der Fall. Würde den Gerichten der Mitgliedstaaten in einer solchen Situation die Zuständigkeit entzogen, käme es zu einer Rechtsverweigerung. Außerdem ist die strikte, nahezu automatische Verpflichtung der Gerichte der Mitgliedstaaten, Streitparteien nach den Art. 24 und 25 an andere Gerichte zu verweisen, durch das „gegenseitige Vertrauen“, das diese Staaten ihren Rechtspflegeorganen gegenseitig entgegenbringen, gerechtfertigt(97). Dieses „Vertrauen“ erstreckt sich nicht auf Drittstaaten. Es kann nicht vermutet werden, dass die Parteien in einem solchen Staat ein faires Verfahren erhalten würden. In bestimmten Fällen kann dies sogar ausgeschlossen sein.

b)      Stattdessen finden die allgemeinen Regeln der Verordnung Anwendung

111. Wie von BSH, Electrolux, der französischen Regierung und der Kommission vorgetragen, ergibt sich, da die Art. 24 und 25 der Brüssel‑Ia-Verordnung auf Rechtsstreitigkeiten, die Bezüge der dort geregelten Art zu Drittstaaten haben, nicht anwendbar sind, nach der mit dieser Verordnung eingeführten Systematik folgerichtig, dass stattdessen die allgemeinen Regeln Anwendung finden. Daraus folgt u. a., dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, nach Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung für die Entscheidung über einen solchen Rechtsstreit zuständig sind.

112. Diese systematische Auslegung wird durch mehrere, zu den Brüsseler Rechtsakten ergangene offizielle Berichte bestätigt(98). Vor allem aber ist sie vom Gerichtshof (Plenum) in seinem Gutachten 1/03 (Neues Übereinkommen von Lugano) implizit (aber ganz eindeutig) bestätigt worden(99). Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache genügt der Hinweis, dass es in jener Entscheidung um die Frage ging, ob die Europäische Union die ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluss des Lugano‑II-Übereinkommens hatte, was wiederum davon abhing, ob Letzteres das Brüsseler System „beeinträchtigte“(100). Der Gerichtshof bejahte dies. Er stellte fest, dass bei Rechtsstreitigkeiten, an denen ein Beklagter beteiligt ist, der seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat, die aber mit einem Drittstaat in engem Zusammenhang stehen, der Partei dieses Übereinkommens ist, oder für den eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten seiner Gerichte gilt, das künftige Übereinkommen dem Drittstaat eine ausschließliche Zuständigkeit zuweist(101), während nach dieser Verordnung die Gerichte dieses Mitgliedstaats zuständig gewesen wären(102).

c)      Die Gerichte der Mitgliedstaaten können zur Ausübung der ihnen nach den allgemeinen Regeln der Verordnung zugewiesenen Zuständigkeit nicht verpflichtet sein

113. Auch wenn die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, nach Art. 4 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung insbesondere die Zuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten mit solchen Bezügen zu Drittstaaten haben, stimme ich allerdings mit der von BSH, der französischen Regierung und der Kommission vertretenen Ansicht nicht überein, dass diese Gerichte zur Ausübung dieser Zuständigkeit, außer in bestimmten, eng begrenzten Fallgruppen, verpflichtet seien. Dieser Ansatz ist meines Erachtens weder durch den Wortlaut dieser Verordnung und die hierzu ergangene Rechtsprechung geboten (1), noch steht er mit den Zielen des Brüsseler Systems im Einklang (2). Der Umstand, dass internationale Übereinkommen in bestimmten Situationen die sich aus dieser Auslegung ergebenden Schwierigkeiten ausgleichen könnten, kann keine Rechtfertigung dafür sein, ihr zu folgen (3); Gleiches gilt für die angebliche Absicht des Unionsgesetzgebers (4).

1)      Wortlaut der Verordnung und hierzu ergangene Rechtsprechung

114. Das von BSH, der französischen Regierung und der Kommission angeführte Hauptargument stützt sich auf den Wortlaut der Brüssel‑Ia-Verordnung. Aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung („Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, … vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen“) ergebe sich, dass die Zuständigkeit nach dieser Bestimmung grundsätzlich zwingend sei. Er bedeute, dass die Gerichte dieses Staats, wenn sie angerufen würden, im Allgemeinen zur Entscheidung über den Rechtsstreit verpflichtet seien. Zudem sei der Gerichtshof im Urteil Owusu zu der entsprechenden Bestimmung des Brüsseler Übereinkommens (Art. 2) streng der Auffassung gewesen, dass „von der dort aufgestellten grundsätzlichen Regel nur in den [im Brüsseler System] ausdrücklich vorgesehenen Fällen abgewichen werden darf“(103). In jener Rechtssache waren die Gerichte des Vereinigten Königreichs (damals ein Mitgliedstaat) mit einem Rechtsstreit u. a. gegen einen Beklagten mit Wohnsitz in jenem Staat wegen einer in Jamaika eingetretenen unerlaubten Handlung befasst worden. Die erste, von diesen Gerichten vorgelegte Frage war, ob sie ihre Zuständigkeit aufgrund der Common-Law-Einrede des forum non conveniens zugunsten der jamaikanischen Gerichte verneinen durften(104).  Der Gerichtshof verneinte dies mit der Begründung, dass das Brüsseler System keine entsprechende Ausnahme enthalte(105).

115. Nach Ansicht dieser Beteiligten sollen, da in der Brüssel‑Ia-Verordnung keine Ausnahmen für Rechtsstreitigkeiten ausdrücklich vorgesehen seien, deren Gegenstand mit Drittstaaten in engem Zusammenhang stehe, oder für die eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten drittstaatlicher Gerichte gelte, folglich die Gerichte des Mitgliedstaats dann, wenn sie mit einem solchen Rechtsstreit befasst würden und nach Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung zuständig seien, zur Entscheidung über den Rechtsstreit verpflichtet sein. Sie könnten sich nur in den konkreten Fällen für unzuständig erklären, die in bestimmten, vom Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Brüssel‑Ia-Verordnung hinzugefügten Regelungen geregelt seien, nämlich in den Art. 33 und 34 der Verordnung, d. h. im Fall eines Parallelverfahrens vor drittstaatlichen Gerichten und nur dann, wenn der Rechtsstreit bei Anrufung eines Gerichts eines Mitgliedstaats vor einem Gericht eines Drittstaats bereits anhängig war(106).

116. Dies ist meines Erachtens eine vereinfachende Argumentation.

117. Erstens ist logisch nicht einwandfrei, allein aus dem Fehlen spezieller Bestimmungen in der Brüssel‑Ia-Verordnung über Rechtsstreitigkeiten, die einen starken Bezug zu Drittstaaten aufweisen, den Schluss zu ziehen, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten allgemein verpflichtet sind, diese Bezüge außer Acht zu lassen und über diese Rechtssachen zu entscheiden. Damit wird nämlich der Umstand übergangen, dass, wie oben in Nr. 102 ausgeführt, dieser Rechtsakt nicht mit Blick auf solche Rechtsstreitigkeiten ausgestaltet wurde. Dieser Umstand erklärt das allgemeine Schweigen des Wortlauts hierzu und warum daraus meines Erachtens keine sicheren Folgerungen gezogen werden können(107).

118. Zweitens lässt sich allein daraus, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten nach den Art. 33 und 34 der Brüssel‑Ia-Verordnung jetzt ausdrücklich die Möglichkeit haben, sich u. a. für solche Rechtsstreitigkeiten für unzuständig zu erklären, über die vor den Gerichten eines Drittstaats ein Parallelverfahren anhängig ist, vernünftigerweise nicht der Schluss ziehen, dass eine solche Möglichkeit in allen sonstigen Fallgestaltungen ausgeschlossen ist. Auch hierfür ist dem Wortlaut dieser Verordnung schlicht nichts zu entnehmen. Im Wortlaut dieser Bestimmungen und in den im Zusammenhang hiermit stehenden Erwägungsgründen findet sich nämlich kein Hinweis darauf, dass sie die Möglichkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten, sich zugunsten der Gerichte von Drittstaaten für unzuständig zu erklären, abschließend regeln sollen(108).

119. Drittens lässt sich die von BSH, der französischen Regierung und der Kommission vertretene Wortlautauslegung tatsächlich nicht auf das Urteil Owusu stützen. Zwar formulierte der Gerichtshof seine Feststellung zu den einzig möglichen Ausnahmen von der zwingenden Wirkung des (jetzigen) Art. 4 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung uneingeschränkt dahin, dass es sich dabei um die dort ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen handeln sollte. Zugleich lehnte er es jedoch ab, die zweite Frage des vorlegenden Gerichts zu beantworten, in der es insbesondere darum ging, ob die Gerichte der Mitgliedstaaten zur Ausübung der Zuständigkeit auch im Fall ihrer Befassung mit Rechtsstreitigkeiten, deren Gegenstand mit Drittstaaten in engem Zusammenhang steht, oder ungeachtet von Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten drittstaatlicher Gerichte, verpflichtet sind, da diese Fälle im Ausgangsverfahren nicht in Rede standen. Wenn diese Feststellung auch diese Fälle hätte umfassen sollen, hätte der Gerichtshof eindeutig beide Fragen zusammen beantwortet. Stattdessen nahm er sie von seinem Urteil konkret aus(109).

120. Schließlich sprechen zumindest zwei weitere Entscheidungen des Gerichtshofs, die von diesen Beteiligten nicht erörtert wurden und die vor bzw. nach dem Urteil Owusu ergangen sind, (meines Erachtens ganz eindeutig) dafür, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten tatsächlich nicht verpflichtet sind, über Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, die solche engen Verbindungen zu Drittstaaten haben, auch wenn es im Brüsseler System an ausdrücklichen Bestimmungen hierüber fehlt.

121. Im Urteil Coreck Maritime entschied der Gerichtshof zunächst, dass Art. 17 des Brüsseler Übereinkommens auf Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten der Gerichte eines Drittstaats nicht „anwendbar“ ist, und stellte anschließend sofort klar, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, wenn es einer solchen Vereinbarung zum Trotz angerufen wird, „die Wirkung der Abrede nach dem Recht – einschließlich dem Kollisionsrecht – beurteilen [muss], das an seinem Sitz gilt“(110). Aus diesen Begründungserwägungen ergibt sich folgerichtig, dass dieses Gericht dieser Abrede, wenn es ihre Gültigkeit feststellt, Wirkung verleihen und sich zugunsten der bezeichneten Gerichte für unzuständig erklären kann.

122. Im Urteil Mahamdia kam der Gerichtshof zu der Auffassung, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats, die nach den (damals) für diese Rechtssachen geltenden Schutzbestimmungen der Brüssel‑I-Verordnung für arbeitsrechtliche Streitigkeiten zuständig waren, einer Gerichtsstandsvereinbarung, die die Gerichte eines Drittstaats bezeichnete, keine Wirkung verleihen durften. Entscheidend ist jedoch, dass er dies damit begründete, dass die in Rede stehende Abrede die für arbeitsrechtliche Streitigkeiten im Brüsseler System vorgesehen Grenzen der Parteiautonomie nicht gewahrt hatte(111). Daraus ergibt sich folgerichtig, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten, soweit diese Grenzen gewahrt sind (siehe auch unten, Nr. 150), Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten drittstaatlicher Gerichte Wirkung verleihen dürfen(112).

123. Auch wenn diese Urteile Gerichtsstandsvereinbarungen betrafen, ist der sich aus ihnen ergebende allgemeine Gedanke (dass die Gerichte der Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen die Möglichkeit haben, die Zuständigkeit nicht auszuüben, auch wenn es im Brüsseler System an ausdrücklichen Bestimmungen hierüber fehlt) meines Erachtens auf Rechtsstreitigkeiten, deren Gegenstand mit Drittstaaten in engem Zusammenhang steht, übertragbar.

2)      Teleologische und kohärente Auslegung der Verordnung

124. Was die Grundsätze angeht, erscheint mir, wie oben ausgeführt, zwar nicht wünschenswert, den Gerichten der Mitgliedstaaten die Zuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten mit Bezügen der in den Art. 24 oder 25 der Brüssel‑Ia-Verordnung geregelten Art zu Drittstaaten vollständig zu entziehen, es wäre jedoch nicht zu rechtfertigen, diese Gerichte zu einer Entscheidung über sie zu verpflichten.

125. Erstens liefe eine solche Auslegung gerade den mit den fundamentalen Grundsätzen zusammenhängenden Gründen zuwider, die den Art. 24 und 25 der Brüssel‑Ia-Verordnung zugrunde liegen.

126. Sinn und Zweck der (meisten) in Art. 24 der Brüssel‑Ia-Verordnung vorgesehenen Regeln über ausschließliche Zuständigkeiten ist, wie gesagt, dass bestimmte hoheitliche Rechte und Interessen zu achten sind. Streitigkeiten über dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen (Art. 24 Nr. 1 dieser Verordnung) berühren das herkömmliche Hoheitsrecht von Staaten zur Überwachung von Grundstücken innerhalb ihrer Grenzen. Streitigkeiten, welche die Gültigkeit von Eintragungen in öffentliche Register oder von Patenten zum Gegenstand haben (Art. 24 Nrn. 3 und 4 der Verordnung), stellen das Funktionieren der beteiligten öffentlichen Verwaltungen in Frage. Streitigkeiten im Umfeld der Zwangsvollstreckung aus Entscheidungen (Art. 24 Nr. 5 der Verordnung) betreffen unmittelbar das den Staaten vorbehaltene Recht zur Ausübung der Vollstreckungsbefugnis in ihrem Hoheitsgebiet. Es wäre für Staaten nicht hinnehmbar, wenn ausländische Gerichte in diese Belange eingriffen. Über sie kann nur von „ihren“ Gerichten entschieden werden(113). Es ist bemerkenswert, dass dieser Grundsatz vom Unionsgesetzgeber als so wichtig angesehen wurde, dass er vorsah, dass Art. 24 der Brüssel‑Ia-Verordnung Anwendung findet, sobald hoheitliche Rechte und Interessen eines Mitgliedstaats berührt sind, und zwar unabhängig vom Wohnsitz des Beklagten(114).

127. Meines Erachtens ist demzufolge nicht ersichtlich, inwieweit die Ansicht folgerichtig sein sollte, dass es den Gerichten eines Mitgliedstaats einerseits verwehrt sein soll, über die Gültigkeit in einem anderen Mitgliedstaat belegenen Grundeigentums oder die Geeignetheit der von seinen Behörden ergriffenen Vollstreckungsmaßnahmen (usw.) zu entscheiden, während sie andererseits jedoch genau diese Aufgabe allgemein haben sollen, sofern ein Drittstaat betroffen ist. Den Standpunkt einzunehmen, dass es den schwedischen Gerichten im Ausgangsverfahren verwehrt sein soll, über die Gültigkeit beispielsweise des deutschen Teils des in Rede stehenden europäischen Patents zu entscheiden, sei es auch nur als Vorfrage, während sie jedoch, im Fall ihrer entsprechenden Befassung, verpflichtet gewesen wären, über die Gültigkeit des türkischen Teils eine Feststellung zu treffen, ist verblüffend; die gleichen hoheitlichen Rechte und Interessen würden im ersteren Fall gewahrt, im anderen Fall dagegen völlig übergangen(115).

128. Eine solche Auslegung der Brüssel‑Ia-Verordnung wäre völkerrechtlich betrachtet fragwürdig. Auch wenn die Frage umstritten ist, wird nach herrschender Meinung die gerichtliche Zuständigkeit für Zivilsachen durch das Völkerrecht begrenzt(116). Zwar ist, wie von der Kommission vorgetragen, wenn der Beklagte eines zivilrechtlichen Rechtsstreits seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat, Letzterer durch diesen Bezug zu seinem Hoheitsgebiet in der Regel völkerrechtlich ermächtigt, über die Rechtssache zu entscheiden. Greift dieser Rechtsstreit jedoch in die Rechte eines anderen Staats ein, ist sein Anspruch auf die Zuständigkeit vorrangig. Der Ort des Wohnsitzes des Beklagten könnte kaum als Rechtfertigung für eine Einmischung des ersten Staats in die inneren Angelegenheiten des zweiten Staats dienen. Dies könnte als Verstoß gegen den Grundsatz der souveränen Gleichheit angesehen werden(117). Die Brüssel‑Ia-Verordnung ist im Einklang mit diesen fundamentalen Grundsätzen auszulegen(118). Das in dieser Verordnung geregelte System hat keine vom Rest der Welt losgelöste Stellung und kann einen Anspruch auf die ausschließliche Zuständigkeit von Drittstaaten nicht gänzlich ausschließen.

129. In Art. 25 der Brüssel‑Ia-Verordnung wiederum kommt der Grundsatz des Vorrangs der Parteiautonomie zum Ausdruck. Der Unionsgesetzgeber hielt die Förderung der Möglichkeiten der Vertragspartner für wünschenswert, „ihren Richter zu wählen“(119). Indem die Frage, welche(s) Gericht(e) über etwaige Rechtsstreitigkeiten aus Verträgen entscheidet, im Voraus geklärt wird, erhöhen Gerichtsstandsvereinbarungen die Rechtssicherheit und die Vorhersehbarkeit von Rechtsstreitigkeiten, was wiederum den internationalen Handel fördert (daher die häufige Anwendung dieses Instruments durch Unternehmen). Wiederum sah der Unionsgesetzgeber diesen Grundsatz als so wichtig an, dass er für den Fall, dass in einer solchen Vereinbarung die Gerichte eines Mitgliedstaats bezeichnet werden, anordnete, dass grundsätzlich(120) die Zuständigkeit aller anderen Gerichte hinter derjenigen der von den Parteien gewählten Gerichte zurücktritt und dass Art. 25 unabhängig vom Wohnsitz des Beklagten anwendbar ist(121).

130. Demzufolge ist meines Erachtens wiederum nicht ersichtlich, inwieweit die Ansicht folgerichtig sein sollte, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats einerseits verpflichtet sein sollen, Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten der Gerichte eines anderen Mitgliedstaats durchzusetzen, während sie andrerseits jedoch entsprechende Vereinbarungen zugunsten drittstaatlicher Gerichte allgemein außer Acht lassen sollen. Damit würde der mit dem Brüsseler System verfolgte Grundsatz unterlaufen. Der Wille der Parteien würde im ersteren Fall gewahrt, im anderen Fall dagegen übergangen. Wären die Gerichte der Mitgliedstaaten verpflichtet, sich ungeachtet solcher Vereinbarungen für zuständig zu erklären, verlören diese Instrumente ihren Zweck der Gewährleistung von Rechtssicherheit. Beispielsweise könnten ein Unternehmen mit Sitz in der Europäischen Union und ein Unternehmen mit Sitz in den Vereinigten Staaten nicht in der Lage sein, sich auf einen verbindlichen Kompromiss zugunsten der Gerichte von New York (Vereinigte Staaten) zu einigen. Das US-Unternehmen könnte ohne Weiteres gegen seine Verpflichtung verstoßen, indem es Klage vor den Gerichten des Mitgliedstaats erhebt, in dem das EU-Unternehmen seinen Sitz hat. Würden sie zuerst angerufen, wäre diesen Gerichten die Möglichkeit verwehrt, die betreffende Vereinbarung durchzusetzen(122).

131. Eine solche Auslegung der Brüssel‑Ia-Verordnung wäre wiederum unter dem Gesichtspunkt übergeordneter Normen, dieses Mal namentlich der Grundrechte, fragwürdig. Die Parteiautonomie ist nämlich Ausdruck der Vertragsfreiheit, die durch das Unionsrecht, u. a. durch Art. 16 der Charta, geschützt wird(123). Diese Freiheit beinhaltet, dass die Rechtsordnung eines Staats grundsätzlich dem Willen der Vertragsparteien Wirkung verleiht. Wäre den Gerichten der Mitgliedstaaten nach einem extremen Verständnis der „zwingenden Wirkung“ der Brüssel‑Ia-Verordnung verwehrt, Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten der Gerichte eines Drittstaats Wirkung zu verleihen, würde dies zu einer schwerwiegenden und meines Erachtens nicht zu rechtfertigenden Einschränkung dieser Freiheit führen(124). Daher kann der Gerichtshof dieser Auslegung nicht folgen(125).

132. Zweitens liefe diese Auslegung auch den allgemeinen Zielen des Brüsseler Systems zuwider. Insbesondere trüge es meines Erachtens kaum zur Rechtssicherheit bei, die mit dieser Verordnung für die gerichtliche Zuständigkeit erreicht werden soll, wenn die Gerichte der Mitgliedstaaten, sofern sie nach den Regeln der Brüssel‑Ia-Verordnung zuständig sind, verpflichtet würden, über die Gültigkeit von im Hoheitsgebiet von Drittstaaten belegenem Grundeigentum oder von Patenten eines Drittstaats (usw.) oder über Rechtsstreitigkeiten, für die eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten drittstaatlicher Gerichte gilt, zu entscheiden.

133. Dies liegt insbesondere für Gerichtsstandsvereinbarungen auf der Hand. Die Parteien vertrauen darauf, dass über einen etwaigen Rechtsstreit zwischen ihnen nur die von ihnen gewählten Gerichte entscheiden werden. Wenn bestimmte Gerichte von Mitgliedstaaten ungeachtet einer solchen Vereinbarung zur Entscheidung verpflichtet sein könnten, würde gegen dieses Vertrauen verstoßen.

134. Außerdem würde eine solche Lösung, wie von Electrolux vorgetragen, kaum zu einer geordneten Rechtspflege beitragen. Auch wenn nämlich die Entscheidungen, die die Gerichte der Mitgliedstaaten über solche Rechtsstreitigkeiten erlassen würden, in der Europäischen Union als gültig angesehen würden, würden sie (gerade weil sie in hoheitliche Belange eingreifen oder unter Verstoß gegen eine Gerichtsstandsvereinbarung ergangen sind) in den betreffenden Drittstaaten höchstwahrscheinlich nicht beachtet(126). Es ist offenkundig, dass eine über die Gültigkeit von Grundeigentum oder eines Patents ergangene Entscheidung von geringem Wert ist, wenn sie in dem Staat, in dem das Grundeigentum belegen oder das Patent eingetragen ist, nicht vollstreckt werden kann. Was eine unter Verstoß gegen eine Gerichtsstandsvereinbarung ergangene Entscheidung angeht, mag der Kläger zwar einen gewissen strategischen Vorteil darin sehen, in dem Mitgliedstaat Klage zu erheben, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat (da sich in diesem Staat in der Regel das Vermögen des Letzteren befindet), weil jedoch dem Urteil in dem ursprünglich gewählten Drittstaat keine Wirkung verliehen würde, spräche nichts dagegen, dass über denselben Rechtsstreit dort auf Betreiben der anderen Partei neu entschieden würde. Darüber hinaus könnten in allen vorgenannten Fallgestaltungen über denselben Rechtsstreit schließlich auch noch einander widersprechende Entscheidungen der Gerichte der Mitgliedstaaten und der Gerichte von Drittstaaten ergehen.

3)      Die internationalen Übereinkommen geben keine umfassende Antwort

135. Die französische Regierung und die Kommission tragen vor, dass sich in Ermangelung spezieller Bestimmungen in der Brüssel‑Ia-Verordnung eine Lösung für die oben genannten Einwände aus den internationalen Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit in Zivilsachen ergeben könne, die für die Union und ihre Mitglieder verbindlich seien. Unter bestimmten Voraussetzungen(127) gingen diese Übereinkommen dem Brüsseler System vor. Soweit diese Übereinkommen anwendbar seien, seien für die Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten stattdessen ihre Bestimmungen maßgeblich. Die hauptsächlichen beiden Rechtsakte(128) in dieser Hinsicht seien das Lugano‑II-Übereinkommen und das Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen vom 30. Juni 2005(129). Der Erstere enthalte Bestimmungen, die den Art. 24 und 25 der Brüssel‑Ia-Verordnung entsprächen. Der Zweite ordne die Vollstreckung ausschließlicher Gerichtsstandsvereinbarungen durch die Gerichte der Vertragsparteien an.

136. Diese internationalen Übereinkommen sehen zugestandenermaßen eine ideale Lösung für die oben erörterten Fragen vor. Sie gewährleisten, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten die Rechte und Interessen der beteiligten Drittstaaten sowie diejenigen privater Parteien, die bereit sind, ihre Streitigkeiten bestimmten drittstaatlichen Gerichten zu übertragen, wahren. Sie gewährleisten ferner die Gegenseitigkeit seitens der betreffenden Staaten sowie die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidungen der Gerichte ihrer Gegenparteien in allen Vertragsstaaten.

137. Die sich damit bietende Lösung ist jedoch unvermeidlich (sehr) partiell. Diese Übereinkommen haben ihrem Wesen nach nur dann Vorrang vor dem Brüsseler System, wenn der Drittstaat, der von dem Rechtsstreit betroffen ist oder dessen Gerichte durch eine Gerichtsstandsvereinbarung benannt worden sind, Vertragspartei des betreffenden Übereinkommens ist(130). Insoweit ist beispielsweise das Lugano‑II-Übereinkommen, außer für die Mitgliedstaaten, nur für die Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation und die Schweizerische Eidgenossenschaft verbindlich. Es bietet keine Lösung, wenn das in Rede stehende Patent, wie in der vorliegenden Rechtssache, in der Türkei eingetragen ist. Auch ist das Haager Übereinkommen bisher nur für wenige Drittstaaten verbindlich(131). Aus diesen Übereinkommen ergibt sich eine Lösung für die oben erörterten Fragen daher nur in einigen Fällen.

138. Je mehr Drittstaaten sich an solchen internationalen Übereinkommen mit der Europäischen Union, insbesondere dem Haager Übereinkommen, beteiligen, umso größer wird selbstverständlich ihre Bedeutung für internationale Rechtsstreitigkeiten und ihr Beitrag zur Sicherheit auf diesem Gebiet werden. Gleichwohl wird sich, pragmatisch betrachtet, niemals jeder Drittstaat der Welt, nicht einmal die Mehrheit von ihnen, an ihnen beteiligen. Durch multilaterale Lösungen wird die Notwendigkeit solider unilateraler Lösungen im Brüsseler System somit nicht gemindert (und auch niemals gemindert werden). Die Gerichte der Mitgliedstaaten zu einer Entscheidung über mit Drittstaaten in engem Zusammenhang stehende Rechtsstreitigkeiten zu verpflichten, gehört nicht zu diesen Lösungen.

4)      Angebliche „eindeutige Absicht“ des Unionsgesetzgebers

139. BSH, die französische Regierung und die Kommission bringen gleichwohl, mindestens sinngemäß, vor, dass es die „eindeutige Absicht“ des Unionsgesetzgebers bei Erlass der Brüssel‑Ia-Verordnung gewesen sei, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten, soweit sie nach diesem Rechtsakt zuständig seien, zur Entscheidung über Rechtsstreitigkeiten mit starken Bezügen zu Drittstaaten verpflichtet seien, sofern nicht die Art. 33 und 34 dieser Verordnung Anwendung fänden. Auch wenn sie sich der oben aufgeführten, mit dieser Lösung verbundenen Unzulänglichkeiten bewusst ist und das Ergebnis demzufolge für unbefriedigend hält, trägt die französische Regierung vor, dass es nicht Sache des Gerichtshofs sei, den Willen des Gesetzgebers im Wege der Auslegung zu berichtigen.

140. Ich kann dem diesem Einwand zugrunde liegenden allgemeinen Gedanken nur zustimmen. Meines Erachtens kommt ihm jedoch in der konkret vorliegenden Rechtssache kein Gewicht zu.

141. Erstens bin ich ebenso wie Generalanwalt Bobek in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache BV(132) der Ansicht, dass der Wille des Unionsgesetzgebers grundsätzlich nur dann ausschlaggebend ist, wenn er in den verabschiedeten Rechtsvorschriften klar zum Ausdruck kommt. Wie u. a. oben in Nr. 118 erläutert, ist dies vorliegend nicht der Fall. Hätte der Gesetzgeber das gewollt, was von der französischen Regierung und der Kommission vorgetragen wird, hätte er reichlich Gelegenheit gehabt, dies zumindest in einem speziellen Erwägungsgrund der Brüssel‑Ia-Verordnung zum Ausdruck zu bringen.

142. Was zweitens die Frage angeht, was sich in dem zum Erlass dieser Verordnung führenden Gesetzgebungsverfahren ereignet hat, stimme ich ebenfalls mit Generalanwalt Bobek darin überein, dass der Gerichtshof allgemein vermeiden sollte, „eine fast archäologische Grabung“ in den Vorarbeiten eines Rechtsakts vorzunehmen und sich an Ereignisse, Vorstellungen und Absichten gebunden zu fühlen, die er auf diesem Wege (wieder‑)entdeckt, insbesondere weil ein solches Vorgehen in der Regel kein klares, sondern ein komplexes und verschwommenes Bild ergibt(133). Genau dies ist vorliegend der Fall.

143. Wie von der französischen Regierung und der Kommission betont, ist den einschlägigen Vorarbeiten eindeutig zu entnehmen, dass der Unionsgesetzgeber sich der Frage der Anwendung des Brüsseler Systems auf „externe“ Sachverhalte bewusst war(134). Außerdem enthielt der ursprüngliche Vorschlag der Kommission zwar lediglich eine neue Bestimmung zu Parallelverfahren, es wurden jedoch an mehreren Punkten des Gesetzgebungsverfahrens sowohl im Europäischen Parlament(135) als auch im Rat, insbesondere von der französischen Delegation und der Delegation des Vereinigten Königreichs(136), Vorschläge zur Aufnahme von Regelungen vorgelegt, die einen Entscheidungsspielraum bei der Unzuständigerklärung vorsahen, wenn der Gegenstand mit einem Drittstaat in engem Zusammenhang steht oder eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten drittstaatlicher Gerichte gilt. Diese Vorschläge wurden selbstverständlich vom Gesetzgeber abgelehnt, da lediglich die Vorschriften über Parallelverfahren im endgültigen Text beibehalten wurden (und zu den Art. 33 und 34 der Brüssel‑Ia-Verordnung wurden).

144. Vorschnelle Schlussfolgerungen sind jedoch nicht angebracht. In den öffentlich zugänglichen Dokumenten wird (wenn überhaupt) nur in geringem Maß erläutert, warum der Unionsgesetzgeber diese Vorschläge ablehnte(137), oder – für die vorliegende Rechtssache vor allem relevant – welche Folgen das Fehlen solcher spezieller Regelungen im Brüsseler System, von seinem Standpunkt aus, für die Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten im Hinblick auf Rechtsstreitigkeiten mit engem Zusammenhang zu Drittstaaten haben sollte. Insbesondere spricht meines Erachtens kein Hinweis und erst recht keine eindeutige Aussage dafür, dass der Gesetzgeber dadurch, dass er solche Regelungen nicht aufnahm, den Gerichten der Mitgliedstaaten die Möglichkeit, sich für unzuständig zu erklären, verwehren wollte. Das einzige interne Dokument des Rates, das ich finden konnte und in dem die Vorschläge der französischen Delegation und der Delegation des Vereinigten Königreichs substanziell erörtert werden, ist ein Vermerk der deutschen Delegation, der in die gegenteilige Richtung weist. Diese Delegation erklärt darin, dass sie diese Vorschläge ablehne, jedoch, und dies ist entscheidend, mit der Begründung, dass „die Brüssel‑I-Verordnung die internationale Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten im Verhältnis zu drittstaatlichen Gerichten nicht abschließend regelt“ und dass es somit insbesondere „weiterhin dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten überlassen bleiben [sollte], die Wirkung einer Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten der Gerichte eines Drittstaats selbständig zu regeln“(138).  Diese Erklärung spiegelt das Urteil Coreck Maritime wider, das oben in Nr. 121 erörtert wird(139).

145. Im Übrigen ist die Ablehnung des Gesetzgebers, solche Regeln, mit Ausnahme der Art. 33 und 34 der Brüssel‑Ia-Verordnung, aufzunehmen, meines Erachtens in ihrem Kontext zu betrachten. Zu erinnern ist daran, dass die Kommission mit ihrem Legislativvorschlag ursprünglich eine vollständige „Internationalisierung“ des Brüsseler Systems durch dessen Ausdehnung auf Beklagte mit Wohnsitz in Drittstaaten beabsichtigte(140). Dieser Ansatz wurde vom Gesetzgeber jedoch u. a. wegen der möglichen Auswirkungen einer solchen Ausdehnung auf die Beziehungen der Europäischen Union zu ihren internationalen Partnern und der Schwierigkeiten, mit denen die Streitparteien bei der Anerkennung von Entscheidungen der Gerichte der Mitgliedstaaten im Ausland konfrontiert wären, verworfen. Vor diesem Hintergrund wollte der Gesetzgeber offenbar keine umfassende Lösung der Fragen von Rechtsstreitigkeiten mit engem Zusammenhang zu Drittstaaten vorschreiben. Vielmehr wollte er die Frage a minima behandeln, indem lediglich Parallelverfahren geregelt wurden und der Rest (vorläufig) dem nationalen Recht überlassen blieb(141).

146. Schließlich war der Unionsgesetzgeber meines Erachtens jedenfalls niemals befugt, die Gerichte eines Mitgliedstaats zur Entscheidung über Rechtssachen zu verpflichten, die in hoheitliche Rechte und Interessen von Drittstaaten eingreifen, oder diese Gerichte zu verpflichten, auf einen solchen Staat verweisende Gerichtsstandsvereinbarungen allgemein nicht anzuerkennen. Selbstverständlich sind das Völkerrecht und Art. 16 der Charta als höherrangige Normen für den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers beim Erlass eines Rechtsakts des abgeleiteten Unionsrechts wie der Brüssel‑Ia-Verordnung zu beachten. Ich habe oben in den Nrn. 128 und 131 erläutert, warum eine solche Lösung mit diesen höherrangigen Normen unvereinbar wäre. Daher durfte der Gesetzgeber zwar zulässigerweise die Entscheidung treffen, in diesen Rechtsakt Regeln über die Voraussetzungen, nach denen ein Gericht eines Mitgliedstaats sich in diesem Fällen zugunsten drittstaatlicher Gerichte für unzuständig erklären kann, aufzunehmen oder solche Regeln nicht aufzunehmen, die letztere Entscheidung kann jedoch nicht die von der französischen Regierung und der Kommission vertretenen Wirkungen haben.

d)      Die Gerichte der Mitgliedstaaten können sich für die Entscheidung über solche Rechtsstreitigkeiten für unzuständig erklären, wenn dies die Systematik der Verordnung „widerspiegelt“

147. Ich stimme mit Electrolux darin überein, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats zwar nach den Regeln der Brüssel‑Ia-Verordnung die Zuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten, deren Gegenstand mit Drittstaaten in engem Zusammenhang steht oder für die eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten ihrer Gerichte gilt, haben können, diese Verordnung ihnen jedoch die Möglichkeit lässt, sich für die Entscheidung über die Rechtssache für unzuständig zu erklären. Dies ist ganz einfach die einzige sinnvolle Antwort, die den Zweck dieses Rechtsakts erreicht und ihre Kohärenz mit höherrangigen Normen gewährleistet.

148. Für diese konkreten Rechtsstreitigkeiten muss eine implizite Abweichung von der zwingenden Wirkung von Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung anerkannt werden. In Anbetracht dessen, dass dieser Rechtsakt (noch) keine Bestimmungen enthält, nach denen die Gerichte der Mitgliedstaaten befugt sind, sich in diesen Fallgestaltungen für unzuständig zu erklären, ist sein Schweigen folglich dahin auszulegen, dass er diesen Gerichten dies auf der Grundlage ihres nationalen Rechts ermöglicht. Hierauf hat der Gerichtshof im Urteil Coreck Maritime hingewiesen.

149. Die Gerichte der Mitgliedstaaten verfügen indes nicht über einen unbeschränkten Entscheidungsspielraum, sich auf der Grundlage ihres nationalen Rechts für diese Rechtsstreitigkeiten für unzuständig zu erklären (wie das letztgenannte Urteil, für sich allein betrachtet, nahelegen könnte). Wie von Droz vor langer Zeit erläutert und seither von der ganz überwiegenden Mehrheit der Gerichte(142) und der Verfasser in der Lehre(143), die sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, bestätigt, haben die Gerichte der Mitgliedstaaten diese Möglichkeit nur dann, wenn dies die in der Brüssel‑Ia-Verordnung festgelegte Systematik „widerspiegelt“. Konkret haben sie diese Möglichkeit in Fällen, in denen das Gericht sich, wenn ein entsprechender Bezug zu einem Mitgliedstaat bestanden hätte, nach den Art. 24 oder 25 dieser Verordnung hätte für unzuständig erklären müssen(144).

150. Dieses Erfordernis der „Reflexivität“ bedeutet zum einen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats sich für einen Rechtsstreit mit Bezug zu einem Drittstaat nur dann für unzuständig erklären kann, wenn der Streitgegenstand in den sachlichen Anwendungsbereich einer der ausschließlichen Zuständigkeitsregeln in Art. 24 fällt(145) oder wenn es trotz einer die Voraussetzungen nach Art. 25 erfüllenden(146) Gerichtsstandsvereinbarung angerufen wird (so dass bei einem entsprechenden „unionsinternen“ Rechtsstreit der betreffende Artikel Anwendung gefunden hätte). Was zum anderen Gerichtsstandsvereinbarungen angeht, ist nach dem Urteil Mahamdia mit „Reflexivität“ gemeint, dass die Möglichkeit eines solchen Vorgehens nur innerhalb der Grenzen besteht, die ihren Wirkungen bei „unionsinternen“ Rechtsstreitigkeiten gesetzt sind. Ein Gericht eines Mitgliedstaats kann einer solchen Vereinbarung keine Wirkung verleihen, wenn der Rechtsstreit in die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte eines anderen Mitgliedstaats fällt oder wenn diese Vereinbarung mit den Bestimmungen der Verordnung zum Schutz der schwächeren Partei (Versicherungsnehmer, Verbraucher oder Arbeitnehmer) nicht im Einklang steht(147).

151. Dieses Erfordernis der „Reflexivität“ ist sowohl folgerichtig als auch von entscheidender Bedeutung. Wenn nämlich ein Gericht eines Mitgliedstaats sich in einem „externen“ Sachverhalt für unzuständig erklären kann, in dem es dies nach den Art. 24 oder 25 der Brüssel‑Ia-Verordnung hätte tun müssen, wenn es sich um einen „unionsinternen“ Sachverhalt gehandelt hätte, ist die Kohärenz des Brüsseler Systems gewährleistet. Damit wird in beiden Fällen auch die Erreichung der nach diesen Bestimmungen verfolgten Grundsätze ermöglicht. Hingegen gäbe es keinen Grund, „externe“ Sachverhalte gegenüber „unionsinternen“ Rechtsstreitigkeiten besser zu stellen. Würde das Unionsrecht die Befugnisse nationaler Gerichte nicht mitgestalten, könnten die vorrangigen Regelungen, die Mitgliedstaaten eine ausschließliche Zuständigkeit zuweisen oder schwächere Parteien schützen, leicht von Unternehmen umgangen werden, indem sie einfach Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten drittstaatlicher Gerichte in ihre Verträge aufnähmen. Diese Regelungen würden somit einen erheblichen Teil ihrer Wirksamkeit verlieren(148).

152. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, geht das Erfordernis der „Reflexivität“ nicht so weit, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats sich danach in der Weise für unzuständig zu erklären hätte, wie dies nach den Art. 24 oder 25 der Verordnung in den Fällen zu erfolgen hat, auf die sie unmittelbar anwendbar sind, also automatisch. Ich habe oben in Nr. 110 erläutert, warum dies nicht der Fall sein kann, nämlich weil dies zu der Gefahr einer Rechtsverweigerung führen könnte, was gegen Art. 47 der Charta verstieße. Demnach muss diesem Gericht ein begrenzter Entscheidungsspielraum eingeräumt werden, um zu prüfen, ob i) die betreffenden drittstaatlichen Gerichte tatsächlich nach ihrem eigenen internationalen Privatrecht eine ausschließliche Zuständigkeit haben und ii) ob diese Parteien dort Zugang zu einen wirksamen Rechtsbehelf erhalten können. Ist dies nicht der Fall, sollte das angerufene Gericht des Mitgliedstaats sich nicht für unzuständig erklären; im umgekehrten Fall sollte es sich für unzuständig erklären. Ist dies unklar, sollte es das Verfahren aussetzen, bis die Parteien das betreffende drittstaatliche Gericht angerufen haben (und feststeht, dass dieses Gericht in der Sache entscheiden wird), sofern dieses Verfahren die Garantie für ein faires Verfahren bietet(149).

153. In der Rechtssache des Ausgangsverfahrens folgt aus den vorstehenden Ausführungen, dass Art. 24 Nr. 4 der Brüssel‑Ia-Verordnung zwar auf die Frage der Gültigkeit des türkischen Patents, die von Electrolux im Wege der Einrede bestritten wird, nicht unmittelbar anwendbar ist, diese Bestimmung jedoch „reflexive Wirkung“ auf die Zuständigkeit der schwedischen Gerichte haben kann. Das bedeutet, dass diese Gerichte nach den vorstehend erläuterten Voraussetzungen von den ihnen nach ihrem nationalem Recht zur Verfügung stehenden Befugnissen Gebrauch machen können, eine Entscheidung über diese Frage abzulehnen, und das Verfahren bis zu einer Entscheidung der türkischen Gerichte über die Gültigkeit dieses Patents aussetzen können.

154. Entgegen der Ansicht der französischen Regierung ist die Anerkennung einer solchen impliziten Abweichung von der zwingenden Wirkung von Art. 4 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung nicht als contra legem anzusehen, oder, anders formuliert, wird diese Verordnung durch sie nicht „umgeschrieben“. Diese Lösung verlangt vom Gerichtshof nicht, vom Wortlaut abzuweichen, der, hieran sei noch einmal erinnert, zu der zur Prüfung vorliegenden Frage schweigt und somit einer solchen teleologischen und kohärenten Auslegung zugänglich ist.  Allenfalls könnte sie allerdings den Unionsgesetzgeber veranlassen, sich bei der Überarbeitung dieses Rechtsakts mit der Frage zu befassen.

155. Die Anerkennung eines solchen (begrenzten) Raums für das nationale Recht bedeutet entgegen dem Vorbringen von BSH und der Kommission auch keine Abkehr vom Urteil Owusu. Hinzuweisen ist darauf, dass der Gerichtshof den hypothetischen Fall von Rechtsstreitigkeiten mit engem Zusammenhang zu Drittstaaten oder von Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten drittstaatlicher Gerichte von seiner Prüfung konkret ausnahm. Demzufolge ist er ohne Weiteres in der Lage, eine auf diese Sachverhalte zugeschnittene Ausnahme von seiner anscheinend uneingeschränkten Aussage zur zwingenden Wirkung des (aktuellen) Art. 4 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung anzuerkennen(150). Zudem wird damit ein Einklang zwischen diesem Urteil und dem Urteil Coreck Maritime hergestellt. Die in den vorliegenden Schlussanträgen vertretene Auslegung hat nämlich den nicht unwesentlichen Vorteil, alle Entscheidungen, die die zur Prüfung vorliegende Frage betreffen (von der frühesten, dem Urteil Coreck Maritime, bis zur jüngsten, dem Urteil IRnova), miteinander in Einklang zu bringen, während jede andere Auslegung dazu führen würde, dass der Gerichtshof von bestimmten dieser Präzedenzentscheidungen abweichen müsste.

156. Nach der hiergegen gleichwohl von diesen Beteiligten vertretenen Ansicht soll, wenn die Gerichte der Mitgliedstaaten die Möglichkeit hätten, sich in den in Rede stehenden Fallgestaltungen aufgrund der ihnen nach ihrem nationalen Recht vorbehaltenen Befugnisse für unzuständig zu erklären, ein Widerspruch, wenn nicht zum Wortlaut, dann zumindest zum Sinn und Zweck des Urteils Owusu bestehen. Mit dieser Lösung würden nämlich die gleichen Fragestellungen aufgeworfen wie mit der Einrede des forum non conveniens.

157. Meines Erachtens hält der Vergleich einer genauen Prüfung nicht stand.

158. Die Anwendung der Einrede des forum non conveniens, die Gegenstand des Urteils Owusu war, hätte den Gerichten der Mitgliedstaaten einen weiten Entscheidungsspielraum eingeräumt, die Zuständigkeit bei jedweder „externen“ Rechtsstreitigkeit aus Gründen der Geeignetheit des Gerichtsstands, unter Berücksichtigung einer großen Bandbreite von Faktoren, nicht auszuüben. Ein derart flexibler, einzelfallbezogener Ansatz stand zum Geist des auf klaren Regeln beruhenden Brüsseler Systems völlig im Widerspruch. Er hätte erhebliche Nachteile für die Vorhersehbarkeit der gerichtlichen Zuständigkeit nach diesem System gehabt, was wiederum den Grundsatz der Rechtssicherheit und den rechtlichen Schutz der in der Europäischen Union ansässigen Personen beeinträchtigt hätte (da der Beklagte vernünftigerweise nicht hätte vorhersehen können, wo er letztlich verklagt werden könnte, und der Kläger keine Gewähr dafür gehabt hätte, dass das angerufene Gericht, auch wenn es nach diesem System bestimmt worden wäre, über die Sache tatsächlich entscheiden würde). Schließlich wäre die einheitliche Anwendung dieses Systems in den Mitgliedstaaten beeinträchtigt worden, da diese Einrede nur in wenigen Mitgliedstaaten anerkannt wird(151).

159. Im Gegensatz dazu schlage ich vorliegend vor, einen engen Entscheidungsspielraum der Gerichte der Mitgliedstaaten anzuerkennen, sich in konkreten Fällen für unzuständig zu erklären, wenn und soweit dies die nach den Art. 24 und 25 der Brüssel‑Ia-Verordnung anwendbaren Lösungen „widerspiegelt“. Somit sind die Gründe, aus denen ein Gericht eines Mitgliedstaats die Möglichkeit hierzu hat (ausschließliche Zuständigkeit eines Drittstaats und Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten der Gerichte des Letzteren), im Gegensatz zur Einrede des forum non conveniens begrenzt und präzise. Die Anerkennung eines solchen Entscheidungsspielraums führt daher nicht zu der Art von Unsicherheit, die die Anwendung dieser Einrede hervorgerufen hätte. Das Brüsseler System lässt die Möglichkeit zu, den Gerichten einen begrenzten Entscheidungsspielraum einzuräumen, sofern es seinen Zielen dient(152). Dies ist vorliegend der Fall.

160. Ein solcher Entscheidungsspielraum beeinträchtigt die Vorhersehbarkeit der gerichtlichen Zuständigkeit nicht. Ein angemessen informierter Kläger (bzw. Beklagter) kann vorhersehen, dass er wegen der in Art. 24 geregelten Gegenstände vor den Gerichten des betreffenden Drittstaats Klage erheben (bzw. verklagt werden) müsste. Für diese Streitparteien kann auch kaum überraschend sein, dass Klage vor den Gerichten erhoben werden muss, die in einer von ihnen geschlossenen vorherigen Vereinbarung bezeichnet wurden. Diese Lösung erhöht vielmehr die Vorhersehbarkeit der Zuständigkeit, da sie zu einer vergleichbaren Behandlung einander entsprechender „unionsinterner“ und „externer“ Rechtsstreitigkeiten beiträgt.

161. Sie erhöht ferner die Rechtssicherheit, da sie den Gerichten der Mitgliedstaaten insbesondere ermöglicht, Vereinbarungen Wirkung zu verleihen, mit denen Rechtssicherheit gewährleistet werden soll. Der rechtliche Schutz in der Europäischen Union ansässiger Personen wird ebenfalls erhöht. Sie vermeidet, dass der Beklagte sich vor den Gerichten seines Mitgliedstaats mit Verfahren konfrontieren lassen muss, die zu sinnlosen Entscheidungen führen würden oder missbräuchlich unter Verstoß gegen eine solche Vereinbarung eingeleitet würden. Der rechtliche Schutz des Klägers ist ebenfalls gewährleistet, da er immer noch vor den Gerichten der Mitgliedstaaten Klage erheben kann, wenn er vor den betreffenden drittstaatlichen Gerichten keinen Rechtsschutz erwirken konnte.

162. Was schließlich die einheitliche Anwendung der Vorschriften der Brüssel‑Ia-Verordnung in den Mitgliedstaaten angeht, ist meines Erachtens darauf hinzuweisen, dass soweit einige wenige Mitgliedstaaten die Einrede des forum non conveniens anwenden, in diesen Staaten allgemein anerkannt ist, dass die Gerichte keine Verfahren über Rechtsstreitigkeiten durchführen dürfen, deren Gegenstand mit einem Drittstaat in engem Zusammenhang steht, und dass Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten ausländischer Gerichte grundsätzlich zu beachten sind(153). Somit haben die Gerichte aller Mitgliedstaaten allgemein, nach ihrem nationalen Recht, die Befugnis, sich in diesen Fällen für unzuständig zu erklären. Auch wenn die genauen Voraussetzungen, nach denen sie sich für unzuständig erklären, grundsätzlich von einem Mitgliedstaat zum anderen verschieden sein könnten, ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht das nationale Recht in ganz erheblichem Maß mitgestaltet, wie oben in den Nrn. 150 und 152 erläutert, so dass gewährleistet ist, dass diese Lösung von den Gerichten der Mitgliedstaaten in hinreichend kohärenter Weise angewendet wird.

V.      Ergebnis

163. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Svea hovrätt (Berufungsgericht für Svealand, Stockholm, Schweden) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 24 Nr. 4 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen

ist dahin auszulegen, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats in dem Fall, dass sie mit einem Verfahren befasst werden, das die Verletzung eines in einem anderen Mitgliedstaat eingetragenen Patents zum Gegenstand hat, und von dem angeblichen Patentverletzer eine Einrede der Ungültigkeit erhoben wird, keine Zuständigkeit für die Entscheidung über die Frage der Gültigkeit haben.

2.      Art. 24 Nr. 4 der Verordnung Nr. 1215/2012

ist dahin auszulegen, dass diese Bestimmung auf die Gültigkeit eines in einem Drittstaat eingetragenen Patents nicht anwendbar ist. Die Gerichte der Mitgliedstaaten können, soweit sie aufgrund einer anderen Bestimmung dieser Verordnung zuständig sind, jedoch nicht über diese Frage entscheiden.



























































































































































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