C-225/22 – AW „T“

C-225/22 – AW „T“

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2025:270

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

DEAN SPIELMANN

vom 10. April 2025(1)

Rechtssache C225/22

„R“ S.A.

gegen

AW „T“ sp. z o.o.

(Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Apelacyjny w Krakowie [Berufungsgericht Kraków (Krakau), Polen])

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht – Urteil des Obersten Gerichts, mit dem ein Urteil eines Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Prüfung an dieses Gericht zurückverwiesen wird – Möglichkeit, die nicht ordnungsgemäße Besetzung eines höherrangigen Gerichts festzustellen – Wirkungen der Maßnahmen von nicht ordnungsgemäß besetzten Gerichten – Rechtssicherheit – Rechtskraft “

 Einleitung

1.        Im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeitskrise in Europa wurden in einer umfangreichen und viel diskutierten Rechtsprechung des Gerichtshofs die Umrisse der Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte definiert, die sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) ergeben.

2.        Derzeit ist festzustellen, dass mit den Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof geklärt werden soll, welche Konsequenzen aus dieser Rechtsprechung zu ziehen sind(2).

3.        Kann ein nationales Gericht feststellen, dass eine höherrangige nationale gerichtliche Instanz aufgrund von Unregelmäßigkeiten im Verfahren zur Ernennung einiger ihrer Mitglieder kein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta ist? Wenn ja, was ist das rechtliche Schicksal der Maßnahmen, die eine solche Instanz erlassen hat? Diese heiklen Rechtsfragen, auf die sich die vorliegenden Schlussanträge konzentrieren, werden dem Gerichtshof vom Sąd Apelacyjny w Krakowie (Berufungsgericht Kraków, Polen) im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens vorgelegt.

4.        In seinem künftigen Urteil hat der Gerichtshof somit Gelegenheit, sich insbesondere zu der Frage zu äußern, ob sich die Folgen einer Verletzung des Erfordernisses eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts auch dann nach der lateinischen Maxime ex iniuria ius non oritur (aus Unrecht kann kein Recht erwachsen) richten, wenn die Handlungen des betreffenden Gerichts rechtskräftig sind.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

5.        In der vorliegenden Rechtssache sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta relevant.

 Polnisches Recht

6.        Mit der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Position 5) wurde u. a. innerhalb des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) die Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (im Folgenden: Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, Polen) eingerichtet.

7.        Art. 26 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der durch das Gesetz vom 20. Dezember 2019 zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze geänderten Fassung sieht vor:

„§ 1.      Die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ist zuständig für außerordentliche Rechtsbehelfe, Wahlstreitigkeiten und Anfechtungen der Gültigkeit eines nationalen Referendums oder eines Verfassungsreferendums, für die Feststellung der Gültigkeit von Wahlen und Referenden und andere öffentlich-rechtliche Fälle …

§ 2.      Die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ist zuständig für Anträge oder Erklärungen betreffend den Ausschluss eines Richters oder die Bestimmung des Gerichts, bei dem ein Verfahren geführt werden soll, mit denen die fehlende Unabhängigkeit des Gerichts oder des Richters gerügt wird. …

§ 3.      Der Antrag nach § 2 wird nicht geprüft, wenn er die Feststellung und die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung betrifft.

…“

8.        Art. 89 Abs. 1 bis 3 dieses Gesetzes bestimmt:

„1.      Wenn dies erforderlich ist, um die Übereinstimmung mit dem Grundsatz eines demokratischen Rechtsstaats zu gewährleisten, der den Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit konkretisiert, kann gegen die rechtskräftige Entscheidung eines ordentlichen Gerichts oder eines Militärgerichts, mit der das Verfahren in der betreffenden Rechtssache beendet wird, ein außerordentlicher Rechtsbehelf eingelegt werden:

1)      wenn die Entscheidung gegen die in der Verfassung verankerten Grundsätze oder Rechte und Freiheiten der Menschen und Bürger verstößt oder

2)      wenn die Entscheidung offensichtlich gegen das Recht verstößt, indem es dieses falsch auslegt oder falsch anwendet, oder

3)      wenn die grundlegenden Feststellungen des Gerichts in offensichtlichem Widerspruch zum Inhalt der im Rahmen der Rechtssache gesammelten Beweismittel stehen

und die Entscheidung nicht durch andere außerordentliche Rechtsbehelfe aufgehoben oder geändert werden kann.

2.      Ein außerordentlicher Rechtsbehelf kann vom Generalstaatsanwalt, dem Bürgerbeauftragten und im Rahmen ihrer Zuständigkeiten vom Präsidenten der Prokuratoria Generalna der Republik Polen (Staatliche Agentur zur Vertretung der Interessen der Staatskasse), vom Bürgerbeauftragten für die Rechte des Kindes, vom Bürgerbeauftragten für Patientenrechte, vom Präsidenten der Kommission für Finanzaufsicht, vom Finanz-Bürgerbeauftragten, vom Bürgerbeauftragten für kleine und mittlere Unternehmen sowie vom Präsidenten des Amts für Wettbewerb und Verbraucherschutz eingelegt werden.

3.      Der außerordentliche Rechtsbehelf ist innerhalb von fünf Jahren nach Eintritt der Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung und, wenn gegen die Entscheidung eine Kassationsbeschwerde eingelegt worden ist, innerhalb eines Jahres ab dem Zeitpunkt ihrer Prüfung einzulegen. Einem außerordentlichen Rechtsbehelf kann nicht zum Nachteil des Beklagten stattgegeben werden, wenn er ein Jahr nach dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung rechtskräftig geworden ist, und im Fall der Kassationsbeschwerde nach Ablauf einer Frist von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt ihrer Prüfung eingelegt wurde.“

9.        In Art. 115 Abs. 1 dieses Gesetzes heißt es:

„Innerhalb von sechs Jahren nach Inkrafttreten dieses Gesetzes kann ein außerordentlicher Rechtsbehelf gegen rechtskräftige verfahrensbeendende Entscheidungen eingelegt werden, die nach dem 17. Oktober 1997 rechtskräftig geworden sind. Art. 89 Abs. 3 Satz 1 findet keine Anwendung.“

 Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

10.      Mit Klageschrift vom 9. August 2004 beantragte die Gesellschaft AW „T“ sp. z o.o., es B.O. sowie den Gesellschaften „R“ und „K“ zu untersagen, u. a. Kreuzworträtselmagazine, die mit den Nummern „100“, „200“, „222“, „300“, „333“, „500“, „1000“ bezeichnet sind, in den Verkehr zu bringen, in denen die Kreuzworträtsel in einem farbigen Kasten mit einem Hintergrund in der derselben Farbe und einem farbigen Rand dargestellt werden. Das Inverkehrbringen dieser Magazine verstoße gegen die Bestimmungen der Ustawa z 30 czerwca 2000 – Prawo własności przemysłowej (Gesetz vom 30. Juni 2000 über das Recht des gewerblichen Eigentums, Dz. U. 2003, Position 1117) und der Ustawa o zwalczaniu nieuczciwej konkurencji (Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs) vom 16. April 1993 (Dz. U. 2003, Position 1503).

11.      Mit Urteil vom 25. Oktober 2005 untersagte der Sąd Okręgowy w Krakowie (Regionalgericht Kraków, Polen) das Inverkehrbringen von 28 durch eine angemeldete Marke geschützten Magazine und wies die Klage im Übrigen ab.

12.      Mit Urteil vom 9. November 2006(3) änderte der Sąd Apelacyjny w Krakowie (Berufungsgericht Kraków) auf Berufung von B.O. und der Gesellschaft „R“ das Urteil des Sąd Okręgowy w Krakowie (Regionalgericht Kraków) im Sinne einer Erweiterung des in der vorstehenden Nummer der vorliegenden Schlussanträge angeführten Verbots ab.

13.      Nur B.O. legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ein. Am 21. Februar 2008 hob dieses Gericht das Urteil des Sąd Apelacyjny w Krakowie (Berufungsgericht Kraków) auf, soweit es den Teil betraf, mit dem das Urteil des Sąd Okręgowy w Krakowie (Regionalgericht Kraków) abgeändert wurde, und verwies die Sache zur erneuten Prüfung an das Berufungsgericht zurück. Schließlich erließ der Sąd Apelacyjny w Krakowie (Berufungsgericht Kraków) am 27. Mai 2010 sein Urteil.

14.      Erst am 27. Januar 2020 legte der Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt, Polen) gemäß Art. 89 des Gesetzes über das Oberste Gericht beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einen außerordentlichen Rechtsbehelf zugunsten der Gesellschaft „R“ S.A. gegen das Urteil des Sąd Apelacyjny w Krakowie (Berufungsgericht Kraków) vom 9. November 2006 ein. Nach Ansicht des Generalstaatsanwalts verstieß dieses Gericht gegen das Verbot der reformatio in peius, da es durch die Abänderung des angefochtenen Urteils des Sąd Okręgowy w Krakowie (Regionalgericht Kraków) das Verbot u. a. auf „R“ ausgedehnt habe. Das Urteil dieses Berufungsgerichts hatte nämlich das Inverkehrbringen aller Kreuzworträtselmagazine, die auf dem Umschlag mit den Nummern „100“, „200“, „222“, „300“, „333“, „500“, „1000“ bezeichnet waren, verboten, während das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts das Inverkehrbringen nur von bestimmten Magazinen untersagte, die mit Titeln und Fundstellen der Veröffentlichung bezeichnet waren und die betreffenden angemeldete Marken trugen. Mit Urteil vom 20. Oktober 2021 hob der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in Bezug auf die Gesellschaft „R“ das Urteil vom 9. November 2006 auf, das im Wesentlichen ein Verbot bestimmter unlauterer Wettbewerbshandlungen betraf, und verwies die Sache zur erneuten Prüfung an den Sąd Apelacyjny w Krakowie (Berufungsgericht Kraków) als vorlegendes Gericht zurück.

15.      Im Rahmen dieser erneuten Prüfung beantragte AW „T“ beim vorlegenden Gericht, ihr eine Kopie des Urteils vom 9. November 2006 zu übermitteln und als Vollstreckungsklausel einen Vermerk anzubringen, der die Rechtskraft dieses Urteils bestätige, und machte geltend, dass das Urteil des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 20. Oktober 2021 als nicht existent zu behandeln sei.

16.      Zur Stützung dieses Antrags verwies AW „T“ erstens auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) vom 8. November 2021, Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen(4), aus dem hervorgehe, dass die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten kein auf Gesetz beruhendes Gericht sei.

17.      Zweitens berief sich AW „T“ auf das Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung)(5), aus dem sie ableitet, dass eine Entscheidung eines nicht ordnungsgemäß zusammengesetzten Gerichts für andere Gerichte nicht bindend und außer Acht zu lassen sei, ohne dass es ihrer Aufhebung bedürfe.

18.      Drittens äußerte AW „T“ Bedenken hinsichtlich der Möglichkeit, einen außerordentlichen Rechtsbehelf gegen eine rechtskräftige Entscheidung nach einem Zeitraum von 14 Jahren einzulegen, insbesondere wenn dieser Rechtsbehelf dem Schutz lediglich wirtschaftlicher Interessen einer staatlichen Gesellschaft diene.

19.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass das Urteil des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 20. Oktober 2021 von einer Kammer erlassen worden sei, die aus Richtern bestehe, die am selben Tag im Laufe desselben Verfahrens ernannt worden seien. In diesem Verfahren habe die Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen, im Folgenden: KRS) eine Entschließung über die Empfehlung dieser Richter erlassen, die anschließend beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) angefochten worden sei, der die Vollziehung dieser Entschließung vorläufig ausgesetzt habe. Der Präsident der Republik Polen habe diese Richter jedoch vor der Entscheidung des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) über die angefochtene Entschließung ernannt.

20.      In diesem Kontext weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Spruchkörper des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der das Urteil vom 20. Oktober 2021 erlassen habe, mit den Richtern E.S., T.D., P.K., A.R. und M.S. besetzt gewesen sei und dass dieser Spruchkörper aufgrund der Unregelmäßigkeiten des Verfahrens, das zu ihrer Ernennung zu Richtern der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten geführt habe, kein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne des Unionsrechts sei. Folglich seien die Wirkungen der Entscheidung eines solchen Gerichts zu prüfen.

21.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt sich jedoch vorab die Frage, ob ein nationales Gericht befugt ist, die Zusammensetzung des höherrangigen Gerichts zu überprüfen, das eine Rechtssache nach einer Entscheidung in einem außerordentlichen Rechtsbehelfsverfahren zur erneuten Prüfung an dieses Gericht verwiesen hat, und zwar in einem Fall, in dem das erstgenannte Gericht nach der nationalen Regelung an die Beurteilung des höherrangigen Gerichts gebunden ist.

22.      Unter diesen Umständen hat der Sąd Apelacyjny w Krakowie (Berufungsgericht Kraków) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2, Art. 2, Art. 4 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV sowie der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass sie es einem nationalen Gericht erlauben, eine nach nationalem Recht, darunter dem Verfassungsrecht, verbindliche Entscheidung des betreffenden Verfassungsgerichts unberücksichtigt zu lassen, wenn diese Entscheidung ausschließt, dass das nationale Gericht prüft, ob ein gerichtliches Organ – angesichts der Art und Weise der Ernennung der Richter – ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne des Unionsrechts ist?

2.      Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2, Art. 2, Art. 4 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass sie einer von einem Mitgliedstaat eingeführten nationalen Regelung entgegenstehen, die:

a)      es einem nationalen Gericht untersagt, die Rechtmäßigkeit einer Richterernennung und folglich die Frage, ob es sich bei einem gerichtlichen Organ um ein Gericht im Sinne des Unionsrechts handelt, zu prüfen, sowie

b)      eine Disziplinarhaftung des Richters für Rechtsprechungshandlungen vorsieht, die im Zusammenhang mit der genannten Prüfung stehen?

3.      Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2, Art. 2, Art. 4 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass ein ordentliches Gericht, das die Anforderungen an ein Gericht im Sinne des Unionsrechts erfüllt, nicht an ein Urteil eines letztinstanzlichen Gerichts – dem Richter angehören, die unter offenkundigem Verstoß gegen das nationale Recht zur Regelung des Verfahrens der Ernennung von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ernannt wurden, weshalb dieses Gericht die Anforderungen an ein unabhängiges, unparteiisches, zuvor durch Gesetz errichtetes und den Betroffenen einen wirksamen Rechtsschutz gewährleistendes Gericht nicht erfüllt – gebunden ist, das aufgrund eines außerordentlichen Rechtsbehelfs ergangen ist und mit dem eine rechtskräftige Entscheidung aufgehoben und die Sache an ein ordentliches Gericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen wurde?

4.      Sind bei Bejahung der dritten Frage Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2, Art. 2, Art. 4 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass ein Fehlen der Bindungswirkung Folgendes bedeutet:

a)      dass eine Entscheidung, die ein in der in Nr. 3 beschriebenen Art und Weise errichtetes letztinstanzliches Gericht erlassen hat, keine Entscheidung im Rechtssinne (eine nicht existente Entscheidung) im Sinne der Vorschriften des Unionsrechts ist und eine diesbezügliche Prüfung durch ein ordentliches Gericht, das ein Gericht im Sinne des Unionsrechts ist, vorgenommen werden darf,

b)      dass eine Entscheidung, die ein in der in Nr. 3 beschriebenen Art und Weise errichtetes letztinstanzliches Gericht erlassen hat, zwar eine existente Entscheidung ist, das mit der Sache erneut befasste ordentliche Gericht aber berechtigt und verpflichtet ist, von der Anwendung der nationalen Vorschriften über die Rechtsfolgen dieser Entscheidung abzusehen, soweit dies für die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes für die Betroffenen erforderlich ist?

23.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 11. Mai 2022 ist der Antrag des vorlegenden Gerichts, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, zurückgewiesen worden.

24.      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die Gesellschaft „R“, die Beklagte des Ausgangsverfahrens, die Gesellschaft AW „T“, die polnische, die dänische und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die Gesellschaften „R“ und AW „T“, die polnische Regierung und die Kommission haben in der Sitzung vom 9. Januar 2025 mündlich verhandelt.

 Würdigung

25.      Auf Wunsch des Gerichtshofs beziehen sich die vorliegenden Schlussanträge nur auf die dritte und die vierte Vorlagefrage.

 Zur Zuständigkeit und zur Zulässigkeit

26.      Die polnische Regierung macht geltend, der Gerichtshof sei für die Entscheidung über alle Vorlagefragen nicht zuständig, da die Organisation der Justiz in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle. Es sei daher nicht möglich, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen, dass er diesen Staaten eine bestimmte Organisation der Justiz auferlege.

27.      Dieses Argument lässt sich leicht zurückweisen. Nach ständiger Rechtsprechung fällt die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten zwar in deren Zuständigkeit, die Mitgliedstaaten haben bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben. Dies gilt insbesondere für nationale Vorschriften betreffend den Erlass von Entscheidungen über die Ernennung von Richtern und gegebenenfalls für Vorschriften betreffend die im Zusammenhang mit solchen Ernennungsverfahren anwendbare gerichtliche Kontrolle. Außerdem beziehen sich diese Einwände der polnischen Regierung im Wesentlichen auf die Tragweite von diesem Art. 19 und damit auf dessen Auslegung. Eine solche Auslegung fällt jedoch offensichtlich in die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV(6).

28.      Diese Regierung hat die Unzulässigkeit aller Vorlagefragen mit der Begründung geltend gemacht, dass die aufgeworfenen Rechtsfragen fiktiv, nicht relevant oder hypothetisch seien. Aus der Vorlageentscheidung gehe weder hervor, dass im Ausgangsverfahren das Recht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Stadium der Prüfung des außerordentlichen Rechtsbehelfs durch die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten verletzt worden sei, noch, dass die diesem Recht innewohnende Garantie nach der erneuten Prüfung der Rechtssache durch das vorlegende Gericht in Frage gestellt werde.

29.      Auch dieses Vorbringen ist jedoch nicht überzeugend. Die Antwort des Gerichtshofs erscheint nämlich erforderlich, um dem vorlegenden Gericht die Entscheidung der Frage zu ermöglichen, ob es das Ausgangsverfahren in einem Fall erneut prüfen muss, in dem die Entscheidung, die diesem Überprüfungsverfahren zugrunde liegt, von einer Stelle erlassen wurde, die nicht als zuvor durch Gesetz errichtet im Sinne der Rechtsprechung des EGMR angesehen werden kann.

30.      Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission, ohne die Zulässigkeit des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ausdrücklich in Zweifel zu ziehen, im Wesentlichen ausführt, dass die sich aus den Akten ergebenden Angaben es ihr nicht ermöglichten, festzustellen, ob das vorlegende Gericht als Einzelrichter für die Entscheidung über die in den Vorlagefragen aufgeworfene Problematik zuständig sei und ob das Verfahren zur Feststellung der Rechtskraft des Urteils vom 9. November 2006 den zuständigen Einzelrichter ermächtige, die Ordnungsgemäßheit des Spruchkörpers des höherrangigen Gerichts, der dieses Urteil aufgehoben habe, zu überprüfen.

31.      Insoweit beschränke ich mich, wie auch die Kommission, auf den Hinweis, dass es nach ständiger Rechtsprechung allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über diese Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen(7).

 Zur dritten Frage

32.      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es an eine Entscheidung eines höherrangigen Gerichts gebunden ist, das nicht dem Erfordernis eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV genügt.

33.      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass das vorlegende Gericht mit dieser Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV es einem nationalen Gericht erlaubt zu prüfen, ob ein höherrangiges Gericht das Erfordernis eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne dieser Bestimmung erfüllt(8). Die Frage, ob im Fall eines negativen Ergebnisses dieser Prüfung jede Entscheidung dieses Gerichts gleichwohl für das untergeordnete Gericht verbindlich wäre, gehört nämlich meines Erachtens zur Problematik des rechtlichen Schicksals dieser Entscheidungen, die Gegenstand der vierten Frage ist.

 Kurze Hinweise zur Rechtsprechung betreffend das Erfordernis eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV

34.      Aus der Rechtsprechung, die auf das Urteil Associação Sindical dos Juízes Portugueses(9) zurückgeht, ergibt sich, dass es, um den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, von grundlegender Bedeutung ist, dass die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewahrt ist. Das Erfordernis der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte, die das Unionsrecht anwenden können, gehört nämlich zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, grundlegende Bedeutung zukommt(10).

35.      Das Recht auf ein „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ ist nach Auffassung des Gerichtshofs sehr eng mit den Garantien der „Unabhängigkeit“ und „Unparteilichkeit“ verbunden. Es handelt sich zwar nicht um identische Garantien als grundlegende Eckpfeiler eines fairen Verfahrens, sie hängen aber nach Inhalt und Zweck eng zusammen. Wie der Gerichtshof(11) unter Bezugnahme auf das Urteil Ástráðsson/Island(12) des EGMR hervorgehoben hat, zielen beide Garantien darauf ab, den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung sowie das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz zu wahren.

36.      Hinsichtlich des Verfahrens zur Ernennung von Richtern steht nunmehr fest, dass es in Anbetracht seiner grundlegenden Bedeutung für das ordnungsgemäße Funktionieren und die Legitimität der Justiz in einem demokratischen Rechtsstaat zwangsläufig eng mit dem Begriff des zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts verbunden ist(13).

37.      Im Urteil Überprüfung Simpson/Rat(14) hat der Gerichtshof ausgeführt, dass eine bei der Ernennung der Richter im Justizsystem eines Mitgliedstaats begangene Vorschriftswidrigkeit einen Verstoß gegen das Erfordernis eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts darstellt, insbesondere dann, wenn die Art und Schwere der Vorschriftswidrigkeit dergestalt ist, dass sie die tatsächliche Gefahr begründet, dass andere Teile der Staatsgewalt – insbesondere die Exekutive – ein ihnen nicht zustehendes Ermessen ausüben können, wodurch die Integrität des Ergebnisses des Ernennungsverfahrens beeinträchtigt und so beim Einzelnen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des oder der betreffenden Richter geweckt werden, was der Fall ist, wenn es um Grundregeln geht, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit dieses Justizsystems sind(15).

 Zur Möglichkeit für ein nationales Gericht, die Ordnungsmäßigkeit der Besetzung eines höherrangigen Gerichts zu überprüfen

38.      Im Urteil Überprüfung Simpson hat der Gerichtshof auch festgestellt, dass die Garantien für den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, die den Grundpfeiler des Rechts auf ein faires Verfahren bilden, insbesondere implizieren, dass jedes Gericht überprüfen muss, ob es in Anbetracht seiner Zusammensetzung ein solches Gericht ist, wenn insoweit ein ernsthafter Zweifel besteht. Der Gerichtshof ist daher zu dem Ergebnis gelangt, dass eine solche Überprüfung ein wesentliches Formerfordernis darstellt, das zwingend zu beachten und von Amts wegen zu prüfen ist(16).

39.      Aus diesem Urteil ergibt sich, dass die Hauptverantwortung für die Kontrolle der Einhaltung des Rechts auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht bei den Gerichten einschließlich der nationalen Gerichte liegt, unabhängig davon, ob es sich um die Ordnungsmäßigkeit ihrer eigenen Zusammensetzung oder die ordnungsgemäße Besetzung eines anderen Gerichts handelt(17).

40.      In Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit in Polen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die nationalen Gerichte prüfen können müssen, ob eine Vorschriftswidrigkeit des Verfahrens zur Ernennung eines Richters zu einer Verletzung der Anforderungen führen konnte, die sich aus dem Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Schutz im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta ergeben(18), insbesondere der Anforderungen in Bezug auf den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, wenn die Erfüllung dieser Anforderungen Zweifel wecken könnte(19).

41.      Genauer gesagt müssen die nationalen Gerichte beurteilen können, ob in Anbetracht der ordnungsgemäß nachgewiesenen erheblichen Umstände, von denen es möglicherweise Kenntnis erhält, die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass der Entscheidungen über die Ernennung geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an ihrer Unempfänglichkeit für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen(20).

42.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtssachen, die sich in diese Rechtsprechungslinie einfügen, „horizontale“ Beziehungen zwischen dem nationalen Gericht, das eine solche Beurteilung vornimmt, und der gerichtlichen Instanz, die Gegenstand dieser Beurteilung ist, betrafen. Es handelte sich nämlich um:

–        verschiedene Kammern ein und desselben Gerichts in den Urteilen A.K. (Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych [Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen] – Izba Dyscyplinarna [Disziplinarkammer] des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht]) und W.Ż.(Izba Cywilna [Zivilkammer] – Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht]),

–        ein Gericht und eine Kammer eines Gerichts gleichen Ranges im Urteil A.B. (Naczelny Sąd Administracyjny [Oberstes Verwaltungsgericht] – Kammern für Zivil- und Strafsachen des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht]),

–        ein Gericht und eine Kammer dieses Gerichts im Urteil Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a.(21) (Sąd Okręgowy w Warszawie [Regionalgericht Warschau, Polen] – Kammer desselben Regionalgerichts).

43.      Dagegen hatte der Gerichtshof bisher keine Gelegenheit, sich zu der Frage zu äußern, ob ein nationales Gericht prüfen können muss, ob eine höherrangige gerichtliche Instanz ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV darstellt(22).

44.      Ich bin davon überzeugt, dass das Bestehen einer solchen hierarchischen Beziehung nicht ausschließt, dass das erste Gericht diese Prüfung vornehmen kann.

45.      Wie ich bereits weiter oben erläutert habe, fällt zwar die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit, doch haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ergeben(23). Insbesondere stelle ich fest, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs einen Zusammenhang zwischen den Anforderungen an ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht und dem Grundsatz des Vorrangs herstellt. Der rechtliche Weg ist bekannt: Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlegt den Mitgliedstaaten eine klare und präzise Ergebnispflicht auf, die unbedingt ist(24); daher ist jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht verpflichtet, jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, wie dieser Art. 19, entgegensteht, unangewendet zu lassen(25). Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der allgemeine Gedanke, dass die Anwendung des Grundsatzes des Vorrangs zu einer Umkehr der nationalen Hierarchie der Gerichte führen kann, auf das Urteil Simmenthal(26) zurückgeht und im Bereich der Rechtsstaatlichkeit im Urteil RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts)(27) bekräftigt wurde.

46.      Mit anderen Worten kann, wenn die Voraussetzungen oder Verfahrensmodalitäten für den Erlass von Ernennungsentscheidungen so beschaffen sind, dass ein Verstoß gegen die Anforderungen an ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht festgestellt wird, sicher nicht eingewandt werden, dass die nationalen Vorschriften über die Hierarchie der Gerichte zwischen dem Obersten Gericht und den Untergerichten in den Bereich fallen, der der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten vorbehalten ist.

47.      Das von der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen angeführte Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Randstad Italia(28) bestätigt diese Auslegung. Zur Erinnerung: In dieser Rechtssache wollte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob der wirksame gerichtliche Schutz der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte einer Auslegung der nationalen Rechtsprechung entgegensteht, nach der das oberste ordentliche Gericht eines Mitgliedstaats nicht dafür zuständig ist, ein vom obersten Verwaltungsgericht dieses Mitgliedstaats unter Verstoß gegen das Unionsrecht erlassenes Urteil aufzuheben.

48.      Zwar hat der Gerichtshof dort sowohl auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV als auch auf den Grundsatz der Verfahrensautonomie Bezug genommen. Die Beurteilung im Licht dieser Bestimmung ist jedoch in diesem Urteil äußerst knapp, da sie im vorliegenden Fall eindeutig beachtet wurde. Der Gerichtshof hat sich somit im Wesentlichen auf die Feststellung beschränkt, dass das italienische Verfahrensrecht es als solches den Betroffenen erlaubt, bei einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht einen Rechtsbehelf einzulegen, um vor diesem Gericht einen Verstoß gegen das Unionsrecht geltend zu machen(29). Dies war ausreichend, um die Einhaltung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu belegen, da diese Bestimmung, die zu Recht als ein „außerordentliches Hilfsmittel für außerordentliche Fälle“(30) definiert wurde, nur dann relevant ist, wenn es erforderlich ist, den Wesensgehalt des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes zu wahren, der durch eine allgemeine Verschlechterung des gerichtlichen Rechtsschutzes in einem Mitgliedstaat bedroht ist, was in der Rechtssache, in der das Urteil Randstad erging, nicht der Fall war.

49.      Dagegen hat der Gerichtshof die im Mittelpunkt dieser Rechtssache stehende Frage sorgfältig geprüft, ob das Unionsrecht verlangt, dass ein Mitgliedstaat, um einen Verstoß gegen dieses Recht abzustellen, die Möglichkeit vorsieht, die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit einer Kassationsbeschwerde gegen ein Urteil des Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) zu befassen, wenn ein solcher Rechtsbehelf in seinem nationalen Recht nicht vorgesehen ist, und verneint. Diese rechtliche Analyse, die u. a. im Hinblick auf eine Bestimmung des abgeleiteten Rechts im Licht von Art. 47 der Charta entwickelt wurde, implizierte, was nicht überrascht, die Berücksichtigung der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten.

50.      Wenn es Anhaltspunkte dafür gegeben hätte, dass das italienische Verfahrensrecht keinen Zugang zu einem Gericht ermöglichte, das die sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Anforderungen erfüllt, wäre es wahrscheinlich nicht erforderlich gewesen, zu prüfen, ob die in Rede stehenden nationalen Bestimmungen unter diese Verfahrensautonomie fallen, und der Vorrang des Unionsrechts wäre anzuwenden gewesen.

51.      Ich bin daher der Ansicht, dass die Prüfung durch ein untergeordnetes Gericht, ob ein höherrangiges nationales Gericht ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, zwar zweifellos neu ist, wie einige der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung ausgeführt haben, doch steht sie im Einklang mit der Rechtsprechung zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV.

52.      In Anbetracht dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die dritte Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht prüfen können muss, ob ein höherrangiges Gericht das Erfordernis eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne dieser Bestimmung erfüllt, sofern Umstände vorliegen, unter denen Zweifel an der Wahrung dieses Erfordernisses aufkommen könnten.

 Zur Beurteilung der Frage, ob die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, durch das vorlegende Gericht

53.      Es ist daran zu erinnern, dass es letztlich Sache des vorlegenden Gerichts ist, sich im Licht sämtlicher Grundsätze, die in der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs herausgearbeitet worden sind, und nachdem es die hierzu erforderlichen Erwägungen angestellt hat, zu der Frage zu äußern, ob die Umstände, unter denen die fünf Mitglieder der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, die die Entscheidung erlassen hat, mit der das Urteil vom 9. November 2006 aufgehoben wurde, insgesamt betrachtet den Schluss zulassen, dass diese Kammer dem Erfordernis eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV genügt(31). Das hindert den Gerichtshof aber nicht daran, das Unionsrecht im Rahmen der durch Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten unter Berücksichtigung der Akten auslegen, soweit dies dem vorlegenden Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen von Art. 19 EUV dienlich sein könnte(32).

54.      Im Urteil Krajowa Rada Sądownictwa (Verbleib eines Richters im Amt)(33)hat der Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten für unzulässig erklärt. Gestützt auf die Feststellungen und Beurteilungen zum einen im Urteil des EGMR vom 8. November 2021, Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen(34), sowie im Urteil des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) vom 21. September 2021 und zum anderen im Urteil W.Ż. hat der Gerichtshof u. a. festgestellt, dass sich aus einer Gesamtbetrachtung sämtlicher systemischen und umstandsbezogenen Faktoren, die für die Berufung der drei Richter, die in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, die vorlegende Stelle bilden, in die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten kennzeichnend gewesen sind, ergibt, dass diese Kammer nicht die Eigenschaft eines unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta hat.

55.      Was die Ernennungen der drei Mitglieder der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten betrifft, erscheint es mir sinnvoll, die wesentlichen Gesichtspunkte in Erinnerung zu rufen, auf die der Gerichtshof diese Schlussfolgerung gestützt hat. Erstens hat der Gerichtshof festgestellt, dass diese Ernennungen auf der Grundlage der Vorschläge in der Entschließung Nr. 331/2018 der KRS erfolgt waren, die in ihrer aus der Umsetzung der Änderungen des KRS-Gesetzes hervorgegangen neuen Zusammensetzung keine ausreichenden Garantien für die Unabhängigkeit gegenüber der Legislative und der Exekutive bietet. Zweitens hätten die gesetzlichen Änderungen an Art. 44 des KRS-Gesetzes den bis dahin eröffneten Rechtsbehelfen gegen die Entschließungen der KRS jegliche Wirksamkeit genommen. Drittens hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass der Präsident der Republik Polen diese Richter ernannt hatte, obwohl die Vollstreckbarkeit dieser Entschließung durch Beschluss des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) ausgesetzt worden war, was eine tiefgreifende Verleugnung der Autorität, der Unabhängigkeit und der Rolle der Justiz seitens der Exekutive widerspiegelte und bewusst darauf abzielte, den wirksamen Lauf der Justiz zu behindern.

56.      Die Feststellung, dass die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten kein „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta ist, ist meines Erachtens in vollem Umfang auf den vorliegenden Fall übertragbar. Es ist nämlich unerheblich, dass diese Feststellung im Rahmen der Beurteilung der Frage getroffen wurde, ob der Spruchkörper dieser Kammer, der den Gerichtshof mit dem Vorabentscheidungsersuchen befasst hat, ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV war, da der Umfang der hierfür erforderlichen Unabhängigkeit mit dem des Erfordernisses eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts übereinstimmt(35).

57.      Dem Urteil Krajowa Rada Sądownictwa sind mehrere Beschlüsse gefolgt, in denen der Gerichtshof aus denselben Gründen entschieden hat, dass Vorabentscheidungsersuchen der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, die ganz oder teilweise aus Mitgliedern besteht, die unter den gleichen Umständen wie denen, um die es in diesem Urteil ging, ernannt wurden, unzulässig sind(36). Unter diesen Umständen sind aber auch die fünf Richter ernannt worden, die zusammen mit zwei ehrenamtlichen Richtern den Spruchkörper dieser Kammer in der vorliegenden Rechtssache bilden.

58.      Es ist hinzuzufügen, dass die Tatsache, dass zwei ehrenamtliche Richter diesem Spruchkörper angehörten, unerheblich ist, da die Anwesenheit eines einzigen Richters in der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, der unter denselben Umständen, wie sie im Urteil Krajowa Rada Sądownictwa analysiert wurden, ernannt wurde, grundsätzlich ausreicht, um dieser Kammer ihre Eigenschaft als unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht zu nehmen(37).

59.      Folglich dürfte – vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht obliegenden endgültigen Bewertungen – die Überprüfung, ob die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ordnungsgemäß zusammengesetzt war, als sie das Urteil vom 20. Oktober 2021 erließ, zu dem Schluss führen, dass die Anforderungen an ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 19 Abs.1 Unterabs. 2 EUV nicht erfüllt sind.

 Zur vierten Frage

60.      Die vierte Frage betrifft die Folge, die das Unionsrecht an jede Entscheidung knüpft, die von einer Einrichtung getroffen wird, die nicht die Eigenschaft eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts hat. Genauer gesagt möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass das betreffende nationale Gericht in einem solchen Fall verpflichtet ist, eine solche Entscheidung unangewendet zu lassen oder sie als nicht existent anzusehen.

 Zu den Hauptzweifeln des vorlegenden Gerichts

61.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht zwischen zwei möglichen Auslegungen der in Rede stehenden Bestimmung schwankt.

62.      Zum einen räumt dieses Gericht ein, dass der Umfang und die Schwere der Verstöße im Ernennungsverfahren und der systemische Charakter der sich daraus ergebenden Auswirkungen im vorliegenden Fall eine automatische Beurteilung der Wirkungen der Tätigkeit eines solchen Organs rechtfertigen könnten, so dass jeder von diesem Organ erlassene Akt kein Urteil im Rechtssinne sei (sententia non existens). Das Urteil W.Ż., das ebenfalls den polnischen Kontext und insbesondere die Zusammensetzung der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten betreffe, könne eine solche Lesart stützen.

63.      Zum anderen könnte eine automatische Beurteilung der Wirkungen einer Entscheidung, die von einem nicht ordnungsgemäß errichteten Gericht erlassen worden sei, zu einem Verstoß gegen andere Grundsätze, insbesondere die Rechtssicherheit und die Rechtskraft, führen.

64.      Insoweit weist das vorlegende Gericht insbesondere darauf hin, dass die Frage des Zeitablaufs als Faktor, der die Notwendigkeit einer solchen automatischen Beurteilung relativiere, Gegenstand des Urteils Ástráðsson/Island gewesen sei. Der EGMR habe dem Vorbringen widersprochen, dass das Fehlen einer Frist für die Beanstandung einer Unregelmäßigkeit im Verfahren zur Ernennung zum Richter dazu führe, dass diese Ernennungen für eine Person, die sich auf das Recht auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht stütze, unbegrenzt anfechtbar würden, und stellte klar, dass „der Schutz der Rechtssicherheit bei der durchzuführenden Abwägung mit Zeitablauf im Vergleich zum Recht der individuellen Prozesspartei auf ein ‚auf Gesetz beruhendes Gericht‘ zunehmendes Gewicht erhalten wird“(38).

 Zum rechtlichen Schicksal einer Maßnahme einer gerichtlichen Instanz, die kein „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ ist

65.      Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Frage der Folgen der Rechtsprechungstätigkeit eines Organs, das kein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, vom Gerichtshof im Urteil Überprüfung Simpson nicht behandelt wurde, da die Unregelmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung von Richtern in dieser Rechtssache nicht als hinreichend schwerwiegend angesehen wurde, um einen Verstoß gegen das Erfordernis eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts feststellen zu können.

66.      In jüngerer Zeit hat sich der Gerichtshof im Urteil W.Ż. zu diesem Punkt geäußert. Meines Erachtens ist es unabdingbar, die Tragweite der in diesem Urteil gegebenen Antwort genau abzugrenzen. Zu diesem Zweck muss der Sachverhalt der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, sorgfältig zusammengefasst werden.

67.       Im Ausgangsverfahren hatte W.Ż., Richter des Sąd Okręgowy w K. (Regionalgericht K., Polen), bei der KRS einen Widerspruch gegen eine Entscheidung eingelegt, mit der er ohne seine Zustimmung in eine andere Abteilung dieses Gerichts versetzt worden war. Die KRS hatte eine Entschließung angenommen, mit der sie das Verfahren über diesen Widerspruch einstellte. W.Ż. hatte daraufhin bei der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einen Rechtsbehelf gegen diese Entschließung eingelegt. In diesem Zusammenhang hatte W.Ż. auch einen Antrag auf Ablehnung aller Richter dieser Kammer wegen ihrer fehlenden Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gestellt, wobei die Prüfung dieses Antrags Sache der Izba Cywilna (Zivilkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) war.

68.      Der gegen diese Entschließung der KRS gerichtete Rechtsbehelf wurde durch Beschluss eines Richters der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten (im Folgenden: streitiger Beschluss), der als Einzelrichter entschied, ohne über die Akte zu verfügen und ohne W.Ż angehört zu haben, für unzulässig erklärt. Die Izba Cywilna (Zivilkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in der Besetzung mit drei Richtern entschied, dass dieser Beschluss unter Verstoß gegen die Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, die es verbiete, eine verfahrensbeendende Entscheidung zu erlassen, solange über den Antrag auf Ablehnung eines Richters nicht entschieden worden sei, und unter Verletzung der Verteidigungsrechte von W.Ż erlassen worden sei.

69.      In seinem Urteil kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Verpflichtung des nationalen Gerichts, die volle Wirksamkeit von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu gewährleisten, es erfordert, dass der streitige Beschluss als nicht existent angesehen wird(39). Aus den Akten ging nämlich hervor, dass das bei der Izba Cywilna (Zivilkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) anhängige Ablehnungsverfahren im Fall der erwiesenen Existenz des streitigen Beschlusses durch eine Erledigungsentscheidung wegen Gegenstandslosigkeit hätte beendet werden müssen. Dagegen hätte eine Feststellung der rechtlichen Inexistenz des streitigen Beschlusses dazu geführt, dass diese Kammer verpflichtet gewesen wäre, den Ablehnungsantrag von W.Ż zu prüfen. Somit war die Folge der rechtlichen Inexistenz nach Auffassung des Gerichtshofs gerechtfertigt, wenn eine solche Folge in Anbetracht der in dieser Rechtssache in Rede stehenden Verfahrenslage unerlässlich ist, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten(40).

70.      Darüber hinaus hat der Gerichtshof – und dies ist von entscheidender Bedeutung – klargestellt, dass „im vorliegenden Fall keine Erwägung, die auf dem Grundsatz der Rechtssicherheit beruht oder mit einer behaupteten Rechtskraft [des streitigen Beschlusses] zusammenhängt, mit Erfolg geltend gemacht werden kann, um ein Gericht wie [das vorlegende Gericht] daran zu hindern, einen solchen Beschluss als nicht existent anzusehen“(41).

71.      Aus dem Urteil W.Ż. geht zum einen hervor, dass sich die Bestimmung des rechtlichen Schicksals von Maßnahmen wie dem streitigen Beschluss und der streitigen Entschließung der KRS von der Notwendigkeit leiten lassen muss, die volle Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes der Betroffenen (und den Vorrang des Unionsrechts) zu gewährleisten, und zum anderen, dass dieses Ergebnis von dem Gericht erreicht werden muss, das den fraglichen Verstoß festgestellt hat, indem es eine Option innerhalb der „Palette“ der im nationalen Recht vorgesehenen Folgen wählt(42).

72.      Dies veranlasst mich zu einer zweifachen Bemerkung zu der Frage, ob die Wirkungen der Tätigkeit einer gerichtlichen Instanz, die kein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, Gegenstand einer automatischen Beurteilung sein müssen, was im Mittelpunkt der Zweifel des vorlegenden Gerichts steht.

73.      Erstens kann das Urteil W.Ż. nicht dahin verstanden werden, dass jede Maßnahme, die von einer nationalen gerichtlichen Instanz erlassen wurde, die kein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, als rechtlich inexistent anzusehen ist. Im Rahmen des durch das Vorabentscheidungsersuchen eingeführten Mechanismus der Zusammenarbeit fällt die Beurteilung des rechtlichen Schicksals einer solchen Maßnahme in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts, das entschieden hat, dass diese Eigenschaft nicht gegeben ist, wobei dieses Gericht verpflichtet ist, diese Zuständigkeit auszuüben, um den effektiven gerichtlichen Rechtsschutz der Betroffenen zu gewährleisten.

74.      Im Übrigen scheint mir diese Feststellung durch das Urteil YP u. a. (Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters)(43) bestätigt zu werden. Der Gerichtshof wurde nach dem rechtlichen Schicksal eines Beschlusses der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) – deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet waren – gefragt, mit dem die Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugelassen wurde, der als Einzelrichter in einer großen Strafsache tätig war, die sich ihrer Endphase näherte, wobei dieser Richter suspendiert und seine Bezüge herabgesetzt wurden. Dazu ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass das vorlegende Gericht, da dieser Beschluss gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstieß, verpflichtet war, den Beschluss unangewendet zu lassen(44), nicht aber, ihn als nicht existent anzusehen.

75.      Zweitens scheint mir aus dem Urteil W.Ż.(45) hervorzugehen, dass die volle Wirkung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dem entgegensteht, dass die Maßnahmen einer gerichtlichen Instanz, die kein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, ihre Wirkungen zwischen den betreffenden Parteien behalten. Der effektive gerichtliche Rechtsschutz des Einzelnen setzt nämlich voraus, dass diese Maßnahmen von dem mit der Rechtssache befassten nationalen Gericht zumindest außer Acht gelassen werden, ohne dass die Grundsätze der Rechtssicherheit oder der Rechtskraft zu einem gegenteiligen Ergebnis führen könnten.

76.      Was den Grundsatz der Rechtskraft angeht, ist mir völlig bewusst, welche Bedeutung er nicht nur in der Unionsrechtsordnung, sondern auch in den nationalen Rechtsordnungen hat. Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, sollen zur Gewährleistung sowohl des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen als auch einer geordneten Rechtspflege gerichtliche Entscheidungen, die nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar geworden sind, nicht mehr in Frage gestellt werden können. Daher verpflichtet das Unionsrecht ein nationales Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte(46).

77.      Es ist jedoch zu beachten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV laut dem Gerichtshof eine klare und präzise Ergebnispflicht, die unbedingt ist, zum Ausdruck bringt und jedes nationale Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeiten die volle Wirksamkeit dieser Bestimmung zu gewährleisten hat. Mit anderen Worten, und wie zuvor in den vorliegenden Schlussanträgen ausgeführt, verliert, wenn festgestellt wird, dass eine gerichtliche Instanz eine der sich aus dieser Bestimmung ergebenden Anforderungen nicht erfüllt, jedes auf die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten gestützte Argument seine Relevanz, so dass die Rechtskraft der von einer solchen Instanz erlassenen Entscheidungen zurücktreten muss.

78.      Eine solche Auslegung ist im Hinblick auf den in Art. 2 EUV verankerten und durch Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV konkretisierten Wert der Rechtsstaatlichkeit zu verstehen(47), der nach Ansicht des Gerichtshofs die grundlegende Prämisse darstellt, auf der die europäische rechtliche Konstruktion beruht(48). Die in Rede stehende Situation scheint somit mit denen vergleichbar zu sein, in denen der Gerichtshof unter Bezugnahme u. a. auf den Grundsatz der praktischen Wirksamkeit die Unanwendbarkeit eines rechtskräftigen nationalen Urteils festgestellt hat, das mit einer Bestimmung des Unionsrechts unvereinbar ist(49).

79.      Unter diesen Umständen muss das Erfordernis der Verwirklichung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes zwangsläufig Vorrang vor dem Grundsatz der Rechtskraft haben.

80.      Hinzuzufügen ist, dass zwar aus dem Urteil Ástráðsson/Island hervorzugehen scheint, dass Unregelmäßigkeiten bei der Ernennung von Richtern, die das Recht auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht verletzen, nicht die Existenz der Entscheidungen selbst berühren, die eine nicht ordnungsgemäß gebildete gerichtliche Instanz erlassen hat, und nicht zwangsläufig zur Verpflichtung führen, die von dieser gerichtlichen Instanz erlassene Entscheidung aufzuheben, insbesondere wenn diese Entscheidungen rechtskräftig sind(50).

81.      Ich räume gerne ein, dass die in den vorliegenden Schlussanträgen vorgeschlagene Auslegung insoweit nicht derjenigen entspricht, die sich aus dem Urteil Ástráðsson/Island ergibt. Dies ist jedoch im Hinblick auf das sich aus Art. 52 Abs. 3 der Charta(51) ergebende Gebot der Kohärenz unproblematisch, da diese Auslegung die Folgen der Feststellung einer Verletzung des Rechts auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht und nicht die Tragweite dieses Rechts betrifft.

82.      Jedenfalls erlaube ich mir insoweit festzustellen, dass die Rolle des Gerichtshofs bei einer Vorabentscheidung darin besteht, den nationalen Gerichten im Vorhinein Hinweise zur Art und Weise der Anwendung des Unionsrechts zu geben, und nicht darin, im Nachhinein zu bestimmen, ob in einem konkreten Fall ein Verstoß vorliegt, wie dies beim EGMR der Fall ist. So hat der Gerichtshof in Bezug auf die Anforderungen an ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht den nationalen Gerichten als den ordentlichen Unionsgerichten die Aufgabe übertragen, die Einhaltung dieser Anforderungen zu überwachen und gegebenenfalls die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes in den betreffenden Mitgliedstaaten wiederherzustellen. Eine solche Aufgabe ist besonders wichtig, wenn es um Gerichtssysteme geht wie das von Polen, die von einer schweren Krise betroffen sind, wo spezifische Unregelmäßigkeiten in den Verfahren zur Ernennung von Richtern auf einer allgemeineren Tendenz beruhen, die darauf abzielt, den Mechanismus des Gleichgewichts der Gewalten in der innerstaatlichen Rechtsordnung zu schwächen und manchmal sogar zu zerstören. Unter diesen Umständen würde eine Berücksichtigung der Rechtskraft zulasten des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes des Einzelnen und seines Rechts auf den gesetzlichen Richter die Erfüllung der oben genannten Aufgabe der nationalen Gerichte behindern, ohne dass dieser Grundsatz der Rechtskraft jedoch seine eigene Aufgabe erfüllt. Die Rechtskraft ist nämlich sicherlich nicht dafür geschaffen, die Stabilität von in dieser Weise geschädigten Gerichtssystemen zu gewährleisten, und im Kontext solcher Systeme fördert sie in keiner Weise das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz.

1.      Zur Anwendung im vorliegenden Fall

83.      Nach alledem bin ich für den Fall, dass das vorlegende Gericht entscheiden sollte, dass der Spruchkörper der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, der das Urteil vom 20. Oktober 2021 erlassen hat, kein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, der Ansicht, dass dieses Gericht Art. 39820 des Kodeks postępowania cywilnego (polnische Zivilprozessordnung)(52) unangewendet lassen sollte, der es verpflichtet, sich an die vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in derselben Rechtssache vorgenommene Rechtsauslegung zu halten(53). Was dieses Urteil vom 20. Oktober 2021 betrifft, müsste es dieses außer Acht lassen oder, wenn eine solche Folge in Anbetracht der in Rede stehenden Verfahrenslage unerlässlich wäre, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten, es als nicht existent ansehen. Die Wahl einer dieser Folgen muss mit den Möglichkeiten im Einklang stehen, die das polnische Recht bietet und von dem Ziel geleitet werden, dem betroffenen Einzelnen, d. h. der Gesellschaft AW „T“, einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu gewährleisten.

84.      Daher muss das vorlegende Gericht meines Erachtens davon absehen, das Urteil des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 20. Oktober 2021 mit der Vollstreckungsklausel zu versehen, so dass sein Urteil vom 9. November 2006 gegenüber der Gesellschaft „R“ seine Rechtskraft wiedererlangen würde.

85.      Diese Schlussfolgerung gilt unabhängig davon, dass das Urteil des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 20. Oktober 2021 nach nationalem Recht rechtskräftig ist. Eine solche Feststellung erscheint im vorliegenden Fall besonders gerechtfertigt. Es ist nämlich daran zu erinnern, dass dieses Urteil am Ende eines Verfahrens ergangen ist, in dem es um die gerichtliche Überprüfung rechtskräftiger Entscheidungen u. a. der ordentlichen Gerichte ging, die als „außerordentlicher Rechtsbehelf“ bezeichnet wird. Dieser Rechtsbehelf, der von einer Reihe öffentlich-rechtlicher Einrichtungen, zu denen der Generalstaatsanwalt gehört, aus einer Reihe von Gründen, die in den einschlägigen polnischen Rechtsvorschriften genannt sind, eingelegt werden kann, gestattet es, rechtskräftige Entscheidungen, die fast 25 Jahre zuvor erlassen wurden, aufzuheben. Aus diesem Grund wurde er von der Kommission(54) und der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (sog. „Venedig-Kommission“)(55) gerade unter dem Gesichtspunkt seiner Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit heftig kritisiert.

86.      Es wäre daher zumindest paradox, anzunehmen, dass ein Urteil, das das Ergebnis eines solchen außerordentlichen Rechtsbehelfsverfahrens darstellt, seine Gültigkeit behalten müsste, weil es rechtskräftig ist.

87.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das ein Urteil erlassen hat, das in einem außerordentlichen Rechtsbehelfsverfahren von einer höherrangigen gerichtlichen Instanz, die die Sache zur erneuten Prüfung an dieses Gericht zurückverwiesen hat, aufgehoben wurde, das Urteil dieser Instanz außer Acht lassen muss oder, wenn eine solche Folge in Anbetracht der in Rede stehenden Verfahrenslage unerlässlich ist, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten, dieses Urteil als nicht existent anzusehen hat, wenn dieses nicht als von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen angesehen werden kann.

 Ergebnis

88.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die dritte und die vierte Vorlagefrage des Sąd Apelacyjny w Krakowie (Berufungsgericht Kraków, Polen) wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht prüfen können muss, ob ein höherrangiges Gericht das Erfordernis eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne dieser Bestimmung erfüllt, sofern Umstände vorliegen, unter denen Zweifel an der Wahrung dieses Erfordernisses aufkommen könnten.

2.      Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts sind dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, das ein Urteil erlassen hat, das in einem außerordentlichen Rechtsbehelfsverfahren von einer höherrangigen gerichtlichen Instanz, die die Sache zur erneuten Prüfung an dieses Gericht zurückverwiesen hat, aufgehoben wurde, das Urteil dieser Instanz außer Acht lassen muss oder, wenn eine solche Folge in Anbetracht der in Rede stehenden Verfahrenslage unerlässlich ist, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten, dieses Urteil als nicht existent anzusehen hat, wenn dieses nicht als von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen angesehen werden kann.

























































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