Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
DEAN SPIELMANN
vom 29. April 2025(1 )
Rechtssache C ‑521/21
MJ
gegen
AA,
Beteiligte:
Rzecznik Praw Obywatelskich,
Prokurator Prokuratury Okręgowej w Poznaniu
(Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Rejonowy Poznań – Stare Miasto w Poznaniu [Rayongericht Posen – Stare Miasto in Posen, Polen])
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 EUV – Verbot für nationale Gerichte, die Legitimität von Gerichten und Verfassungsorganen in Frage zu stellen oder die Rechtmäßigkeit der Ernennung von Richtern oder der richterlichen Befugnisse dieser Richter festzustellen oder zu beurteilen – Notwendigkeit der Überprüfung durch das mit einem Antrag auf Ausschluss eines Richters befasste Gericht, ob bestimmte Anforderungen an das Bestehen eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts erfüllt sind – Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit – Mangelnde Unabhängigkeit der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) – Recht der Kandidaten für ein Richteramt auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Richter, der kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist – Möglichkeit des Ausschlusses eines Richters von einem Spruchkörper “
I. Einleitung
1. Die vorliegende Rechtssache betrifft den Ausschluss einer Richterin der ordentlichen Gerichtsbarkeit angesichts der Umstände ihrer Ernennung. Sie wirft zwei Hauptfragen auf, die dem Gerichtshof vom Sąd Rejonowy Poznań – Stare Miasto w Poznaniu (Rayongericht Poznań – Stare Miasto in Poznań, Polen) vorgelegt wurden. Die erste Frage betrifft die Auswirkungen, die mögliche Verfahrensfehler auf die Gültigkeit der Ernennung der betroffenen Richterin haben können, da deren Kandidatur von der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesrat für Gerichtswesen, Polen, im Folgenden: Landesjustizrat) in ihrer neuen Zusammensetzung empfohlen worden war, während den Kandidaten ein Rechtsbehelf nur vor der Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, Polen, im Folgenden: Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) offenstand, die sich ihrerseits aus Richtern zusammensetzt, die auf Vorschlag des Landesjustizrats in seiner neuen Zusammensetzung ernannt worden waren.
2. Die zweite Frage betrifft die Konsequenzen, die das vorlegende Gericht aus einer solchen Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Ernennung ziehen könnte. Konkret geht es um die Frage, ob das Gericht, das über den Ausschluss zu befinden hat, nach dem Unionsrecht befugt ist, die Rechtmäßigkeit der Ernennung zu beurteilen und gegebenenfalls die erforderlichen verfahrensrechtlichen Schlussfolgerungen zu ziehen.
3. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen fügt sich in einen breiteren Kontext ein, nämlich den der Anwendung der Rechtsprechung zur Unabhängigkeit der Justiz und zur Garantie eines „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ speziell in Bezug auf die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Die Bedeutung dieser Problematik wird durch die Tatsache verstärkt, dass sie potenziell eine große Anzahl von Richtern betreffen könnte und somit Fragen nach der Rechtssicherheit und dem Vertrauen der Öffentlichkeit in das Justizsystem aufwirft.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
4. Für den vorliegenden Fall sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) relevant.
B. Polnisches Recht
1. Verfassung
5. In Art. 179 der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej (Verfassung der Republik Polen, im Folgenden: Verfassung) heißt es:
„Die Richter werden vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag de[s Landesjustizrats] auf unbestimmte Zeit ernannt.“
6. Art. 186 Abs. 1 der Verfassung sieht vor:
„D[er Landesjustizrat] schützt die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter.“
7. Art. 187 der Verfassung bestimmt:
„1. Der [Landesjustizrat] besteht aus:
1) dem Ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], dem Justizminister, dem Präsidenten des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht, Polen)] und einer vom Präsidenten der Republik ernannten Person,
2) fünfzehn Mitgliedern, die aus der Mitte der Richter des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungs- und der Militärgerichte gewählt worden sind,
3) vier Mitgliedern, die vom Sejm [(Erste Kammer des Parlaments, Polen)] aus der Mitte der Abgeordneten gewählt worden sind, und zwei Mitgliedern, die vom Senat aus der Mitte der Senatoren gewählt worden sind.
…
3. Die Amtszeit der gewählten Mitglieder des [Justizrats] beträgt vier Jahre.
4. Die Ordnung, den Umfang der Tätigkeit und die Arbeitsweise des [Justizrats] sowie die Wahl seiner Mitglieder regelt ein Gesetz.“
2. Gesetz über den Landesjustizrat
8. Art. 9a der Ustawa z dnia 12 maja 2011 r. o Krajowej Radzie Sądownictwa (Gesetz vom 12. Mai 2011 über den Landesjustizrat, Dz. U. 2011, Nr. 126, Position 714) in der durch die Ustawa z dnia 8 grudnia 2017 r. o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw (Gesetz vom 8. Dezember 2017 zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze, Dz. U. 2018, Position 3) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz über den Landesjustizrat) bestimmt:
„1. Der Sejm [(Erste Kammer des Parlaments)] wählt aus den Reihen der Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], an den ordentlichen Gerichten, an den Verwaltungsgerichten und an den Militärgerichten 15 Mitglieder des [Landesjustizrats] für eine gemeinsame Amtszeit von vier Jahren.
2. Bei der Wahl nach Abs. 1 trägt der Sejm [(Erste Kammer des Parlaments)] so weit wie möglich dem Erfordernis Rechnung, dass Richter der verschiedenen Arten und Ebenen von Gerichten im [Landesjustizrat] vertreten sein sollten.
3. Die gemeinsame Amtszeit der aus den Reihen der Richter gewählten neuen Mitglieder des [Landesjustizrats] beginnt an dem auf ihre Wahl folgenden Tag. Die scheidenden Mitglieder des [Landesjustizrats] üben ihre Tätigkeit bis zu dem Tag aus, an dem die gemeinsame Amtszeit der neuen Mitglieder des [Landesjustizrats] beginnt.“
9. Art. 44 des Gesetzes über den Landesjustizrat, dessen Abs. 1b durch die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und einiger anderer Gesetze) vom 20. Juli 2018 (Dz. U. 2018, Position 1443) sah vor:
„1. Ein Teilnehmer an dem Verfahren kann gegen die Entschließung des [Landesjustizrats] einen Rechtsbehelf beim Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] mit der Begründung einlegen, dass diese rechtswidrig sei, soweit nicht besondere Bestimmungen etwas anderes vorsehen. …
1a. In Individualverfahren, die eine Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] betreffen, kann ein Rechtsbehelf beim Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] eingelegt werden. In diesen Fällen kann kein Rechtsbehelf beim Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] eingelegt werden. Der Rechtsbehelf zum Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] kann nicht damit begründet werden, dass nicht zutreffend beurteilt worden sei, ob die Kandidaten die Kriterien erfüllen, die bei der Entscheidung über die Einreichung des Vorschlags für die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] berücksichtigt werden.
1b. Haben in Individualverfahren, die eine Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] betreffen, nicht alle Teilnehmer an dem Verfahren die in Art. 37 Abs. 1 genannte Entschließung angefochten, wird diese Entschließung für die Teilnehmer, die keinen Rechtsbehelf eingelegt haben, in dem Teil bestandskräftig, in dem die Entscheidung über die Einreichung eines Vorschlags für die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] bzw. die Entscheidung, keinen Vorschlag für die Ernennung zum Richter an diesem Gericht einzureichen, enthalten ist.
2. Der Rechtsbehelf ist über den Przewodniczący [(Präsident des Landesjustizrats)] innerhalb von zwei Wochen nach Mitteilung der mit Gründen versehenen Entschließung einzureichen. …“
3. Gesetz über das Oberste Gericht
10. Durch die Ustawa z dnia 8 grudnia 2017 r. o Sądzie Najwyższym (Gesetz vom 8. Dezember 2017 über das Oberste Gericht, Dz. U. 2018, Position 5, im Folgenden: Gesetz über das Oberste Gericht) wurde beim Sąd Najwyższy (Oberster Gerichtshof) u. a. die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten eingerichtet.
11. Art. 26 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der durch die Ustawa z dnia 20 grudnia 2019 o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz vom 20. Dezember 2019 zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze, Dz. U. 2020, Position 190) geänderten Fassung bestimmt:
„§ 1 Die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ist zuständig für außerordentliche Rechtsbehelfe, Wahlstreitigkeiten und Anfechtungen der Gültigkeit eines nationalen Referendums oder eines Verfassungsreferendums, für die Feststellung der Gültigkeit von Wahlen und Referenden und andere öffentlich-rechtliche Fälle, einschließlich Streitigkeiten über den Schutz des Wettbewerbs, die Regulierung der Energie- und Telekommunikationswirtschaft und des Eisenbahnverkehrs sowie Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen des Przewodniczący Krajowej Rady Radiofonii i Telewizji [(Vorsitzender des Nationalen Rundfunkrats, Polen)], sowie für Beschwerden wegen überlanger Verfahrensdauer vor den ordentlichen Gerichten, den Militärgerichten und dem Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)].
§ 2 Die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ist zuständig für Anträge oder Erklärungen betreffend den Ausschluss eines Richters oder die Bestimmung des Gerichts, bei dem ein Verfahren geführt werden soll, mit denen die fehlende Unabhängigkeit des Gerichts oder des Richters gerügt wird. Das mit der Sache befasste Gericht übermittelt dem Präsidenten der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten unverzüglich den Antrag, damit dieser nach den in gesonderten Vorschriften festgelegten Regeln weiter behandelt wird. Durch die Übermittlung des Antrags an den Präsidenten der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten wird das laufende Verfahren nicht ausgesetzt.
§ 3 Der Antrag nach § 2 wird nicht geprüft, wenn er die Feststellung und die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung betrifft.
…“
4. Zivilprozessordnung
12. Art. 47 der Ustawa z dnia 17 listopada 1964 r. – Kodeks postępowania cywilnego (Gesetz vom 17. November 1964 über die Zivilprozessordnung, Dz. U. 1964, Nr. 43, Position 296) in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Zivilprozessordnung) sieht vor:
„§ 1 In erster Instanz verhandelt das Gericht in Einzelrichterbesetzung, sofern nicht durch eine gesonderte Regelung etwas anderes bestimmt wird.
…
§ 2 Anordnungen außerhalb der Verhandlung werden von einem Einzelrichter erlassen.
…“
13. Art. 48 der Zivilprozessordnung sieht vor:
„§ 1 Ein Richter ist kraft Gesetzes ausgeschlossen:
1) in Rechtssachen, in denen er Partei ist oder in denen er mit einer der Parteien in einem solchen Rechtsverhältnis steht, dass der Ausgang der Rechtssache seine Rechte oder Pflichten berührt;
…
5) in Rechtssachen, in denen er in einer Vorinstanz am Erlass der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, in Rechtssachen, die die Gültigkeit eines Rechtsakts betreffen, der unter seiner Mitwirkung zustande gekommen ist oder von ihm überprüft wurde, sowie in Rechtssachen, in denen er als Prokurator [(Staatsanwalt, Polen)] tätig war;
…“
14. Art. 49 der Zivilprozessordnung bestimmt:
„Unabhängig von den in Art. 48 genannten Gründen schließt das Gericht auf Antrag des Richters oder einer Partei einen Richter aus, wenn ein Umstand vorliegt, der berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit dieses Richters in der betreffenden Rechtssache aufkommen lassen könnte.“
15. Art. 50 der Zivilprozessordnung sieht vor:
„§ 1 Eine Partei beantragt den Ausschluss eines Richters schriftlich oder durch mündliche Erklärung zur Niederschrift bei dem Gericht, bei dem die betreffende Rechtssache anhängig ist, und legt die Gründe für den Ausschluss dar.
§ 2 Eine Partei, die an der Verhandlung teilgenommen hat, muss zudem nachweisen, dass der den Ausschluss rechtfertigende Umstand erst später eingetreten ist oder ihr zur Kenntnis gebracht wurde.
§ 3 Bis zur Entscheidung über den Antrag auf Ausschluss eines Richters
1) kann der von dem Antrag betroffene Richter weitere Maßnahmen ergreifen;
2) darf keine Entscheidung oder Maßnahme erlassen werden, die das Verfahren beendet.“
III. Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof
16. Das Ausgangsverfahren hat seinen Ursprung in einem Rechtsstreit zwischen zwei natürlichen Personen über eine Forderung aus einem Dienstleistungsvertrag, den die Parteien im Rahmen ihrer jeweiligen Geschäftstätigkeit geschlossen haben. Der Kläger verlangte vom Beklagten u. a. die Zahlung einer Entschädigung, wie sie in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7/EU(2 ) vorgesehen ist.
17. Mit Schriftsatz vom 21. Mai 2021 beantragte der Beklagte des Ausgangsverfahrens, die mit diesem Verfahren befasste Richterin S. C. auszuschließen. Er machte geltend, dass diese Richterin nicht wirksam zur Richterin ernannt worden sei, weil die ihre Ernennung betreffende Entschließung vom Landesjustizrat gefasst worden sei, dessen Verfassungsmäßigkeit durch den Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) in Frage gestellt worden sei.
18. Die mit dem Ausgangsverfahren befasste Richterin erklärte im Zusammenhang mit dem gegen sie gerichteten Ausschlussantrag, dass nach ihrer Ansicht keine Umstände vorlägen, die Zweifel an ihrer Unparteilichkeit aufkommen lassen könnten, und es keine Gründe gebe, um sie von der Befassung mit der Sache auszuschließen.
19. Dieser Ausschlussantrag wurde dem vorlegenden Gericht, das als Einzelrichter entscheidet, zur Prüfung vorgelegt.
20. In diesem Zusammenhang stellt sich das vorlegende Gericht Fragen zu einigen Aspekten der Ernennung der Richterin S. C. Im Einzelnen führt es aus, dass die Richterin S. C. vom Präsidenten der Republik Polen auf Vorschlag des Landesjustizrats in seiner neuen Zusammensetzung zur Richterin am Sąd Rejonowy Poznań – Stare Miasto w Poznaniu (Rayongericht Poznań – Stare Miasto in Poznań) ernannt worden sei.
21. In diesem Zusammenhang stellt das vorlegende Gericht klar, dass für diese Stelle drei Bewerbungen eingereicht wurden, darunter die von S. C., die seit dem Jahr 2016 leitende Hilfsrichterin am Sąd Okręgowy w Poznaniu (Regionalgericht Poznań, Polen) war. Am 21. September 2018 gab das Kollegium des Regionalgerichts Poznań eine positive Stellungnahme bezüglich der Richterin S. C. ab, und am 24. September 2018 gab die Versammlung der Vertreter der Richter der Rayongerichte im Bezirk des Regionalgerichts Poznań ebenfalls eine positive Stellungnahme zur Kandidatur dieser Richterin ab.
22. Mit Entschließung Nr. 611/2018 vom 4. Dezember 2018 schlug der Landesjustizrat dem Präsidenten der Republik Polen die Ernennung der Richterin S. C. vor, ohne die Ernennung der beiden anderen Kandidaten vorzuschlagen. Die nicht vorgeschlagenen Kandidaten legten gegen diese Entschließung keinen Rechtsbehelf gemäß Art. 44 Abs. 1 des Gesetzes über den Landesjustizrat ein. Am 14. März 2019 entschied der Präsident der Republik Polen, S. C. zur Richterin zu ernennen.
23. Das nationale Gericht hegt in diesem Zusammenhang Zweifel, ob zum einen das Verfahren zur Ernennung der betreffenden Richterin – insbesondere in Anbetracht der Zusammensetzung und der Rolle des Landesjustizrats in diesem Verfahren sowie des Fehlens des Rechts der an diesem Verfahren Beteiligten auf einen wirksamen Rechtsbehelf – und zum anderen die Bestimmungen des nationalen Rechts, die die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters der ausschließlichen Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten zuweisen, mit dem Unionsrecht vereinbar sind.
24. Unter diesen Umständen hat der Sąd Rejonowy Poznań – Stare Miasto w Poznaniu (Rayongericht Poznań – Stare Miasto in Poznań) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie Art. 6 Abs. 1 bis 3 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass ein Gericht, dem eine Person angehört, die zum Richter an diesem Gericht in einem Verfahren ernannt wurde,
a) in dem die Auswahl der Person, die dem Präsidenten der Republik Polen für die Richterernennung vorgeschlagen wurde, der derzeitige Landesjustizrat vorgenommen hat, der unter Verletzung der polnischen Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen gewählt wurde, der keine unabhängige Einrichtung ist und dem keine Vertreter der Richterschaft angehören, die dorthin unabhängig von der Exekutive und der Legislative entsandt wurden, so dass kein wirksamer Antrag auf Ernennung des Richters nach den nationalen Rechtsvorschriften gestellt worden ist,
b) wobei den Teilnehmern des Auswahlverfahrens kein Rechtsbehelf bei einem Gericht im Sinne von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie Art. 6 Abs. 1 bis 3 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta offenstand, kein durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne des Unionsrechts ist?
2. Sind Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie in einer Situation, in der dem Spruchkörper eine Person angehört, die unter den in Nr. 1 beschriebenen Umständen ernannt wurde,
a) im Hinblick auf den institutionellen und systemischen Kontext der Anwendung von innerstaatlichen Vorschriften entgegenstehen, die die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ernennung dieser Person zum Richter der ausschließlichen Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten zuweisen, die sich ausschließlich aus Personen zusammensetzt, die unter den in Nr. 1 beschriebenen Umständen zu Richtern ernannt wurden, und zudem anordnen, dass Einwände, die die Ernennung eines Richters betreffen, nicht geprüft werden,
b) erfordern, dass zu Zwecken der Sicherstellung der Wirksamkeit des europäischen Rechts die innerstaatlichen Rechtsvorschriften in einer Weise ausgelegt werden, die es dem Gericht ermöglicht, eine solche Person in analoger Anwendung der Bestimmungen über die Ausschließung eines Richters, der zum Rechtsprechen ungeeignet ist (iudex inhabilis ), auch von Amts wegen vom Verfahren auszuschließen,
c) erfordern, dass das nationale Gericht zu Zwecken der Anwendung des Unionsrechts und der Erzielung seines „effet utile“ ein Urteil des nationalen Verfassungsgerichtshofs unangewendet lässt, soweit in diesem Urteil die Prüfung eines Antrags auf Ausschluss eines Richters wegen fehlerhafter Ernennung des Richters, die die Vorgaben der Europäischen Union zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta nicht erfüllt hat, als mit dem nationalen Recht unvereinbar eingestuft wird,
d) erfordern, dass das nationale Gericht zu Zwecken der Anwendung des Unionsrechts und der Erzielung seines „effet utile“ ein Urteil des nationalen Verfassungsgerichtshofs unangewendet lässt, sofern es der Umsetzung eines Beschlusses des Gerichtshofs der Europäischen Union über eine einstweilige Anordnung entgegensteht, mit dem die Aussetzung der Anwendung der nationalen Bestimmungen angeordnet wurde, die es den nationalen Gerichten unmöglich machen, die Erfüllung der Vorgaben der Europäischen Union zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta zu prüfen?
25. Der Prokurator Prokuratury Okręgowej w Poznaniu (Regionalstaatsanwaltschaft Poznań, im Folgenden: Regionalstaatsanwaltschaft), der Rzecznik Praw Obywatelskich (Beauftragter für Bürgerrechte, Polen, im Folgenden: Bürgerbeauftragter), die polnische, die belgische, die dänische, die niederländische, die finnische und die schwedische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens (AA), die polnische Regierung, der Bürgerbeauftragte und die Kommission haben in der Sitzung vom 7. Januar 2025 mündlich verhandelt.
IV. Würdigung
A. Zur Zuständigkeit und Zulässigkeit
26. Die Regionalstaatsanwaltschaft hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig(3 ), weil es die Organisation der Justiz betreffe, einen Bereich, der nicht in den Zuständigkeitsbereich der Union falle, und dem Ersuchen daher der Anknüpfungspunkt zum Unionsrecht fehle. Sie ist der Ansicht, dass das vorlegende Gericht nicht darlege, inwiefern die betreffende Richterin keine Unabhängigkeit genieße oder nicht ordnungsgemäß ernannt worden sei, so dass die Frage rein hypothetisch sei. Außerdem trägt sie vor, dass der Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsersuchens weder über die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu entscheiden noch das nationale Recht auszulegen habe. Sie führt weiter aus, dass das vorlegende Gericht Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs nicht beachtet habe, da es nicht erkläre, warum die Auslegung des Unionsrechts erforderlich sei und wie dieses mit dem nationalen Recht zusammenhänge.
27. Meines Erachtens sind die von der Regionalstaatsanwaltschaft vorgebrachten Argumente auf der Grundlage der gefestigten Rechtsprechung in diesem Bereich zurückzuweisen.
28. Was nämlich erstens das Argument der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für Fragen der Organisation der Justiz und der fehlenden Zuständigkeit des Gerichtshofs für Vorabentscheidungsersuchen zur Frage der Ernennung nationaler Richter betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten zwar in deren Zuständigkeitsbereich fällt, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben, und dass dies insbesondere dann der Fall sein kann, wenn es sich um nationale Vorschriften zum Erlass von Entscheidungen über die Ernennung von Richtern und gegebenenfalls um Vorschriften über die im Zusammenhang mit solchen Ernennungsverfahren anwendbare gerichtliche Kontrolle handelt(4 ).
29. Da die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen im Wesentlichen die Tragweite von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht von Art. 47 der Charta(5 ) im Hinblick auf das Verfahren zur Ernennung der Richterin S. C. betreffen, fällt eine solche Auslegung daher in die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV(6 ).
30. Was zweitens das Argument betrifft, das vorlegende Gericht habe keine besonderen Umstände festgestellt, die darauf hindeuten könnten, dass die Richterin, gegen die sich der Ausschlussantrag richte, keine Gewähr für ihre Unabhängigkeit biete oder nicht ordnungsgemäß ernannt worden sei, halte ich dieses Vorbringen für unbegründet, weil die Frage des vorlegenden Gerichts gerade darauf abzielt, ob die nationale Regelung, nach der die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Richterin ernannt worden ist, mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vereinbar ist.
31. Drittens ist meines Erachtens auch das Argument zurückzuweisen, das vorlegende Gericht habe die Verpflichtungen aus Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs nicht eingehalten. Das Vorabentscheidungsersuchen enthält nämlich alle erforderlichen Informationen, insbesondere den Wortlaut der möglicherweise auf den vorliegenden Fall anwendbaren nationalen Vorschriften, die Gründe, die das vorlegende Gericht dazu veranlasst haben, den Gerichtshof um die Auslegung der in den Fragen genannten Vorschriften des Unionsrechts zu ersuchen, sowie den von diesem Gericht hergestellten Zusammenhang zwischen diesen Vorschriften und den angeführten nationalen Vorschriften. Daher bin ich der Ansicht, dass der Gerichtshof über alle erforderlichen Angaben verfügt, um über die beiden Vorabentscheidungsfragen zu entscheiden.
B. Zu den Vorabentscheidungsfragen
1. Erste Frage
a) Gegenstand der ersten Frage
32. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es möglich ist, eine Richterin als ein unabhängiges, durch Gesetz errichtetes Gericht anzusehen, wenn sie nach einem Ernennungsverfahren ernannt wurde, das zwei Merkmale aufweist: Zum einen wurde die Kandidatur der Betroffenen von dem neuen Landesjustizrat empfohlen, der nach der Reform des Gesetzes über den Landesjustizrat eingerichtet wurde, und zum anderen hatten die Kandidaten für diese Ernennung nur ein Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf bei der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten.
33. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es letztlich Sache des vorlegenden Gerichts sein wird, im Licht aller in der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Grundsätze und nach Vornahme der hierfür erforderlichen Beurteilungen darüber zu befinden, ob die Bedingungen, unter denen die betreffende Richterin ernannt wurde, insgesamt betrachtet den Schluss zulassen, dass sie ein unabhängiges und unparteiisches, zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne des Unionsrechts ist(7 ). Dieser Umstand hindert den Gerichtshof jedoch nicht daran, das Unionsrecht im Rahmen der durch Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten unter Berücksichtigung der Akten auszulegen, soweit dies den innerstaatlichen Gerichten bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte(8 ).
b) Rechtsprechungskriterien: Unabhängigkeit und „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“
34. Um zu klären, ob im Ausgangsverfahren die betreffende Richterin die Anforderungen an die Unabhängigkeit und an ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt, muss meines Erachtens zunächst beschrieben werden, wie der Gerichtshof diese Frage beurteilt, welche Kriterien er zugrunde legt, welche Methode er anwendet und wie seine bisherige Rechtsprechung die Aspekte der Zusammensetzung des Landesjustizrats und des Fehlens eines Rechtsbehelfs für nicht erfolgreiche Kandidaten behandelt. In diesem Zusammenhang ist auch die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) zu berücksichtigen(9 ).
35. Ich stelle erstens fest, dass das Recht auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht nach ständiger Rechtsprechung sowohl des Gerichtshofs als auch des EGMR auch das Verfahren zur Ernennung der Richter umfasst(10 ). Soweit es um das Kriterium der Beurteilung der Auswirkungen einer Vorschriftswidrigkeit bei der Ernennung auf die Einhaltung der Garantie eines durch Gesetz errichteten Gerichts geht, reicht es nicht aus, irgendeine Vorschriftswidrigkeit festzustellen. Vielmehr ist auf die Art und den Schweregrad der Vorschriftswidrigkeit abzustellen. So hat der Gerichtshof anerkannt, dass eine bei der Ernennung der Richter im betroffenen Justizsystem begangene Vorschriftswidrigkeit einen Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta darstellt, insbesondere dann, wenn die Art und Schwere der Vorschriftswidrigkeit dergestalt ist, dass sie die tatsächliche Gefahr begründet, dass andere Teile der Staatsgewalt – insbesondere die Exekutive – ein ihnen nicht zustehendes Ermessen ausüben können, wodurch die Integrität des Ergebnisses des Ernennungsverfahrens beeinträchtigt und so beim Einzelnen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des oder der betreffenden Richter geweckt werden, was der Fall ist, wenn es um Grundregeln geht, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit dieses Justizsystems sind(11 ).
36. Nach diesem Kriterium muss die Vorschriftswidrigkeit die für das Ernennungsverfahren geltenden Regeln betreffen und eine solche Art und Schwere aufweisen, dass sie die tatsächliche Gefahr einer Willkür der öffentlichen Behörden – insbesondere der Exekutive – hervorrufen kann, die geeignet ist, das Vertrauen der Rechtsuchenden in die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz zu erschüttern.
37. Wie oben in Nr. 35 festgestellt, betont der Gerichtshof insoweit die Notwendigkeit, zu prüfen, ob die Integrität des Ernennungsverfahrens beeinträchtigt und so beim Einzelnen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des oder der betroffenen Richter geweckt werden. Dieser Ansatz legt meines Erachtens nahe, dass die Schwere der Vorschriftswidrigkeit des Ernennungsverfahrens nicht nur objektiv und abstrakt beurteilt werden kann. Die Frage, ob diese Vorschriftswidrigkeit geeignet ist, das Vertrauen der Rechtsuchenden in die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betreffenden Richters zu untergraben, ist auch aus der Sicht dieser Rechtsuchenden zu prüfen. Wie sich aus dem Urteil W. Ż. zur Unabhängigkeit der Gerichte in der Republik Polen ergibt, geht der Gerichtshof zudem in zwei Schritten vor: Zunächst prüft er, ob eine Grundregel verletzt wurde, und dann, ob diese Verletzung die Integrität der Ernennung des Richters beeinträchtigt und die tatsächliche Gefahr eines Eingriffs der Exekutive herbeigeführt hat(12 ).
38. Zweitens steht die Garantie des „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ in einer sehr engen Verbindung mit dem Erfordernis der Unabhängigkeit(13 ). Streng logisch gesehen geht die Voraussetzung eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts zwar der Prüfung seiner Unabhängigkeit voraus(14 ). Obwohl es sich nicht um identische Garantien in der Architektur eines fairen Verfahrens handelt, sind sie in ihrer Substanz und ihrem Zweck eng miteinander verbunden: Wie der EGMR im Urteil Ástráðsson/Island festgestellt hat, zielen beide Garantien darauf ab, die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung zu wahren, indem sie das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz sicherstellen(15 ). Diese Wechselwirkung zwischen der Unabhängigkeit eines Gerichts und der Anforderung, dass es „durch Gesetz errichtet“ sein muss, findet sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofs wieder und äußert sich in der Praxis darin, dass die Feststellung der Nichtbeachtung des Erfordernisses eines „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ auch zur Feststellung einer Verletzung des Grundsatzes der Unabhängigkeit dieses Gerichts führen kann(16 ).
39. Dieser Hinweis scheint mir insofern wichtig, als er drittens die Methode beleuchtet, nach der der Gerichtshof beurteilt, ob ein Gericht durch Gesetz errichtet worden ist. Unabhängig davon, ob es sich um Rechtssachen handelt, die die Unabhängigkeit eines Gerichts oder die Existenz eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts betreffen, verlangt der Gerichtshof nämlich, dass sich die Prüfung dieser Garantien nicht nur auf die Regeln für die Ernennung von Richtern beschränkt, sondern auch eine Reihe von Kontextfaktoren berücksichtigt, die mit der Natur und der Funktionsweise des betreffenden Justizorgans zusammenhängen.
40. So beschränkten sich die Gesichtspunkte, die in der Rechtssache A. K. bei der Beurteilung der Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu berücksichtigen waren, nicht auf das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder des Landesjustizrats, sondern erstreckten sich auch auf andere Gesichtspunkte, die für die betreffende Instanz typisch sind, wie z. B. die Zuständigkeit dieser Kammer(17 ), die besonderen Bedingungen ihrer Einrichtung(18 ), ihre Zusammensetzung sowie ihre Art und ihre Autonomie innerhalb des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)(19 ).
41. Desgleichen erwähnt der Gerichtshof im Urteil W. Ż. bei der „Gesamtheit der Umstände, unter denen die Ernennung des betreffenden Richters erfolgt ist“(20 ), nicht nur die neue Zusammensetzung des Landesjustizrats(21 ), sondern auch die „besonderen Umstände, unter denen der betreffende Richter vom Präsidenten der Republik [Polen] zum Richter der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ernannt wurde“(22 ).
42. Daraus geht hervor, dass der Gerichtshof einen „ganzheitlichen Ansatz“ verfolgt(23 ): Eine Reihe isoliert betrachteter Faktoren kann sich als unzureichend erweisen, um eine Verletzung der Garantie eines „unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ festzustellen, während ihre Gesamtbetrachtung einen berechtigten Zweifel an der Einhaltung dieser Garantie nähren kann(24 ). Wie in den Nrn. 40 und 41 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, berücksichtigt der Gerichtshof in den Rechtsstreitigkeiten über die Unabhängigkeit der Gerichte in Polen, in denen der Landesjustizrat am Verfahren zur Ernennung der Richter beteiligt ist, Gesichtspunkte, die mit der Zusammensetzung dieser Einrichtung in Verbindung stehen, um das Vorhandensein von Zweifeln an ihrer Unabhängigkeit zu bewerten; diese Gesichtspunkte reichen jedoch – und das ist ein wesentlicher Punkt – allein nicht aus, um die Frage der Ordnungsmäßigkeit der Ernennung des Richters oder des betreffenden Gerichts erschöpfend zu beantworten.
43. Viertens ist darauf hinzuweisen, dass die Absicht der nationalen Behörden gegebenenfalls einen zusätzlichen Faktor bei der Gesamtbetrachtung der relevanten Umstände in Bezug auf die Frage darstellen kann, ob ein Justizorgan „zuvor durch Gesetz errichtet“ ist. So führt der Gerichtshof im Urteil A. B. aus, dass der polnische Gesetzgeber das spezifische Bestreben verfolgte, jede Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle der Ernennungen, die auf Vorschlag des neu zusammengesetzten Landesjustizrats vorgenommen wurden, einschließlich der Ernennungen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), zu verhindern(25 ).
44. In Anbetracht der in Nr. 38 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Wechselbeziehung zwischen dem Erfordernis der Unabhängigkeit und dem Erfordernis eines „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ kann davon ausgegangen werden, dass die Prüfung der tatsächlichen Absichten der nationalen Behörden bei der Ausarbeitung der Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung von Richtern ebenfalls für die Beurteilung relevant sein kann, ob die Bedingungen, unter denen die Ernennung eines Richters erfolgte, deren Integrität beeinträchtigt haben.
c) Die beiden im Ausgangsverfahren beanstandeten Merkmale: der neue Landesjustizrat und das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs
45. Da ich nun zur Prüfung der ersten im Ausgangsverfahren gestellten Frage übergehe, sind die oben dargelegten Grundsätze der vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Problematik gegenüberzustellen, die sich auf die beiden Merkmale bezieht, die die Ernennung der betreffenden Richterin kennzeichnen: zum einen die Zusammensetzung und die Rolle des neuen Landesjustizrats und zum anderen das Fehlen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelfs der nicht berücksichtigten Kandidaten gegen die Entschließung des Landesjustizrats.
46. Ich werde diese Frage in zwei Schritten untersuchen. Zunächst werde ich analysieren, ob jeder dieser beiden Umstände für sich genommen die Schlussfolgerung zulässt, dass ein Richter, der am Ende eines solchen Verfahrens ernannt wurde, kein „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ ist. Anschließend werde ich beurteilen, ob die Kombination dieser beiden Umstände zur selben Schlussfolgerung führt.
47. Ich muss einräumen, dass die untersuchte Frage ausgesprochen komplex ist und dass sich die dem Gericht vorzuschlagende Lösung nicht von vornherein aufdrängt. Es steht tatsächlich sehr viel auf dem Spiel. Wie der Bürgerbeauftragte, die polnische Regierung und die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt haben, sind in Polen etwa 3 000 Richter auf Vorschlag des Landesjustizrats ernannt worden. Daher würde die Anerkennung der Möglichkeit, einen Richter allein aufgrund der Einbindung des Landesjustizrats in seiner neuen Zusammensetzung in das Verfahren zur Ernennung dieses Richters auszuschließen, in der Praxis dazu führen, den Vorwurf der nicht ordnungsgemäßen Ernennung – de facto mit einer Wirkung erga omnes – auf alle diese Richter auszudehnen. Dies würde eine erhebliche Gefahr für die Kontinuität des öffentlichen Justizdiensts, die Rechtssicherheit und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Institution der Justiz mit sich bringen.
48. Es ist sicherlich verlockend, sich im Hinblick auf die entscheidende Rolle des Landesjustizrats für eine grundsätzliche Lösung zu entscheiden, nach der allein die Tatsache, dass die Ernennung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Richterin vom neuen Landesjustizrat vorgeschlagen wurde, ausreichen würde, um deren Eigenschaft als zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht zu verneinen. Ein derart rigoroser und radikaler Ansatz würde zwar auf den ersten Blick eine einheitliche und klare Antwort bieten.
49. Die konkrete Realität eines komplexen Rechtssystems darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden. Das nationale Gericht, das in dieser Realität und in einem anspruchsvollen rechtlichen Umfeld tätig wird, braucht klare Anhaltspunkte, um seine Aufgabe zu erfüllen. Daher kann es nicht ausreichen, die Frage an die innerstaatliche Ebene zurückzuverweisen, ohne echte Orientierungshilfen zu geben. Um die Rechtssicherheit zu wahren und die Stabilität der Funktion der Rechtsprechung zu gewährleisten, muss eine nuancierte, aber kohärente Position entwickelt werden, die geeignet ist, einerseits die wirksame Einhaltung der Grundsätze der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit und andererseits die Aufrechterhaltung des öffentlichen Vertrauens in die Justiz zu gewährleisten.
50. Wie noch auszuführen sein wird, möchte ich die Gründe aufzeigen, warum meines Erachtens keines der beiden in Nr. 45 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Merkmale – für sich genommen oder zusammen betrachtet – automatisch zu der Schlussfolgerung führen kann, dass die betreffende Richterin kein „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ ist. Meines Erachtens obliegt es nämlich dem nationalen Gericht, jedes Mal eine konkrete Beurteilung vorzunehmen, indem es den rechtlich-faktischen Kontext und andere Aspekte berücksichtigt, die sich auf die besondere Situation jedes betroffenen Richters oder Spruchkörpers beziehen.
1) Erster Aspekt
51. Zur Relevanz der Tatsache, dass die Kandidatur der betreffenden Richterin vom neuen Landesjustizrat vorgeschlagen wurde, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits festgestellt hat, dass die Verkürzung der laufenden Amtszeit einiger Mitglieder des Landesjustizrats(26 ) in Verbindung mit der Tatsache, dass die 15 der Richterschaft angehörenden Mitglieder dieses Organs, die zuvor von ihren Kollegen gewählt wurden, nunmehr von einem Teil der Legislative benannt werden, dazu geführt hat, dass 23 der 25 Mitglieder des Landesjustizrats in seiner neuen Zusammensetzung von der Exekutive und der Legislative benannt wurden oder ihnen angehören, und dies alles in einem Kontext, in dem absehbar war, dass viele Richterstellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) bald frei werden würden(27 ).
52. Unter Berücksichtigung von Art. 179 der Verfassung, der dem Landesjustizrat eine entscheidende Rolle im Verfahren zur Ernennung von ordentlichen Richtern zuweist, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die mit der Zusammensetzung des neuen Landesjustizrats in Verbindung stehenden Umstände berechtigte Zweifel an dessen Unabhängigkeit aufkommen lassen konnten(28 ), was ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ernennung der betroffenen Richterin sein muss.
53. In dieser Hinsicht scheint mir das Urteil Openbaar Ministerie, das die Vollstreckung von Haftbefehlen in Polen gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten(29 ) betrifft, besonders relevant zu sein.
54. In diesem Urteil hat der Gerichtshof geprüft, ob das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Beeinträchtigungen der Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats die Ablehnung der vollstreckenden Justizbehörde, die gesuchte Person zu übergeben, rechtfertigen kann. Der Gerichtshof räumt ein, dass der Umstand, dass eine Einrichtung wie der Landesjustizrat, der in das Verfahren zur Ernennung von Richtern eingebunden ist, überwiegend aus Mitgliedern besteht, die von der Legislative ausgewählt werden, für sich genommen nicht ausreicht, um die Unabhängigkeit der am Ende dieses Verfahrens ernannten Richter in Zweifel zu ziehen(30 ). Er bevorzugt somit einen umfassenden Ansatz, weist aber darauf hin, dass etwas anderes gelten kann, wenn dieser Umstand in Verbindung mit anderen relevanten Gesichtspunkten und den Bedingungen, unter denen diese Entscheidungen getroffen wurden, zu solchen Zweifeln führt(31 ).
55. Meines Erachtens können die Erwägungen des Gerichtshofs in dieser Rechtssache, obwohl sie im Zusammenhang mit der Vollstreckung von Haftbefehlen stehen, auf den vorliegenden Fall analog angewandt werden, da sich der Gerichtshof im Urteil Openbaar Ministerie im Wesentlichen mit der Frage befasst, ob sich die Grundsätze, die sich aus der Rechtsprechung zu den Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Sinne von Art. 47 der Charta ergeben, auch auf die Garantie eines „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ im Zusammenhang mit der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls erstrecken.
56. Ich bin daher der Auffassung, dass im Kontext der vorliegenden Rechtssache die bloße Einbindung einer Einrichtung wie des Landesjustizrats in das Verfahren zur Ernennung der betreffenden Richterin für sich genommen nicht ausreicht, um Zweifel an der Unabhängigkeit der auf diese Weise ernannten Richter zu wecken.
2) Zweiter Aspekt
57. In Bezug auf das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs für die im Ernennungsverfahren abgelehnten Kandidaten ist eine Prüfung in zwei Schritten vorzunehmen. Erstens ist festzustellen, ob der in Art. 44 des Gesetzes über den Landesjustizrat vorgesehene Rechtsbehelf trotz der Einbindung des Landesjustizrats in das Verfahren zur Ernennung der Richter an der Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten als wirksam bezeichnet werden kann. Zweitens ist für den Fall, dass die erste Frage verneint wird, zu prüfen, ob dieses Fehlen eines Rechtsbehelfs für sich genommen ausreicht, um zu dem Schluss zu gelangen, dass die betreffende Richterin kein „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ war.
58. In Bezug auf die erste Frage hat der Gerichtshof im Urteil Krajowa Rada Sądownictwa festgestellt, dass der aus drei Richtern bestehende Spruchkörper der Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten, von dem das Vorabentscheidungsersuchen ausging, nicht die Merkmale eines unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta aufwies. Somit hat der Gerichtshof entschieden, dass dieser Spruchkörper nicht die Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erfüllte, um als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV eingestuft zu werden(32 ). Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, hat der Gerichtshof alle systemischen und tatsächlichen Gesichtspunkte berücksichtigt, die im Zusammenhang mit der Ernennung der um Vorabentscheidung ersuchenden Richter zu Richtern der Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten standen(33 ). Auf dieses Urteil folgten mehrere aus denselben Gründen erlassene Beschlüsse, mit denen Vorabentscheidungsersuchen von Spruchkörpern der Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten, die sich ganz oder teilweise aus unter denselben Umständen ernannten Richtern zusammensetzten, für unzulässig erklärt wurden(34 ).
59. Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache AW „T“(35 ) ausgeführt habe, ist die Feststellung, dass der Spruchkörper der Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten kein „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta ist, uneingeschränkt auf den vorliegenden Fall übertragbar. Es ist nämlich unerheblich, dass diese Feststellung im Rahmen der Beurteilung der Frage getroffen wurde, ob der Spruchkörper dieser Kammer, der den Gerichtshof mit dem Vorabentscheidungsersuchen befasst hatte, ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV war, da der Umfang der hierfür erforderlichen Unabhängigkeit mit dem Umfang des Erfordernisses eines unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts übereinstimmt.
60. Wie das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen sowie die polnische Regierung und die Kommission(36 ) in der mündlichen Verhandlung bestätigt haben, waren alle Richter, die zum maßgeblichen Zeitpunkt der Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten angehörten, auf Vorschlag des Landesjustizrats in seiner neuen Zusammensetzung ernannt worden. Vorbehaltlich der abschließenden Beurteilung durch das vorlegende Gericht folgt daraus, dass im Ausgangsverfahren der Rechtsbehelf, der bei dieser Kammer eingelegt werden kann, nicht als wirksam angesehen werden kann, weil er bei einem Gericht einzulegen wäre, dessen Mitglieder(37 ) nicht die Anforderungen erfüllen, die an ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht zu stellen sind.
61. Meines Erachtens kann man jedoch nicht zu dem Schluss gelangen, dass allein schon das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs vor dem oben genannten Justizorgan ausreicht, um die Rechtmäßigkeit der Ernennung zu beeinträchtigen. In der Tat spielt das Bestehen eines gerichtlichen Rechtsbehelfs im Vergleich zur intrinsischen Unabhängigkeit des Landesjustizrats nur eine untergeordnete Rolle, da er darauf abzielt, diese Unabhängigkeit in Frage zu stellen. Es wäre daher unlogisch, anzunehmen, dass das Fehlen eines Rechtsbehelfs, der sich gegen dasselbe Ernennungsverfahren richtet (d. h. der zweite vom vorlegenden Gericht angeführte Gesichtspunkt), für sich genommen ausreicht, um die betreffende Richterin auszuschließen, obwohl der bloße Einwand, der Landesjustizrat sei nicht unabhängig (der erste vom vorlegenden Gericht angeführte Gesichtspunkt), für sich genommen nicht ausschlaggebend ist, um die Rechtmäßigkeit der Ernennung zu beeinträchtigen.
3) Die kumulative Wirkung der beiden Aspekte
62. Daher ist jetzt zu prüfen, ob die Kombination dieser beiden Aspekte ausreicht, um der im Ausgangsverfahren betroffenen Richterin die Eigenschaft eines „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ abzusprechen. Das ist meines Erachtens nicht der Fall, und zwar aus mehreren Gründen, die mit der oben genannten Rechtsprechung sowie mit den Besonderheiten der vorliegenden Rechtssache zusammenhängen.
63. Erstens beschränkt sich der Gerichtshof, wie ich in den Nrn. 40 und 41 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, in den Rechtssachen, die die Reformen des polnischen Justizsystems betreffen, und konkreter bei der Frage, ob Richter oder Rechtsprechungsorgane wie die Disziplinarkammer oder die Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten die Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfüllen und ein „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ darstellen, nicht auf die Prüfung derjenigen Gesichtspunkte, die mit dem Verfahren zur Ernennung von Richtern in Zusammenhang stehen. Der Gerichtshof bezieht sich darüber hinaus auf „weitere relevante Begleitumstände …, die ebenfalls dazu beitragen können, Zweifel an der Unabhängigkeit [des Landesjustizrats] und [seiner] Rolle in Ernennungsverfahren wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden und folglich an der Unabhängigkeit der am Ende eines solchen Verfahrens ernannten Richter zu wecken“(38 ), oder auch auf den rechtlich-faktischen Kontext, in den sich die Zusammensetzung des neuen Landesjustizrats einfügte und der insbesondere durch das bevorstehende Freiwerden zahlreicher Stellen beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gekennzeichnet war(39 ).
64. Auf die vorliegende Rechtssache angewandt, bedeutet diese Rechtsprechungslinie, dass die beiden vom vorlegenden Gericht vorgebrachten Gesichtspunkte selbst dann, wenn sie zusammen betrachtet werden, im Licht weiterer tatsächlicher und rechtlicher Umstände beurteilt werden müssen. So kann z. B. zu untersuchen sein, inwieweit der im Ergebnis erfolgreiche Kandidat anhand objektiver Kriterien(40 ) über bessere Qualifikationen verfügte als andere, nicht berücksichtigte Kandidaten. Es kann auch darum gehen, zu überprüfen, ob politischer Druck ausgeübt wurde, oder das öffentliche Verhalten des ernannten Richters zu bewerten, was auf einen unzulässigen äußeren Einfluss hindeuten könnte(41 ). Angesichts all dieser Gesichtspunkte ist sodann festzustellen, ob zum einen eine Grundregel verletzt wurde und ob zum anderen diese Verletzung die Integrität der Ernennung der betreffenden Richterin beeinträchtigt und die tatsächliche Gefahr eines Eingriffs der Exekutive herbeigeführt hat.
65. Um auf das Ausgangsverfahren zurückzukommen, geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen beispielsweise hervor, dass am 21. September 2018 das Kollegium des Sąd Okręgowy w Poznaniu (Regionalgericht Poznań) eine positive Stellungnahme zur Kandidatur der Richterin S. C. und am 24. September 2018 die Versammlung der Vertreter der Richter der Rayongerichte im Bezirk des Sąd Okręgowy w Poznaniu (Regionalgericht Poznań) ebenfalls eine positive Stellungnahme zu ihr abgegeben hat. Letztlich wird es Sache des vorlegenden Gerichts sein, zu beurteilen, inwieweit ein solcher Begleitumstand zu berücksichtigen ist.
66. Zweitens trifft es zwar zu, dass der Gerichtshof im Urteil A. B. festgestellt hat, falls „das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis kommen [sollte], dass [der Landesjustizrat] keine ausreichenden Garantien für [seine] Unabhängigkeit bietet, erwiese sich ein den erfolglosen Kandidaten offenstehender gerichtlicher Rechtsbehelf, auch wenn er …beschränk[t wäre], als erforderlich, um dazu beizutragen, das Verfahren zur Ernennung der betreffenden Richter vor unmittelbarer oder mittelbarer Einflussnahme zu schützen“. Damit lasse sich „letztlich … verhindern, dass bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit der am Ende dieses Verfahrens ernannten Richter entstehen können“(42 ). Ist daraus abzuleiten, wie vom vorlegenden Gericht vorgetragen, dass das Zusammentreffen der beiden von ihm festgestellten Aspekte notwendigerweise zu der Schlussfolgerung führt, dass es sich bei der betreffenden Richterin nicht um ein „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ handelt? Meines Erachtens nein.
67. Zunächst stellt der Gerichtshof diese Schlussfolgerung nämlich im Urteil A. B. selbst in den Kontext seiner globalen Rechtsprechung. So weist er darauf hin, dass die Gesetzesänderungen, die zur Folge hatten, dass (zur Anfechtung der Entschließungen des Landesjustizrats nach dem damals geltenden Recht eingeleitete) anhängige Rechtsstreitigkeiten für erledigt erklärt wurden, und durch die für die Zukunft jede Möglichkeit eines gerichtlichen Rechtsbehelfs dieser Art beseitigt wurde, im Zusammenhang mit allen im Urteil angeführten Begleitumständen gesehen werden müssen(43 ).
68. Ferner hebt der Gerichtshof hervor, wie wichtig es ist, dass abgelehnte Kandidaten die Möglichkeit haben, die Entschließungen des Landesjustizrats anzufechten, wenn die Gesamtheit der relevanten Faktoren im Zusammenhang mit dem Ernennungsverfahren(44 ) geeignet ist, bei den Rechtsunterworfenen systemische Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der in diesem Rahmen ernannten Richter aufkommen zu lassen(45 ). Der Hinweis auf das Aufkommen eines „systemischen“ Zweifels unterstreicht die Notwendigkeit, der Frage nachzugehen, ob ein Gesamtzusammenhang hergestellt werden muss, aus dem sich ergibt, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit erschüttert ist.
69. Schließlich hebt der Gerichtshof, wie in Nr. 43 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, in der Rechtssache A. B. die Absicht hervor, die der polnische Gesetzgeber mit seiner Entscheidung verfolgte, die auf die Entschließungen des Landesjustizrats über Ernennungen zum Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) anwendbaren Vorschriften zu ändern. Nach Auffassung des Gerichtshofs können diese Änderungen „nahelegen, dass die polnische Legislative im vorliegenden Fall im spezifischen Bestreben gehandelt hat, jede Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle der Ernennungen, die auf der Grundlage der Entschließungen de[s Landesjustizrats] vorgenommen wurden, zu verhindern“(46 ).
70. Dieses Bestreben stellt einen entscheidenden Begleitumstand dar, der insbesondere den Fall der Ernennung von Richtern am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), wie in der Rechtssache A. B., von dem einer Ernennung an einem ordentlichen Gericht, wie im vorliegenden Fall, unterscheidet. Im Gegensatz zu der in der Rechtssache A. B. untersuchten Ernennung von Richtern am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), bei der Art. 44 des Gesetzes über den Landesjustizrat den Rechtsbehelf abgeschafft hatte, ist dieser im Ausgangsverfahren nicht formell ausgeschlossen worden. Dieser Unterschied kann sich als bedeutsam für die Absicht des Gesetzgebers erweisen, der im Ausgangsverfahren nicht ausdrücklich jede Möglichkeit der Anfechtung ausgeschlossen hat. Wie sich nämlich aus den Ausführungen in den Nrn. 58 bis 60 der vorliegenden Schlussanträge ergibt, wurde der Rechtsbehelf zwar dem Schein nach beibehalten, erweist sich in der Praxis jedoch als wirkungslos.
71. Diese Feststellung veranlasst mich drittens, einer weiteren Frage nachzugehen: Die Beurteilung der Absicht des nationalen Gesetzgebers bei der Ernennung von Richtern sowohl am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) als auch an anderen Gerichten weist ebenfalls auf die Möglichkeit hin, in der Praxis zwischen diesen beiden Kategorien von Ernennungen zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang stelle ich fest, dass die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung argumentiert hat, dass die verfassungsrechtliche Rolle und der Einfluss des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einen besonderen Ansatz rechtfertigten, da dort die Gefahr eines Eingriffs der Legislative und der Exekutive ausgeprägter sei.
72. Ich weise jedoch darauf hin, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta keinen Unterschied zwischen den obersten Gerichten und den ordentlichen Gerichten macht. Die grundlegenden Anforderungen der Unabhängigkeit, der Unparteilichkeit und der vorherigen Errichtung durch Gesetz gelten einheitlich für alle Gerichte der Mitgliedstaaten, ungeachtet des Umfangs ihrer Zuständigkeit oder des hierarchischen Rangs des betreffenden Gerichts(47 ).
73. Gleichwohl kann die Berücksichtigung einer mit der Gesetzesreform möglicherweise verfolgten Absicht – ohne hinsichtlich des Umfangs der Garantie eines unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts je nach der hierarchischen Stellung des betreffenden Richters zu differenzieren – Unterschiede aufzeigen, je nachdem, ob es sich um Stellen von Richtern am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) oder von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit handelt. Es könnte nämlich in der Tat denkbar sein, dass das Bestreben, die Zusammensetzung eines Gerichts zu beeinflussen, leichter auf der Ebene der obersten Gerichte zu erkennen ist, die mit sensiblen Fragen konfrontiert sind und möglicherweise über institutionelle oder im weiteren Sinne politische Streitigkeiten entscheiden, während die Tatsachengerichte zwar für die tägliche Rechtsprechung von größter Bedeutung sind, aber weniger Anlass zu derartigen Bedenken geben(48 ).
74. Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass die zuständige Justizbehörde bei der Beurteilung der Frage, ob ein Gericht, dem eine zur Richterin ernannte Person angehört, das Erfordernis eines „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ erfüllt, nicht nur den Umstand zu berücksichtigen hat, dass die Kandidatur dieser Richterin von dem neuen Justizrat nach dessen Reform vorgeschlagen wurde und dass die am Ernennungsverfahren Beteiligten nur das Recht auf einen Rechtsbehelf bei der Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten hatten, sondern auch alle weiteren relevanten Umstände im Zusammenhang mit der Ernennung dieser Person, die die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betreffenden Gerichts beeinträchtigen können.
2. Zweite Frage
a) Gegenstand der zweiten Frage
75. Mit seiner zweiten Frage wirft das vorlegende Gericht im Wesentlichen zwei Aspekte auf, die mit dem Verfahren zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Ernennung der im Ausgangsverfahren betroffenen Person zur Richterin zusammenhängen. Zum einen betrifft der erste Teil dieser Frage, der die erste, die dritte und die vierte Unterfrage umfasst, die Notwendigkeit und die Möglichkeit, das nationale Recht, das der Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über die Ordnungsmäßigkeit dieser Ernennung zuweist, einschließlich der Urteile des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen), die eine solche Überprüfung einschränken, unangewendet zu lassen.
76. Zum anderen soll mit dem zweiten Teil, der der zweiten Unterfrage entspricht, geklärt werden, ob das vorlegende Gericht diese Person in analoger Anwendung der nationalen Bestimmungen über den Ausschluss eines zur Mitwirkung ungeeigneten Richters von Amts wegen ausschließen kann.
b) Erster Teil: Verpflichtung, bestimmte nationale Bestimmungen sowie Urteile des Verfassungsgerichts hofs , die gegen das Unionsrecht verstoßen, unangewendet zu lassen
1) Kurzer Überblick über die Rechtsprechung
77. Aus der Rechtsprechung geht hervor, dass Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe überträgt, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten(49 ).
78. Damit dieser Schutz gewährleistet ist, hat jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts dazu berufen sind, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung dieses Rechts zu entscheiden und damit Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, u. a. dem Erfordernis der Unabhängigkeit, gerecht werden(50 ).
79. Darüber hinaus hat der Gerichtshof anerkannt, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet ist, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste(51 ).
80. Insbesondere in Bezug auf das in Art. 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren hat der Gerichtshof anerkannt, dass ein im Rahmen dieses Verfahrens ergangenes Urteil das nationale Gericht hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits bindet(52 ).
81. Das nationale Gericht, das von der ihm nach Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, muss daher gegebenenfalls von der Beurteilung eines höheren nationalen Gerichts abweichen, wenn es angesichts dieser Auslegung der Auffassung ist, dass dessen Beurteilung nicht dem Unionsrecht entspricht, indem es gegebenenfalls die Bestimmung des nationalen Rechts, die es verpflichtet, den Entscheidungen dieses höheren Gerichts nachzukommen, unangewendet lässt(53 ).
82. Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass diese Lösung auch dann anzuwenden ist, wenn ein ordentliches Gericht aufgrund einer nationalen Verfahrensvorschrift an eine Entscheidung eines nationalen Verfassungsgerichts, die es für unionsrechtswidrig hält, gebunden ist(54 ).
2) Zur Neuordnung der gerichtlichen Zuständigkeiten
83. In seinem Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern)(55 ), hat der Gerichtshof festgestellt, dass „der Umstand, dass der nationale Gesetzgeber die geltenden gerichtlichen Zuständigkeiten neu organisiert und einer einzigen nationalen Stelle die Zuständigkeit für die Prüfung der Einhaltung bestimmter wesentlicher Anforderungen überträgt, die sich aus dem Grundrecht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta ergeben, obwohl es je nach den Umständen vor jedem nationalen Gericht erforderlich werden kann, eine solche Prüfung vorzunehmen, in Verbindung mit der Einführung der oben genannten Verbote und Disziplinarvergehen dazu beitragen [kann], dass die Wirksamkeit der Kontrolle der Wahrung dieses Grundrechts noch weiter abgeschwächt wird, obwohl das Unionsrecht alle nationalen Gerichte mit dieser Kontrolle betraut“(56 ).
84. Im Ausgangsverfahren haben die nationalen Bestimmungen, die der Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten die ausschließliche Zuständigkeit für die Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Ernennung der betreffenden Person zur Richterin zuweisen und gleichzeitig vorschreiben, dass gegen diese Ernennung erhobene Rügen ohne Prüfung zurückzuweisen sind(57 ), zur Folge, dass den ordentlichen Gerichten die Möglichkeit genommen wird, zu bestimmen, ob ein anderes Gericht ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstellt. Die Gewährleistung des Zugangs zu einem unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz errichteten Gericht – und insbesondere die Überprüfung der ordnungsgemäßen Konstituierung dieses Gerichts – ist jedoch Kernbestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren. Wie ich bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache AW „T“(58 ) ausgeführt habe, müssen die nationalen Gerichte prüfen können, ob eine Vorschriftswidrigkeit, mit der das Verfahren zur Ernennung eines Richters behaftet ist, zu einem Verstoß gegen die Anforderungen des Rechts auf einen wirksamen gerichtlichen Schutz im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta und insbesondere die Anforderungen in Bezug auf den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht geführt haben kann, wenn Umstände vorliegen, die Anlass zu Zweifeln an der Einhaltung dieser Anforderungen geben könnten(59 ).
85. Angesichts dessen obliegt es dem vorlegenden Gericht, die innerstaatlichen Vorschriften, die es daran hindern, die Ordnungsmäßigkeit der Ernennung der betreffenden Richterin zu prüfen, gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet zu lassen.
3) Zu den Auswirkungen der Urteile des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof)
86. Mit der dritten und der vierten Unterfrage soll geklärt werden, ob zur Wahrung der praktischen Wirksamkeit von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta (a) das Urteil unangewendet zu lassen ist, mit dem das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) den Ausschluss eines Richters untersagt, der vorschriftswidrig ernannt wurde und die Kriterien eines unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz geschaffenen Gerichts nicht erfüllt, und (b) das Urteil desselben Gerichts unangewendet zu lassen ist, mit dem die Umsetzung eines Beschlusses des Gerichtshofs verhindert wird, der im Wege der einstweiligen Anordnung die Aussetzung der nationalen Bestimmungen anordnet, die es den nationalen Gerichten verwehren, die Einhaltung des Erfordernisses eines unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts zu überprüfen.
87. Wie im Vorabentscheidungsersuchen angegeben, bezieht sich die dritte Unterfrage auf das Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 2. Juni 2020, P 13/19, in dem dieses Gericht entschieden hat, dass Art. 49 § 1 der Zivilprozessordnung mit Art. 179 der Verfassung unvereinbar sei, weil er den Antrag auf Ausschluss eines Richters aufgrund von Umständen zulasse, die die Vorschriftswidrigkeit seiner Ernennung durch den Präsidenten der Republik auf Vorschlag des Justizrats belegten.
88. Ebenso wie im Zusammenhang mit der vorherigen Frage festgestellt wurde, steht dieses Urteil de facto der Überprüfung der Gültigkeit der Verfahren zur Ernennung von Richtern im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta entgegen. Um den Vorrang und die unmittelbare Wirkung dieser Bestimmungen zu gewährleisten, muss das vorlegende Gericht daher in der Lage sein, die Rechtsgültigkeit der Ernennung des betreffenden Richters selbst zu beurteilen. Es hat daher ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs außer Acht zu lassen, das es daran hindern würde, einen Antrag auf Ausschluss eines Richters zu prüfen, der auf die Vorschriftswidrigkeit seiner Ernennung gestützt wird, weil diese Vorschriftswidrigkeit gegen das Erfordernis eines unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts verstoßen würde.
89. Die vierte Unterfrage bezieht sich auf das Urteil vom 14. Juli 2021, P 7/20, in dem das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) entschieden hat, dass Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV in Verbindung mit Art. 279 AEUV mit verschiedenen Bestimmungen der Verfassung (Art. 2 und 7, Art. 8 Abs. 1 und Art. 90 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1) unvereinbar sei, weil nach seiner Auffassung der Gerichtshof Polen Ultra-vires -Verpflichtungen auferlege, indem er einstweilige Anordnungen erlasse, die sich auf die Organisation und die Zuständigkeit der polnischen Gerichte sowie auf das Verfahren vor diesen Gerichten bezögen und insoweit nicht den Grundsätzen des Vorrangs und der unmittelbaren Anwendbarkeit unterlägen (Art. 91 Abs. 1 bis 3 der Verfassung)(60 ).
90. In diesem Urteil verneint das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen gemäß Art. 279 AEUV, insbesondere im Hinblick auf die Wahrung der Unabhängigkeit der polnischen Gerichte. Diese einstweiligen Maßnahmen, wie die Aussetzung der Zuständigkeit der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in Disziplinarsachen, zielten jedoch gerade darauf ab, die volle Wirksamkeit von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu gewährleisten.
91. Indem das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) die Zuständigkeit des Gerichtshofs für den Erlass einstweiliger Maßnahmen bezüglich der Organisation und Zuständigkeit der polnischen Gerichte verneint, behindert es in radikaler Weise die Rechtmäßigkeitskontrolle der Ernennung nationaler Richter im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta. In Anbetracht der in den Nrn. 78 bis 82 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung bin ich jedoch der Ansicht, dass es dem vorlegenden Gericht obliegt, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts in vollem Umfang zu gewährleisten, was bedeutet, dass es das Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), das der Vollstreckung der Beschlüsse des Gerichtshofs über einstweilige Maßnahmen entgegensteht, unangewendet lassen muss. Andernfalls wären die nationalen Gerichte daran gehindert, zu überprüfen, ob die Anforderungen, die die Union an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Gerichts sowie an dessen vorherige Errichtung durch Gesetz stellt, hinreichend erfüllt sind.
c) Zweiter Teil: Möglichkeit des Ausschlusses eines nicht ordnungsgemäß ernannten Richters
92. Mit dem zweiten Teil der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, welche Maßnahmen ergriffen werden können, um die praktische Wirksamkeit des Rechts auf einen effektiven Rechtsschutz vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta zu gewährleisten und zu verhindern, dass der Spruchkörper allein deshalb als diesen Anforderungen nicht genügend angesehen wird, weil eines seiner Mitglieder vorschriftswidrig ernannt wurde.
93. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass, wenn die im Ausgangsverfahren betroffene Richterin nicht als Mitglied eines „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ angesehen werden könne, dieses Gericht die Konsequenzen daraus ziehen müsse, insbesondere indem es die betroffene Richterin als zum Rechtsprechen ungeeignet ausschließe, obwohl die Art. 48 und 49 der Zivilprozessordnung keinen solchen Ausschlussgrund vorsähen. Die gestellte Frage läuft somit darauf hinaus, zu klären, ob diese Bestimmungen über den iudex inhabilis so ausgelegt werden können, dass sie in analoger Anwendung den Ausschluss eines Richters erlauben, dessen Ernennung am Ende eines Verfahrens erfolgte, das nicht den grundlegenden Erfordernissen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit entspricht.
94. Es ist darauf hinzuweisen, dass alle Hinweise, die der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung geben kann, strikt auf Fragen der Auslegung des Unionsrechts und nicht des nationalen Rechts beschränkt sind. Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, nationales Recht auszulegen und erst recht nicht, zwischen verschiedenen Auslegungssträngen des nationalen Rechts, die sich auf nationaler Ebene herausbilden, zu vermitteln. Insbesondere ist es nicht Sache des Gerichtshofs, vorzuschlagen, welche der gegensätzlichen Auslegungen der nationalen Verfahrensvorschriften richtig ist und welche genaue Regelung ein vorlegendes Gericht nach nationalem Recht wählen oder welchen Weg es einschlagen muss, um die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht sicherzustellen(61 ). Mit anderen Worten: Während gemäß Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 267 Abs. 1 AEUV für die Auslegung des Unionsrechts allein der Gerichtshof zuständig ist, haben die nationalen Gerichte die ausschließliche Zuständigkeit für die Auslegung des nationalen Rechts(62 ).
95. Daher ist es meines Erachtens nicht Sache des Gerichtshofs, im Wege der Vorabentscheidung das nationale Recht, d. h. die Art. 48 und 49 der Zivilprozessordnung, auszulegen und dem vorlegenden Gericht vorzuschlagen, wie diese im Rahmen des Ausgangsverfahrens auszulegen und anzuwenden sind(63 ).
96. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV den Mitgliedstaaten eine klare und präzise Ergebnispflicht auferlegt, die in Bezug auf die Unabhängigkeit, die die zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufenen Gerichte aufweisen müssen, unbedingt ist(64 ). Diese Ergebnispflicht ist nämlich die natürliche Konsequenz des Umstands, dass das vorlegende Gericht nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta befugt sein muss, zu beurteilen, ob ein Spruchkörper oder ein anderer Richter ein unabhängiges und unparteiisches, zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, und nationale Bestimmungen, ja sogar Verfassungsbestimmungen, oder Praktiken, die es an der wirksamen Ausübung dieser Befugnis hindern, unangewendet zu lassen. Ohne eine dem nationalen Gericht nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta obliegende Ergebnispflicht würde der Inhalt dieser Bestimmungen nämlich seiner Substanz beraubt.
97. Um die zweite Frage zu beantworten, muss das nationale Recht daher – ohne der konkreten Auslegung seiner anwendbaren Bestimmungen vorzugreifen – im Licht der dem Mitgliedstaat obliegenden Ergebnispflicht ausgelegt und angewandt werden. Nach meiner Auffassung setzt diese Verpflichtung die Einführung eines wirksamen Rechtsbehelfs voraus, der es ermöglicht, einen Richter, der die mit einem zuvor durch Gesetz errichteten Gericht verbundenen Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht erfüllt, von Rechts wegen auszuschließen. Es ist jedoch Sache des zuständigen nationalen Gerichts, die konkreten Modalitäten der Umsetzung dieses Erfordernisses unter Beachtung des nationalen Rechtsrahmens und der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Grundsätze festzulegen.
V. Ergebnis
98. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Sąd Rejonowy Poznań – Stare Miasto w Poznaniu (Rayongericht Poznań – Stare Miasto in Poznań, Polen) wie folgt zu beantworten:
1. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
dahin auszulegen, dass
die zuständige Justizbehörde bei der Beurteilung der Frage, ob ein Gericht, dem eine zur Richterin ernannte Person angehört, das Erfordernis eines „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ erfüllt, nicht nur den Umstand, dass die Kandidatur dieser Richterin vom neuen Landesjustizrat nach dessen Reform vorgeschlagen wurde, und das Fehlen eines Rechts der Teilnehmer am Ernennungsverfahren auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu berücksichtigen hat, sondern auch alle anderen relevanten Umstände im Zusammenhang mit der Ernennung dieser Person, die die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betreffenden Gerichts beeinträchtigen können.
2. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist im Licht von Art. 47 der Charta
dahin auszulegen, dass
er zum einen das nationale Gericht verpflichtet, die nationalen Bestimmungen – einschließlich der Auslegung durch das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen) –, die der Prüfung eines Antrags auf Ausschluss eines Richters wegen offensichtlicher Vorschriftswidrigkeit des Verfahrens seiner Ernennung entgegenstehen, unangewendet zu lassen, und
zum anderen von diesem Gericht verlangt, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die praktische Wirksamkeit des Grundrechts der Einzelnen auf einen effektiven Rechtsschutz vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht voll und ganz zu gewährleisten, was die Möglichkeit einschließt, einen Richter, der diese Anforderungen nicht erfüllt, von Rechts wegen auszuschließen, wobei dem zuständigen nationalen Gericht zugleich die Aufgabe übertragen wird, die konkreten Modalitäten für die Umsetzung dieses Erfordernisses festzulegen.