C-673/18 – Santen

C-673/18 – Santen

Language of document : ECLI:EU:C:2020:34

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GIOVANNI PITRUZZELLA

vom 23. Januar 2020(1)

Rechtssache C673/18

Santen SAS

gegen

Directeur général de l’Institut national de la propriété industrielle

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour d’appel de Paris [Berufungsgericht Paris, Frankreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Arzneispezialitäten – Ergänzendes Schutzzertifikat für Arzneimittel – Patentrecht – Denselben Wirkstoff enthaltende Erzeugnisse, für die nacheinander verschiedenen Inhabern Genehmigungen für das Inverkehrbringen erteilt wurden – Tragweite des Urteils Neurim Pharmaceuticals (1991) (C‑130/11) – Begriffe ,andere Verwendung‘ und ,Verwendung, die in den Schutzbereich des Grundpatents fällt‘“

1.        Nur einige Monate nach der Verkündung des Urteils in der Rechtssache Abraxis Bioscience(2) ist der Gerichtshof erneut aufgefordert – diesmal von der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) –, die Tragweite seines Urteils vom 19. Juli 2012 in der Rechtssache Neurim Pharmaceuticals (1991)(3)zu klären, in dem er durch eine teleologische Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung (EG) Nr. 469/2009(4) den Weg für die Möglichkeit eröffnete, bei neuen Verwendungen alter Wirkstoffe ein ergänzendes Schutzzertifikat für Arzneimittel (im Folgenden: ESZ) zu erhalten.

2.        Während im Urteil Abraxis die Frage der Tragweite des Urteils Neurim trotz der von mehreren beteiligten Regierungen und von Generalanwalt Saugmandsgaard Øe(5) an den Gerichtshof gerichteten Aufforderung, die in diesem Urteil aufgestellten Grundsätze zu überprüfen, ungeklärt geblieben ist, ersucht die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) den Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache offen um eine Klarstellung der Voraussetzungen für die Anwendung dieses Urteils und um die Angabe, ob sein Anwendungsbereich allein auf den im Ausgangsverfahren streitigen Fall beschränkt werden soll, zu dem es ergangen ist, d. h., wenn der alte Wirkstoff Gegenstand einer ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen (im Folgenden auch: Verkehrsgenehmigung) als Tierarzneimittel und einer zweiten Verkehrsgenehmigung für ein Humanarzneimittel war, oder ob ihm ein breiterer Anwendungsbereich zuerkannt werden soll(6).

3.        Das durch die Verordnung (EWG) Nr. 1768/92(7), kodifiziert durch die Verordnung Nr. 469/2009, geschaffene ESZ ist ein „Recht sui generis“(8), dessen Ziel es ist, den Inhabern pharmazeutischer Patente unter bestimmten Bedingungen eine Form des ergänzenden Schutzes zu gewähren, die es ermöglicht, über den Ablauf des Patents hinaus den Zeitpunkt hinauszuschieben, ab dem die durch das Patent geschützte Erfindung gemeinfrei wird und ihre Vermarktung dem Wettbewerb unterworfen werden kann. Die Schaffung des ESZ beruht auf der Überlegung, dass im pharmazeutischen Bereich die Dauer des tatsächlichen Patentschutzes nicht ausreicht, um die Investitionen in die Forschung zu amortisieren, da der Patentinhaber seine Erfindung zwischen dem Tag der Patentanmeldung und dem Tag der Erteilung der Genehmigung für das Inverkehrbringen des Arzneimittels, das diese Erfindung enthält, nicht wirtschaftlich verwerten kann(9).

I.      Rechtlicher Rahmen

4.        In Art. 1 Buchst. a bis c der Verordnung Nr. 469/2009 heißt es:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

a)      ,Arzneimittel‘ einen Stoff oder eine Stoffzusammensetzung, der (die) als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten bezeichnet wird, sowie einen Stoff oder eine Stoffzusammensetzung, der (die) dazu bestimmt ist, im oder am menschlichen oder tierischen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden;

b)      ,Erzeugnis‘ den Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels;

c)      ,Grundpatent‘ ein Patent, das ein Erzeugnis als solches, ein Verfahren zur Herstellung eines Erzeugnisses oder eine Verwendung eines Erzeugnisses schützt und das von seinem Inhaber für das Verfahren zur Erteilung eines Zertifikats bestimmt ist“.

5.        Art. 2 dieser Verordnung, der ihren Anwendungsbereich festlegt, lautet: „Für jedes im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats durch ein Patent geschützte Erzeugnis, das vor seinem Inverkehrbringen als Arzneimittel Gegenstand eines verwaltungsrechtlichen Genehmigungsverfahrens gemäß der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel[(10)] oder der Richtlinie 2001/82/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Tierarzneimittel[(11)] ist, kann nach den in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen und Modalitäten ein Zertifikat erteilt werden.“

6.        Art. 3 dieser Verordnung sieht vor:

„Das Zertifikat wird erteilt, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem die Anmeldung nach Artikel 7 eingereicht wird, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung

a)      das Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist;

b)      für das Erzeugnis als Arzneimittel eine gültige Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß der Richtlinie 2001/83/EG bzw. der Richtlinie 2001/82/EG erteilt wurde;

c)      für das Erzeugnis nicht bereits ein Zertifikat erteilt wurde;

d)      die unter Buchstabe b erwähnte Genehmigung die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel ist.“

7.        Art. 4 der Verordnung Nr. 469/2009 bestimmt: „In den Grenzen des durch das Grundpatent gewährten Schutzes erstreckt sich der durch das Zertifikat gewährte Schutz allein auf das Erzeugnis, das von der Genehmigung für das Inverkehrbringen des entsprechenden Arzneimittels erfasst wird, und zwar auf diejenigen Verwendungen des Erzeugnisses als Arzneimittel, die vor Ablauf des Zertifikats genehmigt wurden.“

II.    Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

8.        Die Santen SAS (im Folgenden: Santen) ist ein auf Augenheilkunde spezialisiertes Pharmaunternehmen. Sie ist Inhaberin des Europäischen Patents Nr. EP 057959306 (im Folgenden: im Ausgangsverfahren in Rede stehendes Patent), das am 10. Oktober 2005 angemeldet und am 31. Dezember 2008 unter dem Titel „Ophtalmische Öl-in-Wasser-Emulsion mit stabilem positivem Zetapotenzial“ eingetragen wurde und 27 Patentansprüche umfasst. Dieses Patent läuft am 11. Oktober 2025 aus. Am 19. März 2015 erhielt Santen von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) eine Genehmigung für das Inverkehrbringen des Arzneimittels Ikervis, eine Emulsion von Augentropfen mit dem Wirkstoff Cyclosporin, zur Behandlung von schwerer Keratitis(12) bei erwachsenen Patienten mit Augentrockenheit, die sich trotz der Gabe von Mitteln zur Tränensubstitution nicht verbessert (im Folgenden: im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verkehrsgenehmigung).

9.        Am 3. Juni 2015 stellte Santen auf der Grundlage des Grundpatents und der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verkehrsgenehmigung beim Institut National de la Propriété Intellectuelle (Nationales Institut für geistiges Eigentum, im Folgenden: INPI) einen Antrag auf Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats (ESZ) für ein Erzeugnis mit der Bezeichnung „Cyclosporin Augentropfen in Emulsion“, das sie später auf die Stellungnahme des INPI hin in „Ciclosporin zur Verwendung bei der Behandlung von Keratitis“ umbenannte.

10.      Mit Entscheidung vom 6. Oktober 2017 lehnte der Direktor des INPI diesen Antrag mit der Begründung ab, dass am 23. Dezember 1983 bereits eine Verkehrsgenehmigung für ein Arzneimittel mit der Bezeichnung „Sandimmun“ erteilt worden sei, dessen Wirkstoff ebenfalls Cyclosporin sei, und dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verkehrsgenehmigung nicht die erste Genehmigung für das von der ESZ-Anmeldung erfasste Erzeugnis im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 sei (im Folgenden: Entscheidung des Direktors des INPI). Das Arzneimittel Sandimmun wurde als Trinklösung angeboten und hatte mehrere therapeutische Indikationen, zum einen die Verhinderung von Abstoßungsreaktionen bei Organ- oder Knochenmarktransplantationen, zum anderen in Bereichen, die keine Transplantationen betreffen, u. a. die Behandlung von endogener Uveitis(13). In seiner Entscheidung wies der Direktor des INPI darauf hin, dass die Voraussetzungen des Urteils Neurim, auf das sich Santen zur Unterstützung ihres Vorbringens berufe, das Medikament Ikervis enthalte eine „neue Verwendung“ von Cyclosporin, die die Erteilung eines ESZ erlaube, seines Erachtens nicht vorlägen, da erstens das geltend gemachte Grundpatent nicht nur eine neue Verwendung von Cyclosporin schütze (Patentansprüche 23 und 24), sondern auch und hauptsächlich eine ophthalmische Öl-in-Wasser- Submikron-Emulsion, die einen Wirkstoff enthalte, u. a. Cyclosporin (Patentansprüche 1 bis 21, 25 und 26), und zweitens nicht nachgewiesen worden sei, dass die medizinische Verwendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verkehrsgenehmigung eine gegenüber der Spezialität Sandimmun „neue therapeutische Verwendung“ im Sinne des Urteils Neurim darstelle, da beide die Behandlung von Entzündungen im Augenbereich beträfen.

11.      Santen focht die Entscheidung des Direktors des INPI vor dem vorlegenden Gericht an und beantragte in erster Linie die Nichtigerklärung dieser Entscheidung, hilfsweise die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof zur Klärung der Frage, ob Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 unter den Umständen des Ausgangsverfahrens der Erteilung eines ESZ entgegenstehe.

12.      Laut Santen stellt das Arzneimittel Ikervis eine andere und neue Verwendung von Cyclosporin im Sinne des Urteils Neurim dar, da i) keine der früheren Formulierungen des Arzneimittels Sandimmun die Öl-in-Wasser-Emulsion sei, die in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Grundpatent beansprucht werde, ii) die Arzneimittel Sandimmun und Ikervis nicht die gleiche therapeutische Indikation hätten und unterschiedliche Krankheiten behandelten(14), iii) Cyclosporin zwar in beiden Fällen insbesondere eine entzündungshemmende Funktion habe, jedoch für die Behandlung anderer Augenbereiche und anderer Krankheiten bestimmt sei, iv) ihre Dosierung und Verabreichungsmethode unterschiedlich seien, so dass die beiden Spezialitäten nicht austauschbar seien.

13.      Vor dem vorlegenden Gericht erklärte der Direktor des INPI, er beabsichtige, das Urteil Neurim maßvoll anzuwenden. Erstens müsse der Umfang des Grundpatents mit dem der geltend gemachten Verkehrsgenehmigung übereinstimmen und sich deshalb auf die neue medizinische Verwendung, die der therapeutischen Indikation der betreffenden Genehmigung entspreche, beschränken. Dies sei bei der ESZ-Anmeldung von Santen nicht der Fall, in der das Grundpatent sowohl ein Erzeugnis, nämlich eine ophthalmische Emulsion mit dem Wirkstoff Cyclosporin (Patentanspruch 21), als auch die Verwendung einer solchen Emulsion für die Zubereitung einer ophthalmischen Zusammensetzung zur Behandlung zahlreicher ausdrücklich genannter Augenkrankheiten, u. a. Uveitis (Patentanspruch 24), schütze. Zweitens müsse die geltend gemachte Verkehrsgenehmigung eine Indikation betreffen, die einem neuen Therapiegebiet zuzurechnen sei, in dem Sinne, dass es sich im Verhältnis zur früheren Verkehrsgenehmigung um eine neue medizinische Spezialität handele, oder ein Arzneimittel, in dem der Wirkstoff eine andere Wirkung entfalte als in dem Arzneimittel, auf das sich die erste Genehmigung beziehe. Was die ESZ-Anmeldung von Santen angehe, sei eine neue medizinische Verwendung nicht dargetan, da beide Verkehrsgenehmigungen die Behandlung von Entzündungen von Teilen des menschlichen Auges durch denselben Wirkungsmechanismus von Cyclosporin beträfen.

14.      Nach Angaben des vorlegenden Gerichts ist unstreitig, dass die ESZ-Anmeldung von Santen die in Art. 3 Buchst. a, b und c der Verordnung Nr. 469/2009 aufgestellten Bedingungen für die Erteilung des Zertifikats erfüllt. Hinsichtlich der Bedingung des Buchst. d dieses Artikels seien sich die Parteien hingegen uneinig über die Auslegung des Begriffs „andere Verwendung dieses Erzeugnisses“ im Urteil Neurim und über den Umfang, den das Grundpatent haben müsse, damit die Bedingungen für die Erteilung des ESZ in den von diesem Urteil erfassten Fällen erfüllt seien.

15.      Vor diesem Hintergrund hat die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) mit Urteil vom 9. Oktober 2018 beschlossen, das bei ihr anhängige Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist der Begriff „andere Verwendung“ im Sinne des Urteils Neurim eng auszulegen, d. h.,

–        ist er auf den alleinigen Fall einer Verwendung als Humanarzneimittel nach einer Verwendung als Tierarzneimittel zu beschränken,

–        oder muss er eine Indikation betreffen, die einem neuen Anwendungsgebiet zuzurechnen ist, in dem Sinne, dass es sich im Verhältnis zur früheren Verkehrsgenehmigung um eine neue medizinische Spezialität handelt oder ein Arzneimittel, in dem der Wirkstoff eine andere Wirkung entfaltet als in dem Arzneimittel, das Gegenstand der ersten Genehmigung war,

–        oder muss er ganz allgemein im Hinblick auf die Ziele der Verordnung Nr. 469/2009, mit der ein ausgeglichenes System eingeführt werden sollte, das alle auf dem Spiel stehenden Interessen berücksichtigt, darunter auch die der öffentlichen Gesundheit, anhand strengerer Kriterien als derjenigen, die für die Patentierbarkeit der Erfindung gelten, beurteilt werden?

Oder muss er vielmehr weit ausgelegt werden, d. h. so, dass nicht nur verschiedene therapeutische Indikationen und Krankheiten erfasst werden, sondern auch verschiedene Formulierungen, Dosierungen und/oder Verabreichungsarten?

2.      Impliziert der Begriff „Verwendung, die in den Schutzbereich des Grundpatents fällt“ im Sinne des Urteils Neurim, dass der Umfang des Grundpatents mit dem der geltend gemachten Verkehrsgenehmigung übereinstimmen muss und sich infolgedessen auf die neue medizinische Verwendung beschränken muss, die der therapeutischen Indikation der genannten Genehmigung entspricht?

16.      In der Rechtssache, die Gegenstand der vorliegenden Schlussanträge ist, haben Santen, die französische, die ungarische und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese Beteiligten, mit Ausnahme der ungarischen Regierung, haben in der Sitzung vom 5. November 2019 mündliche Ausführungen gemacht.

III. Würdigung

17.      Da die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) den Gerichtshof in ihren Vorlagefragen ersucht, die Tragweite seines Urteils Neurim zu klären, werde ich zunächst den Inhalt dieses Urteils veranschaulichen und seine Auswirkungen auf die Auslegung der Verordnung Nr. 469/2009, auf ihre innere Systematik und ganz allgemein auf die ESZ‑Regelung analysieren. Angesichts dessen, dass sich der Gerichtshof in diesem Urteil auf eine im Wesentlichen teleologische Auslegung dieser Verordnung gestützt hat, werde ich sodann deren Ziele überprüfen, wie sie sich insbesondere aus den Vorarbeiten zu ihr ergeben. Am Ende meiner Analyse werde ich zu dem Schluss kommen, dass die vom Gerichtshof im Urteil Neurim vorgenommene Auslegung aufgegeben werden sollte. Sollte der Gerichtshof dieser Schlussfolgerung nicht folgen, werde ich daher nur hilfsweise die Fragen des nationalen Gerichts nach der Tragweite des Urteils Neurim beantworten.

A.      Das Urteil Neurim

18.      In dem Ausgangsverfahren, das zum Urteil Neurim führte, hatte das Pharmaunternehmen Neurim Pharmaceuticals (1991) (im Folgenden: Neurim) vor den britischen Gerichten die Ablehnung seiner ESZ-Anmeldung für ein Humanarzneimittel auf Melatoninbasis mit dem Namen „Circadin“, das zur Behandlung von Schlaflosigkeit indiziert ist, durch das United Kingdom Intellectual Property Office (Amt für geistiges Eigentum des Vereinigten Königreichs) angefochten. Der Grund für die Ablehnung war, dass Melatonin bereits Gegenstand einer Verkehrsgenehmigung war, die für ein zur Regulierung der Fortpflanzungsaktivität von Schafen verwendetes Tierarzneimittel, Regulin, erteilt worden war. Regulin war durch ein Patent der Firma Hoechst geschützt, das im Mai 2007, d. h. vor der Erteilung der Verkehrsgenehmigung für Circadin am 28. Juni 2007, ausgelaufen war. Neurim trug im Wesentlichen vor, da die Verordnung Nr. 469/2009 es ermöglichen solle, einen ergänzenden Schutz zu dem durch das Grundpatent gewährten Schutz zu erlangen, könne eine Verkehrsgenehmigung für ein Erzeugnis, das nicht durch dieses Patent abgedeckt sei, der Erteilung eines ESZ nicht entgegenstehen, und jedes Patent müsse die Erteilung eines ESZ für die erste Verkehrsgenehmigung ermöglichen, die in den Anwendungsbereich des Grundpatents falle. Das nationale Gericht(15) schloss sich der Auffassung von Neurim an und legte dem Gerichtshof fünf Fragen zur Vorabentscheidung vor.

19.      Bei der gemeinsamen Prüfung der ersten(16) und der dritten Frage(17) stellte der Gerichtshof, nachdem er in Rn. 17 auf die Besonderheiten des Ausgangsverfahrens hingewiesen hatte, in Rn. 19 fest, dass das vorlegende Gericht im Wesentlichen festzustellen versuche, „ob ein Zusammenhang zwischen der in Art. 3 Buchst. b und d der Verordnung Nr. 469/2009 genannten Genehmigung für das Inverkehrbringen und dem in Art. 3 Buchst. a dieser Verordnung genannten Grundpatent besteht“. In den Rn. 22, 23 und 24 führte der Gerichtshof aus, das grundlegende Ziel der Verordnung Nr. 469/2009 bestehe darin, „einen ausreichenden Schutz zur Förderung der Forschung im pharmazeutischen Bereich zu gewährleisten“, und der Grund für den Erlass dieser Verordnung habe darin gelegen, „dass die Laufzeit des tatsächlichen Patentschutzes für die Amortisierung der in der pharmazeutischen Forschung vorgenommenen Investitionen unzureichend [gewesen sei]; dem [habe] abgeholfen werden [sollen]“(18). In Rn. 24 stellte der Gerichtshof fest: „Es ergibt sich aus Nr. 28 der Begründung [des Verordnungsvorschlags], dass ebenso wie ein Patent, das ein ,Erzeugnis‘ oder ein Verfahren zur Herstellung eines ,Erzeugnisses‘ schützt, auch ein Patent wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, das eine neue Anmeldung eines neuen oder bereits bekannten Erzeugnisses schützt, nach Art. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 die Erteilung eines [ESZ] ermöglichen kann“. In Rn. 25 gelangte der Gerichtshof daher zu dem Ergebnis: „Schützt ein Patent … eine neue therapeutische Verwendung eines bekannten Wirkstoffs, der bereits in Form eines Human- oder Tierarzneimittels für andere therapeutische Indikationen – gleichgültig, ob diese patentgeschützt sind – in den Verkehr gebracht wurde, kann das Inverkehrbringen eines neuen Arzneimittels, mit dem die neue therapeutische Verwendung desselben Wirkstoffs, wie sie durch das neue Patent geschützt ist, kommerziell genutzt wird, es dessen Inhaber ermöglichen, ein [ESZ] zu erlangen; dessen Schutz kann sich jedenfalls nicht auf den Wirkstoff als solchen erstrecken, sondern nur auf die neue Verwendung des Erzeugnisses.“ In einem solchen Fall kann nach Auffassung des Gerichtshofs „nur die Genehmigung für das Inverkehrbringen des ersten Arzneimittels mit dem Erzeugnis, das für eine therapeutische Verwendung zugelassen ist, die derjenigen entspricht, die durch das Patent geschützt ist, auf das sich die Anmeldung des [ESZ] bezieht, im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 als erste Genehmigung für das Inverkehrbringen ,dieses Erzeugnisses‘ als Arzneimittel, das diese neue Verwendung nutzt, angesehen werden“(19). Aus diesen Gründen antwortete der Gerichtshof auf die erste und die dritte Vorlagefrage, „dass die Art. 3 und 4 der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen sind, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens die Erteilung eines [ESZ] für eine bestimmte Verwendung eines Erzeugnisses, für die eine Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt wurde, nicht bereits deshalb ausscheidet, weil für eine andere Verwendung dieses Erzeugnisses schon eine Genehmigung für das Inverkehrbringen als Tierarzneimittel erteilt worden war, sofern diese Verwendung in den Schutzbereich des Grundpatents fällt, auf das sich die Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats bezieht“(20). Im Einklang mit diesem Ergebnis antwortete der Gerichtshof auf die dritte Vorabentscheidungsfrage betreffend Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009(21), dass diese Bestimmung dahin auszulegen sei, dass sie „auf die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Erzeugnisses abstellt, das in den Schutzbereich des Grundpatents fällt, auf das sich die Anmeldung des [ESZ] bezieht“(22). Zur vierten und zur fünften Frage schließlich stellte der Gerichtshof fest, dass „die Antworten auf die vorherigen Fragen in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, bei dem ein und derselbe Wirkstoff in zwei Arzneimitteln enthalten ist, für die nacheinander Genehmigungen für das Inverkehrbringen erteilt wurden, nicht anders ausfallen [kann], wenn für die zweite Genehmigung für das Inverkehrbringen ein vollständiger Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/83 erforderlich war oder wenn das Erzeugnis, das von der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen des entsprechenden Arzneimittels erfasst ist, in den Schutzbereich eines anderen Patents fällt, dessen Inhaber eine andere Person ist als der Anmelder des [ESZ]“(23).

20.      Der Gerichtshof stützte sich im Urteil Neurim somit auf eine im Wesentlichen teleologische Auslegung der Verordnung Nr. 469/2009, um zu dem Schluss zu gelangen, dass der „Schutzbereich des Grundpatents“ das materielle Kriterium für die Beurteilung der Frage sei, ob das von der Verkehrsgenehmigung, auf der die ESZ-Anmeldung beruht, erfasste „Erzeugnis“ bereits Gegenstand einer früheren Verkehrsgenehmigung in dem Mitgliedstaat war, in dem die Anmeldung erfolgt. Das bedeutet im Wesentlichen, dass eine frühere Verkehrsgenehmigung für denselben Wirkstoff (oder dieselbe Wirkstoffzusammensetzung) wie denjenigen, auf den sich die der Anmeldung eines ESZ zugrunde liegende Verkehrsgenehmigung bezieht, nur dann als „erste Genehmigung für das Inverkehrbringen [des] Erzeugnisses“ im Sinne von Art. 3 Buchst. d dieser Verordnung angesehen werden kann, wenn sie in den Schutzbereich des Grundpatents fällt. Damit eröffnete das Urteil Neurim den Weg zur Erlangung eines ESZ für spätere Verwendungen eines bereits bekannten Wirkstoffs, ein Weg, der indessen, wie ich in den vorliegenden Schlussanträgen später erläutern werde, auf der Grundlage einer wörtlichen Auslegung dieser Bestimmung verschlossen wäre.

21.      Auch wenn die Argumentation des Gerichtshofs in der Begründung des Urteils Neurim linear und folgerichtig ist, hat dieses Urteil gleichwohl mehrere Fragen offengelassen, so dass seine wahre Tragweite schwer zu bestimmen ist.

22.      Zunächst einmal steht das Urteil Neurim, wie weiter unten näher ausgeführt wird, nicht im Einklang mit der früheren Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff „Erzeugnis“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 469/2009, was die Frage aufwirft, ob es als Ausnahme zu verstehen ist, die nur unter denselben tatsächlichen Umständen wie den vom Gerichtshof geprüften(24) anwendbar ist, wie sein Tenor zu bestätigen scheint, oder ob es von allgemeinerer Tragweite ist, wie dies demgegenüber der Inhalt der Begründung des Gerichtshofs nahezulegen scheint. Lassen Sie mich eingangs sagen, dass das Urteil Neurim meines Erachtens nicht als Ausnahme angesehen werden kann. Einer solchen Lesart stehen die in den Rn. 22 bis 26 dieses Urteils angestellten Erwägungen entgegen, die eindeutig über den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens hinausgehen, der dem Gerichtshof zur Prüfung vorliegt. Vielmehr bringt die vom Gerichtshof im Urteil Neurim vorgenommene Auslegung eine wichtige Entwicklung in der für ESZ geltenden Regelung mit sich.

23.      Angenommen sodann, die im Urteil Neurim gewählte Lösung gilt über den alleinigen Fall der Verwendung eines zuvor ausschließlich im Veterinärbereich zugelassenen Erzeugnisses in Humanarzneimitteln hinaus, so ist die Tragweite der in seiner Begründung enthaltenen Ausdrücke „neue therapeutische Verwendung“, „neue Verwendung“, „andere Verwendung“ oder „andere therapeutische Indikation“ nicht definiert und eröffnet, wie das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zeigt, mehrere Auslegungsmöglichkeiten. Dies hat zu unterschiedlichen Praktiken der nationalen Patentämter geführt, wie die vom Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb im Auftrag der Kommission durchgeführte Studie zeigt, deren Abschlussbericht mit dem Titel „Study on the Legal Aspects of Supplementary Protection Certificates in the EU“ im Jahr 2018 veröffentlicht wurde (im Folgenden: Max-Planck-Studie). So greifen von den Ämtern, die die Anwendung des Urteils Neurim nicht auf den Fall einer ersten tierärztlichen und einer zweiten humanmedizinischen Verkehrsgenehmigung(25) beschränken, die einen hierauf nur bei einer „neuen medizinischen Indikation“(26) zurück, die anderen dagegen auch bei einer „anderen Verwendung“(27). Darüber hinaus erteilen einige Ämter(28) auch bei Änderungen des Typs II(29) ein ESZ, während andere solche Änderungen als unerheblich betrachten(30).

24.      Schließlich ist unklar, ob der im Urteil Neurim bei der Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 verfolgte teleologische Ansatz auf andere Bestimmungen der Verordnung ausgedehnt werden muss, deren Wortlaut einen engeren Geltungsbereich für den durch das ESZ gewährten Schutz nahelegen würde.

B.      Die Auswirkungen des Urteils Neurim auf die ESZ-Regelung

1.      Das Urteil Neurim und der Begriff Erzeugnis im Sinne der Verordnung Nr. 469/2009

25.      Der Begriff „Erzeugnis“, der nach der Definition in Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 469/2009 „den Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels“ bezeichnet, ist der Eckpfeiler der ESZ-Regelung. Von seiner Auslegung hängt nicht nur die Frage ab, ob eine patentierte Erfindung zur Erteilung eines ESZ(31) führen kann, sondern auch die Eingrenzung des durch das ESZ verliehenen Schutzumfangs(32). Wie Generalanwalt Jacobs in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Pharmacia Italia(33) betonte, ist es für die richtige Auslegung der Verordnung Nr. 469/2009 unerlässlich, der Unterscheidung zwischen dem Begriff „Erzeugnis“ und dem Begriff „Arzneimittel“ Rechnung zu tragen. Das „Erzeugnis“, so wie definiert, ist Gegenstand des Patentschutzes, den das ESZ zu verlängern sucht(34), während das Arzneimittel Gegenstand der Verkehrsgenehmigung ist, die das Recht auf das ESZ begründet(35). Die Verordnung agiert an der Schnittstelle zwischen dem Patentschutz für Erzeugnisse und der Verkehrsgenehmigung für Arzneimittel: Sie zielt darauf ab, den Patentschutz auf Erzeugnisse auszudehnen, die Bestandteile zugelassener Arzneimittel sind.

26.      Vor dem Urteil Neurim war der Begriff „Erzeugnis“ Gegenstand mehrerer Entscheidungen des Gerichtshofs, von denen drei kurz in Erinnerung gerufen werden sollen.

27.      Im Urteil Pharmacia Italia(36), in dem es um die Frage ging, ob eine frühere Verkehrsgenehmigung für ein Tierarzneimittel der Erteilung eines ESZ für denselben, als Humanarzneimittel zugelassenen Wirkstoff entgegensteht, stellte der Gerichtshof in Auslegung von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1768/92(37) zum einen klar, dass „das entscheidende Kriterium für die Erteilung des Zertifikats nicht die Zweckbestimmung des Arzneimittels ist“ und dass zum anderen „das Ziel des durch das Zertifikat gewährten Schutzes für jede Verwendung des Erzeugnisses als Arzneimittel gilt, ohne dass die Verwendung des Erzeugnisses als Humanarzneimittel von der als Tierarzneimittel zu unterscheiden wäre“(38).

28.      Im Urteil Massachusetts Institute of Technology (im Folgenden: Urteil MIT)(39) hatte der Gerichtshof über die Frage zu entscheiden, ob der Begriff „Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1768/92 „eine Zusammensetzung [einschließt], die aus zwei Stoffen besteht, von denen nur einer eigene arzneiliche Wirkungen für eine bestimmte Indikation besitzt und von denen der andere eine Darreichungsform des Arzneimittels ermöglicht, die für die arzneiliche Wirksamkeit des ersten Stoffes für diese Indikation notwendig ist“(40). Bevor er diese Frage verneinte, stellte der Gerichtshof zum einen fest, dass der Begriff „Erzeugnis“ im engeren Sinne als „Wirkstoff“ („principe actif“ oder „substance active“)(41) zu verstehen sei, und zum anderen, dass mangels einer Definition des letztgenannten Begriffs in der Verordnung Nr. 1768/92 die Bedeutung und die Tragweite dieses Begriffs unter Berücksichtigung des allgemeinen Zusammenhangs, in dem er verwendet werde, und entsprechend dem Sinn, den er nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch habe, zu bestimmen sei(42). In Rn. 21 dieses Urteils stellte der Gerichtshof ausdrücklich fest, dass die „pharmazeutische Form eines Arzneimittels“ nicht zur Definition des Begriffs „Erzeugnis“ gehöre, obwohl, wie er später in Rn. 27 ausführte, diese Darreichungsform für die arzneiliche Wirksamkeit des Wirkstoffs notwendig sei(43).

29.      Schließlich entschied der Gerichtshof im Beschluss Yissum(44) die Frage, ob der Begriff „Erzeugnis“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1768/92 eine zweite medizinische Verwendung eines bekannten Wirkstoffs umfasst. Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, das zu diesem Beschluss führte, weist eine große Ähnlichkeit mit dem des Ausgangsverfahrens in der vorliegenden Rechtssache auf. Die Yissum Research and Development Company of the Hebrew University of Jerusalem (im Folgenden: Yissum) hatte beim Patentamt des Vereinigten Königreichs ein ESZ für eine Zusammensetzung mit dem Wirkstoff Calcitriol zur lokalen Behandlung von Hautkrankheiten angemeldet. Die Anmeldung war auf der Grundlage von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 1768/92 mit der Begründung zurückgewiesen worden, die Verkehrsgenehmigung, auf die sich Yissum berufe, sei nicht die erste für das Erzeugnis als Arzneimittel, wie es diese Bestimmung verlange. Zwei weitere Arzneimittel, die unterschiedliche Formulierungen desselben Wirkstoffs enthielten und zur Behandlung verschiedener Erkrankungen (Nierenversagen und Osteoporose) eingesetzt würden, seien nämlich bereits auf der Grundlage verschiedener Patente zugelassen worden. Die Vorlagefrage betraf jedoch nicht die Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 1768/92, sondern die Auslegung ihres Art. 1 Buchst. b, da das nationale Gericht wissen wollte, was unter dem Begriff „Erzeugnis“ in diesem Artikel zu verstehen ist, „[w]enn das Grundpatent eine zweite medizinische Verwendung eines Wirkstoffs schützt“, und ob „die Verwendung des arzneilichen Wirkstoffs eine Rolle [für diesen Begriff] im Sinne [dieser] Verordnung [spielt]“. Da die Antwort auf diese Frage nach Ansicht des Gerichtshofs eindeutig aus dem Urteil MIT abgeleitet werden konnte, beschränkte er sich darauf, klarzustellen, dass der Begriff „Erzeugnis“ im Sinne der fraglichen Verordnung „die therapeutische Nutzung eines durch das Grundpatent geschützten Wirkstoffs nicht umfassen [kann]“(45).

30.      Als das Vorabentscheidungsersuchen, das zum Urteil Neurim führte, dem Gerichtshof vorgelegt wurde, gab es also eine konsolidierte Rechtsprechung, die eine enge Auslegung des Begriffs „Erzeugnis“ vorsah. Ausgehend von einem Verständnis von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 dahin, dass der Begriff „erste Genehmigung für das Inverkehrbringen“ von dem des „Erzeugnisses“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b dieser Verordnung unterschieden wird, um dem des „Grundpatents“ im Sinne von Art. 1 Buchst. c zugeordnet zu werden, hat das Urteil Neurim diese Rechtsprechung de facto umgangen, ohne sie jedoch aufzugeben, mit der Folge, dass eine künstliche Trennung zwischen zwei durch einen funktionalen Zusammenhang verbundenen Bestimmungen der Verordnung Nr. 469/2009 – die erste definiert den in der zweiten verwendeten Begriff(46) – eingeführt und die systemische Kohärenz dieser Regelung, die auf der dem Begriff „Erzeugnis“ zugewiesenen Schlüsselrolle aufbaut, durchbrochen wurde. Dieses Vorgehen ermöglichte dem Gerichtshof im Übrigen eine Lösung, die offen der einige Jahre zuvor aus dem Beschluss Yissum hervorgegangenen Lösung entgegenstand.

31.      Im Anschluss an das Urteil Neurim bestätigte der Gerichtshof sowohl die restriktive Auslegung des Begriffs „Erzeugnis“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 469/2009(47) als auch – allerdings nur in obiter dicta – die in diesem Urteil gewählte Lösung betreffend neue therapeutische Verwendungen eines alten Wirkstoffs(48), wodurch der in der Rechtsprechung und im System dieser Verordnung eingeführte Widerspruch aufrechterhalten wurde.

32.      Das Urteil Abraxis versuchte, diesen Widerspruch abzumildern, indem es zum einen die enge Auslegung des Begriffs „Erzeugnis“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 469/2009(49) bekräftigte und zum anderen die Verbindung zwischen dieser Bestimmung und Art. 3 Buchst. d dieser Verordnung wiederherstellte. So befand der Gerichtshof in Rn. 35 dieses Urteils, dass „nur die Verkehrsgenehmigung als erste Verkehrsgenehmigung für ein Erzeugnis als Arzneimittel im Sinne des Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 angesehen werden [kann], die für das erste Arzneimittel erteilt wurde, das auf den Markt gebracht wurde und das betreffende Erzeugnis, das der Definition in Art. 1 Buchst. b dieser Verordnung entspricht, enthält“(50). Zwar wurde eine Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 gewählt, die von der des Urteils Neurim abweicht und mit dieser unvereinbar ist, aber das Urteil Abraxis revidierte Letzteres nicht, wie Generalanwalt Saugmandsgaard Øe dies in seinen Schlussanträgen(51) im Kern vorgeschlagen hatte, sondern verwies es in die Rolle einer „Ausnahme von der engen Auslegung“ dieser Bestimmung(52).

33.      Wie ich bereits in Nr. 22 dieser Schlussanträge erwähnt habe, glaube ich nicht, dass das Urteil Neurim als Ausnahme angesehen werden kann und dass die hierdurch verursachte Inkohärenz in der Rechtsprechung durch eine Beschränkung seiner Tragweite auf eine Art leere Hülle gelöst werden kann. Ein solches Vorgehen würde Geist und Buchstaben dieses Urteils verletzen, ohne jedweden Widerspruch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs in irgendeiner Weise auszuräumen. Dieser ist daher im Rahmen der vorliegenden Rechtssache aufgerufen, eine klare Entscheidung zu treffen, entweder durch eine Revision des Urteils Neurim oder durch eine Erweiterung des in der Rechtsprechung derzeit geltenden engen Verständnisses des Begriffs „Erzeugnis“.

2.      Das Urteil Neurim und die wörtliche Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009

34.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift ihr Wortlaut, ihre Entstehungsgeschichte sowie ihr Kontext und die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgten Ziele zu berücksichtigen(53). Der Gerichtshof hat jedoch auch betont, dass eine teleologische Auslegung nicht so weit gehen dürfe, dass die fragliche Bestimmung in einer ihrem Wortlaut widersprechenden Weise ausgelegt werde(54). Wie Generalanwalt Saugmandsgaard Øe(55) indessen dargelegt hat, hat das Urteil Neurim durch eine teleologische Auslegung dem klaren Wortlaut von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 Gewalt angetan.

35.      Diese Bestimmung legt die vierte Bedingung für die Erteilung eines ESZ fest und besagt, dass die in Buchst. b dieses Artikels genannte Verkehrsgenehmigung „die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen [des] Erzeugnisses … als Arzneimittel“ sein muss. Ihr Wortlaut enthält die Begriffe „Erzeugnis“, „Genehmigung für das Inverkehrbringen“ und „erste Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses“. Was den Begriff „Erzeugnis“ angeht, so bezieht er sich gemäß Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 469/2009 allein auf den durch das Grundpatent geschützten Wirkstoff, der Gegenstand der zur ESZ-Anmeldung geltend gemachten Verkehrsgenehmigung ist, und nicht auf die in den Ansprüchen des Grundpatents erwähnte Verwendung dieses Wirkstoffs. Was den Begriff „Genehmigung für das Inverkehrbringen“ angeht, so ist zwar klar, dass er sich auf die für den durch das Grundpatent geschützten Wirkstoff erteilte Verkehrsgenehmigung bezieht, doch ist ebenso klar, dass diese Verkehrsgenehmigung nicht notwendigerweise die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 ist und dass es Sache des betreffenden nationalen Patentamts ist, zu prüfen, ob es nicht eine frühere Verkehrsgenehmigung für dasselbe Erzeugnis gibt. Was schließlich den dritten Begriff angeht, so deutet nichts im Wortlaut dieser Bestimmung darauf hin, dass nur eine Verkehrsgenehmigung, die in den Schutzbereich des Grundpatents fällt, oder nur die erste Verkehrsgenehmigung, die eine wirtschaftliche Verwertung dieses Patents ermöglicht, als „erste Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann.

36.      Dem Wortlaut von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 zufolge ist die „erste Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses“ daher die chronologisch älteste Verkehrsgenehmigung, die in dem betreffenden Mitgliedstaat für den Wirkstoff, der Gegenstand der ESZ-Anmeldung ist, erteilt wurde. Die Hinzufügung eines weiteren Kriteriums, abgesehen vom Kriterium der zeitlichen Abfolge, wonach die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses die erste Verkehrsgenehmigung ist, die in den Schutzbereich des Grundpatents fällt, würde dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung zuwiderlaufen(56).

37.      Der mehr oder weniger strikte Charakter der in Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 aufgestellten Bedingung hängt daher nicht vom Bestehen einer Verbindung zwischen dem Patent und der ersten in dieser Bestimmung genannten Verkehrsgenehmigung ab, sondern von dem Spielraum, der dem Begriff „Erzeugnis“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b dieser Verordnung zuerkannt wird. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass es theoretisch möglich wäre, das mit dem Urteil Neurim angestrebte Ergebnis zu erreichen, nämlich die Erteilung eines ESZ für eine zweite medizinische Verwendung eines alten Wirkstoffs zu erlauben, ohne sich von einer wörtlichen Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 zu entfernen, vorausgesetzt allerdings, dass der Begriff „Erzeugnis“ so ausgelegt wird, dass er auch diesen Fall einschließt.

3.      Das Urteil Neurim und die systemische Kohärenz der Verordnung Nr. 469/2009

38.      Da es nicht möglich ist, die enge Auslegung des Begriffs „Erzeugnis“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 469/2009 mit der im Urteil Neurim gewählten Auslegung von Art. 3 Buchst. d dieser Verordnung in Einklang zu bringen, enthält die Rechtsprechung des Gerichtshofs derzeit einen Widerspruch, der die systemische Kohärenz dieser Verordnung untergräbt und dessen Wirkungen weit über die Anwendung der in der letztgenannten Bestimmung genannten Bedingung hinauszugehen drohen.

39.      Zum einen kann nämlich der vom Gerichtshof im Urteil Neurim gewählte teleologische Ansatz auch auf Art. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 469/2009 Anwendung finden, der verhindern soll, dass dasselbe Erzeugnis Gegenstand mehrerer aufeinanderfolgender ESZ ist, was die Gefahr eröffnet, dass die in Art. 13 dieser Verordnung vorgesehene Gesamtschutzdauer überschritten wird(57). Diese Frage ist derzeit Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens des Svea Hovrätt, Patent- och marknadsöverdomstolen (Berufungsgericht in Patent- und Marktsachen, Stockholm, Schweden)(58), das im Kern die Frage stellt, ob das u. a.(59) dem Urteil Neurim zugrunde liegende Ziel der Förderung der Forschung betreffend neue therapeutische Verwendungen für bereits bekannte Erzeugnisse nicht rechtfertigen könnte, dass einem Anmelder, der bereits ein ESZ für ein als solches durch ein geltendes Patent geschütztes Erzeugnis erhalten hat, ein Zertifikat für eine neue Verwendung dieses Erzeugnisses erteilt wird, wenn diese neue Verwendung eine neue therapeutische Indikation darstellt, die durch ein neues Grundpatent besonders geschützt ist.

40.      Zum anderen beeinflusst die Auslegung der Begriffe „Erzeugnis“ und „erste Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses“, die sich aus der Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 im Urteil Neurim(60) ergibt, zwangsläufig andere grundlegende Bestimmungen dieser Verordnung. Dies gilt, wie im Übrigen auch im Urteil Neurim ausdrücklich festgestellt wird, für Art. 13 dieser Verordnung, der den Mechanismus für die Berechnung der Laufzeit des ESZ ab der ersten Verkehrsgenehmigung in der Union festlegt, um den gleichzeitigen Ablauf aller für dasselbe Erzeugnis erteilten ESZ zu ermöglichen(61). Dasselbe gilt für Art. 4 der genannten Verordnung, der den Gegenstand des durch das ESZ gewährten Schutzes festlegt und besagt, dass dieser sich allein auf das „Erzeugnis“ erstreckt, das von der Genehmigung für das Inverkehrbringen des entsprechenden Arzneimittels erfasst wird, „und zwar auf diejenigen Verwendungen des Erzeugnisses als Arzneimittel, die vor Ablauf des Zertifikats genehmigt wurden“, sowie für Art. 5 derselben Verordnung betreffend die Wirkungen des ESZ, dem zufolge ein im Zusammenhang mit einem Erzeugnis, das als Arzneimittel durch eine Verkehrsgenehmigung erfasst ist, erteiltes ESZ „bei Ablauf des Patents dieselben Rechte wie diejenigen, die durch das Grundpatent hinsichtlich dieses Erzeugnisses gewährt wurden, in den Grenzen des durch dieses Patent gewährten Schutzes wie sie in Art. 4 der Verordnung [Nr. 469/2009] genannt sind“, gewährt(62). In den im Urteil Neurim angesprochenen Fällen, in denen ein ESZ für eine neue Verwendung eines bekannten Wirkstoffs erteilt wird, ist der in diesem Art. 4 enthaltene Begriff des von der Verkehrsgenehmigung erfassten Erzeugnisses jedoch notwendigerweise dahin auszulegen, dass er sich nur auf die neue Verwendung dieses Wirkstoffs bezieht(63), mit der Folge, dass sowohl der Gegenstand als auch die Wirkungen des ESZ im Sinne dieser Bestimmungen im Hinblick auf diese neue, als „Erzeugnis“ angesehene Verwendung abgegrenzt werden müssen, was offenbar nicht mit Art. 4 in Einklang steht und die Anwendung des auf Art. 5 der Verordnung zurückgehenden Tests erschwert(64).

41.      Schließlich können die Gründe des Urteils Neurim auch dann Anwendung finden, wenn Gegenstand des Grundpatents nicht eine neue Verwendung eines alten Erzeugnisses ist, sondern ein neues Verfahren zur Herstellung eines bereits bekannten Erzeugnisses oder auch eine neue Zusammensetzung, die ein bereits bekanntes Erzeugnis enthält. Eine solche – theoretisch mögliche – Übertragung würde zum einen den Anwendungsbereich einer Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 erweitern, die dem Wortlaut dieser Bestimmung Gewalt antut, und zum anderen der vom Gerichtshof im Urteil BASF(65), was die Verfahrenspatente betrifft, und im Urteil MIT, was die Zusammensetzungspatente betrifft, vertretenen Auffassung widersprechen(66).

C.      Das Urteil Neurim und die teleologische Auslegung der Verordnung Nr. 469/2009

42.      Nach der Analyse der Anwendungsschwierigkeiten, die das Urteil Neurim hervorgerufen hat, ist zu prüfen, ob die vom Gerichtshof in diesem Urteil gewählte Auslegung im Hinblick auf die Ziele der Verordnung Nr. 469/2009, wie sie sich insbesondere aus den Vorarbeiten zu dieser Verordnung ergeben, gerechtfertigt ist.

43.      Aus der Begründung des Verordnungsvorschlags(67) und der Präambel der Verordnung Nr. 469/2009 geht hervor, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber mit der Verabschiedung der Verordnung im Wesentlichen die vier nachstehenden Hauptziele anstrebte.

1.      Verhinderung der Schaffung von Hindernissen für den freien Verkehr von Arzneimitteln im Binnenmarkt

44.      Zum einen sollte die Verordnung Nr. 469/2009 gemäß ihrer Rechtsgrundlage, Art. 95 EG, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten angleichen, um ein einheitliches System hinsichtlich der Lieferbedingungen, des Anwendungsbereichs, der Laufzeit und der Gültigkeit des ESZ zu schaffen und einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vorzubeugen, die das Funktionieren des Binnenmarkts durch eine Behinderung des freien Verkehrs von Arzneimitteln in diesem beeinträchtigen könnte (siebter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 469/2009 und Nrn. 18 ff. der Begründung des Verordnungsvorschlags).

2.      Förderung der pharmazeutischen Forschung

45.      Zweitens zielt die Verordnung Nr. 469/2009 darauf ab, die Forschung im pharmazeutischen Bereich zu fördern, indem sie einen Schutz vorsieht, der den durch das Patent gewährten Schutz ergänzt, dessen effektive Laufzeit aufgrund der Zeit, die für die Erlangung der Verkehrsgenehmigung erforderlich ist, bevor das Patent kommerziell genutzt werden kann und die in die Forschung getätigten Investitionen amortisiert werden können, verkürzt wird (Erwägungsgründe 3 und 4 der Verordnung Nr. 469/2009, Nr. 2 der Begründung des Verordnungsvorschlags)(68). Das Erfordernis, diesen unzureichenden Schutz, der nachteilige Auswirkungen auf die pharmazeutische Forschung hat, zu beheben (fünfter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 469/2009), ist mit zwei verschiedenen sozioökonomischen Zielen verbunden: zum einen, den entscheidenden Beitrag dieser Forschung „zur ständigen Verbesserung der Volksgesundheit“(69) zu erhalten (zweiter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 469/2009, Nr. 1 der Begründung des Verordnungsvorschlags), und zum anderen, die Gefahr zu verringern, dass die in den Mitgliedstaaten gelegenen Forschungszentren nach Ländern verlagert werden, die einen größeren Schutz bieten (sechster Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 469/2009), und dass Arzneimittel, vor allem solche, die das Ergebnis einer langen und kostspieligen Forschungstätigkeit sind, nicht mehr in Europa weiterentwickelt werden (dritter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 469/2009). In diesem Zusammenhang wird in Nr. 6 der Begründung des Verordnungsvorschlags auch die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie erwähnt, insbesondere gegenüber der Konkurrenz aus den Vereinigten Staaten und Japan, die bereits über eine Gesetzgebung zur Wiederherstellung der Patentschutzdauer verfügen.

46.      Die Frage, welche Art von Forschung durch die Verordnung Nr. 469/2009 gefördert wird und welche Forschungsergebnisse in den Schutzbereich dieser Verordnung fallen, steht im Mittelpunkt der Fragen, die der Gerichtshof im Rahmen der vorliegenden Rechtssache zu beantworten hat. Mit den Autoren der Max-Planck-Studie ist jedoch festzustellen, dass die Verordnung Nr. 469/2009 diesbezüglich einige Unklarheiten aufweist(70).

47.      So heißt es einerseits in Nr. 12 der Begründung des Verordnungsvorschlags zur Veranschaulichung der Merkmale des vorgesehenen Systems, dass der Vorschlag „sich … nicht … auf neue Erzeugnisse [beschränkt]“, dass „[e]in neues Verfahren zur Herstellung eines Erzeugnisses oder eine neue Anwendung des [Erzeugnisses] ebenfalls durch ein Zertifikat geschützt werden [kann]“ und dass „[a]lle Forschungstätigkeiten … unabhängig von ihrer Zielsetzung oder ihrem Ergebnis einen ausreichenden Schutz erhalten [müssen]“. Ebenso wird in Nr. 29 dieser Begründung, in der der Ausdruck „patentgeschütztes Erzeugnis“ kommentiert wird mit dem Ziel, genau anzugeben, welche Art von Erfindung als Grundlage für ein Zertifikat dienen kann, bekräftigt, dass „[d]er V[erordnungsv]orschlag … keinerlei Ausschluss vor[sieht]“ und dass „alle im pharmazeutischen Bereich durchgeführten Forschungstätigkeiten, vorausgesetzt, dass sie zu einer patentierfähigen Neuerung führen – sei es, dass es sich um ein neues Erzeugnis handelt, ein neues Verfahren zur Entwicklung eines neuen oder bereits bekannten Erzeugnisses oder eine neue Zusammensetzung unter Einbeziehung eines neuen oder bereits bekannten Erzeugnisses –, unterschiedslos gefördert werden müssen“. Die Präambel der Verordnung Nr. 469/2009 macht ebenfalls keinen Unterschied zwischen der Forschung an – neuen oder bekannten – Erzeugnissen, an Verfahren zur Herstellung von Erzeugnissen oder an Verwendungen für neue oder alte Erzeugnisse, die alle zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit beitragen können und bei unzureichendem Schutz Gefahr laufen, verlagert zu werden. Im gleichen Sinne definiert Art. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 den Begriff „Grundpatent“ als „ein Patent, das ein Erzeugnis als solches, ein Verfahren zur Herstellung eines Erzeugnisses oder eine Verwendung eines Erzeugnisses schützt und das von seinem Inhaber für das Verfahren zur Erteilung eines Zertifikats bestimmt ist“.

48.      Andererseits wird, wie die Max-Planck-Studie hervorhebt, an mehreren Stellen in der Begründung des Verordnungsvorschlags auf die Notwendigkeit des Schutzes „innovativer Unternehmen“(71) hingewiesen und präzisiert, dass das vorgesehene System nur für „neue Arzneimittel“ gelten soll(72). Obwohl ich der Schlussfolgerung der Studie nicht zustimmen kann, dass sich die Begründung des Verordnungsvorschlags, wenn sie den Begriff „neue Arzneimittel“ verwendet, tatsächlich auf „Wirkstoffe“ und damit auf den Begriff „Erzeugnis“, wie er im Verordnungsvorschlag(73) definiert ist, bezieht, zeigt die Begründung des Verordnungsvorschlags dennoch die klare Absicht der Kommission auf, die Anwendung der Verordnung auf innovative und „research-intensive“ Arzneimittel zu beschränken(74). Die während des Gesetzgebungsverfahrens an dem Verordnungsvorschlag vorgenommenen Änderungen bestätigen diese Auslegung(75). Der eigentliche Zweck der Verordnung Nr. 469/2009 besteht, wie aus ihrer Präambel hervorgeht, im Übrigen darin, die Unzulänglichkeit des durch das Patent gewährten Schutzes aufgrund der durch die Länge des Genehmigungsverfahrens bedingten Erosion der Laufzeit des Patents auszugleichen. Ein solcher Zeitraum ist in der Regel bei Arzneimitteln, die noch nicht in Verkehr gebrachte Wirkstoffe enthalten, länger und erfordert die Vorlage vollständiger Unterlagen zur Unterstützung des Antrags auf Erteilung einer Verkehrsgenehmigung, die sowohl die Wirksamkeit als auch die Sicherheit solcher Arzneimittel betreffen(76). Die Entscheidung des Unionsgesetzgebers, den Begriff „Erzeugnis“ im engen Sinne des Wirkstoffs(77) als Eckpfeiler des durch die Verordnung Nr. 469/2009 geschaffenen Systems festzulegen, einerseits und der Wortlaut von Art. 3 dieser Verordnung, der selbst auf diesen Begriff ausgerichtet ist, andererseits sprechen ebenfalls hierfür.

49.      Der Gedanke, dass jede pharmazeutische Forschung, die zu einer patentierbaren Erfindung geführt hat, auch dann, wenn sie sich auf ein bereits auf dem Markt befindliches Erzeugnis bezieht, in den Genuss des zusätzlichen Schutzes durch das ESZ kommen muss, hat zweifellos die in Rn. 25 des Urteils Neurim(78) vorgenommene Auslegung inspiriert, die im Übrigen auf die in Nr. 47 der vorliegenden Schlussanträge erwähnten Elemente der Begründung des Verordnungsvorschlags gestützt ist(79).

50.      Das Gegenteil wird demgegenüber – diesmal ausdrücklich – im Urteil Abraxis festgestellt, in dem der Gerichtshof unter Bezugnahme auf die vorstehend in Nr. 48 angeführten Punkte der Begründung des Verordnungsvorschlags(80) in Rn. 37 ausführte, dass „der Gesetzgeber bei der Einführung der ESZ-Regelung nicht den Schutz jedweder pharmazeutischen Forschung begünstigen wollte, die zur Erteilung eines Patents und zum Inverkehrbringen eines neuen Arzneimittels führt, sondern lediglich derjenigen, die zum erstmaligen Inverkehrbringen eines Wirkstoffs oder einer Wirkstoffzusammensetzung als Arzneimittel führt“(81).

51.      Rn. 25 des Urteils Neurim und Rn. 37 des Urteils Abraxis widersprechen einander eindeutig. Der Gerichtshof ist u. a. aufgerufen, diesen Widerspruch aufzulösen, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Bestätigung der in Rn. 37 des Urteils Abraxis vorgenommenen teleologischen Auslegung der Verordnung Nr. 469/2009 die Aufhebung der Auslegung bedeutet, auf der die in Rn. 25 des Urteils Neurim gewählte Lösung beruht.

52.      Ich für meinen Teil bin der Auffassung, dass es, anstatt an der Exegese eines Textes – der Begründung des Verordnungsvorschlags – festzuhalten, der im Hinblick auf den Punkt, um den es hier geht, nicht sehr klar ist, angebracht wäre, zur Bestimmung des Gegenstands des durch die Verordnung Nr. 469/2009 gewährten Schutzes und des Umfangs dieses Schutzes auf den Wortlaut der Bestimmungen dieser Verordnung und auf ihre allgemeine Systematik zu verweisen, die für eine Beschränkung des Anwendungsbereichs dieser Verordnung auf Fälle sprechen, in denen sich die ESZ-Anmeldung auf einen noch nicht in Verkehr gebrachten Wirkstoff sowie auf ein Herstellungsverfahren oder eine therapeutische Verwendung eines solchen Wirkstoffs bezieht. Selbst wenn dies nicht bei allen der Fall ist, sprechen einige, wenn nicht alle Elemente der Begründung des Verordnungsvorschlags für eine solche Auslegung.

53.      Diese Auslegung wird im Übrigen durch die Prüfung des dritten Ziels der Verordnung Nr. 469/2009 noch bestätigt.

54.      Bevor diese Prüfung vorgenommen wird, ist es jedoch angebracht, kurz auf einige der von Santen vorgebrachten Argumente bezüglich der Reichweite des mit der Verordnung Nr. 469/2009 verfolgten Ziels der Förderung der pharmazeutischen Forschung einzugehen. Laut Santen soll die Verordnung unzweifelhaft die Forschung nach jeder Innovation, auch im Bereich der Formulierungen, fördern und unterscheidet nicht zwischen der Forschung nach neuen Wirkstoffen und der Forschung im Zusammenhang mit bekannten Stoffen. Erstens sei klar zu unterscheiden zwischen der Entwicklung ein und desselben Erzeugnisses durch ein und denselben Inhaber einer Verkehrsgenehmigung zu neuen Formulierungen oder neuen Indikationen, einerseits, und Situationen, wie derjenigen, die zum Urteil Neurim geführt habe, in der eine neue Formulierung eines alten Wirkstoffs, die die Behandlung einer Krankheit ermöglicht habe, die zuvor nicht mit diesem Wirkstoff habe behandelt werden können, lange nach der ersten Verkehrsgenehmigung für diesen Wirkstoff von einem anderen, unabhängigen Pharmaunternehmen auf eigenes Risiko entwickelt werde, andererseits. Diesbezüglich möchte ich erstens darauf hinweisen, dass aus Nr. 11 der Begründung des Verordnungsvorschlags klar hervorgeht, dass neue Formulierungen a priori vom Anwendungsbereich des Verordnungsvorschlags ausgeschlossen sind(82), zweitens, dass weder die Begründung des Verordnungsvorschlags noch der Verordnungsvorschlag selbst noch Art. 3 der Verordnung Nr. 469/2009 danach unterscheiden, ob die neue therapeutische Indikation oder das neue Verfahren zur Herstellung eines bereits zugelassenen Erzeugnisses vom Inhaber der ersten Verkehrsgenehmigung oder von einem Dritthersteller entwickelt wurde, und drittens, dass die vom Gerichtshof im Urteil Neurim gewählte Lösung, wie in Rn. 34 dieses Urteils festgestellt, völlig unberücksichtigt lässt, „wer jeweils Inhaber der Genehmigungen [für das Inverkehrbringen], Inhaber der Patente oder Anmelder des [ESZ]“ ist. Zweitens würde Santen zufolge eine Auslegung der Verordnung Nr. 469/2009 dahin, dass die neue Verwendung eines alten Wirkstoffs nur dann ein Recht auf ein ESZ begründen könne, wenn dieser Wirkstoff noch nicht zugelassen sei, den Anwendungsbereich dieser Verordnung in einer Weise unangemessen einschränken, die dem Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers zuwiderliefe. Hierzu ist festzustellen, dass in Nr. 29 der Begründung des Verordnungsvorschlags zwar ausgeführt wird, auch die Forschung nach neuen Verwendungen müsse gefördert werden, es dort jedoch weiter heißt, das Ergebnis dieser Forschung komme nur dann für ein ESZ in Frage, wenn alle im Verordnungsvorschlag aufgestellten Voraussetzungen erfüllt seien. Aus dieser Nr. 29 der Begründung des Verordnungsvorschlags allein lässt sich daher nicht die Absicht des Gemeinschaftsgesetzgebers ableiten, in den Anwendungsbereich des Verordnungsvorschlags ebenfalls neue Anwendungen bereits zugelassener Wirkstoffe einzubeziehen. Diese Absicht spiegelt sich auch nicht im Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 469/2009 wider.

3.      Schaffung eines einheitlichen Systems auf der Grundlage einfacher und transparenter Regeln

55.      Der Verordnungsvorschlag befürwortete eine einfache, transparente und für alle Beteiligten leicht zugängliche Regelung(83). Da die Erteilung von ESZ in die Zuständigkeit der nationalen Patentämter fällt, entschied sich die Kommission, um die Belastung der nationalen Patentämter nicht zu erhöhen, für ein System, bei dem die Prüfung von ESZ-Anmeldungen auf objektiven und leicht überprüfbaren Daten beruht(84). Obwohl die Praxis zeigt, dass bestimmte Phasen dieser Prüfung auch sehr komplexe Beurteilungen(85) beinhalten können, erfordert sie dennoch nur, dass das Vorhandensein eines doppelten Zusammenhangs zwischen dem Patent und dem Erzeugnis einerseits sowie zwischen diesem und der Verkehrsgenehmigung andererseits und das Vorliegen früherer ESZ oder Genehmigungen für das Inverkehrbringen desselben Erzeugnisses festgestellt werden. Von den nationalen Patentämtern wird keine Bewertung des Wertes der durch das Patent geschützten Erfindung oder der für ihre Entwicklung erforderlichen Investitionen verlangt. Nach Ansicht des Gemeinschaftsgesetzgebers würde ein einfaches, auf objektiven Kriterien basierendes Regelwerk zur Harmonisierung des gemeinschaftlichen ESZ-Systems beitragen, die Fälle abweichender nationaler Entscheidungen begrenzen und die Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit für die Patentinhaber erhöhen(86). Im Urteil MIT betonte der Gerichtshof im Übrigen selbst die Notwendigkeit, bei der Anwendung der Verordnung Nr. 469/2009 Elemente der Rechtsunsicherheit in Form von Kriterien mit nicht hinreichend bestimmtem Inhalt zu vermeiden, um das mit dieser Verordnung verfolgte Harmonisierungsziel nicht zu untergraben(87).

56.      Das Urteil Neurim läuft dem vorgenannten Ziel jedoch unbestreitbar zuwider, da es in das System der Verordnung Nr. 469/2009 vage Begriffe („neue therapeutische Verwendung“, „neue Verwendung“, „andere Verwendung“ desselben Erzeugnisses) einführt, die, wie die vorliegende Rechtssache deutlich zeigt, mehrere Auslegungen zulassen und je nach der bevorzugten Auslegung komplexe und subjektive Bewertungen durch die nationalen Patentämter beinhalten können.

4.      Erzielung eines angemessenen Ausgleichs der auf dem Spiel stehenden Interessen

57.      Sowohl aus der Präambel der Verordnung Nr. 469/2009 als auch aus der Begründung des Verordnungsvorschlags(88) ergibt sich, dass das Hauptziel dieser Verordnung zwar darin besteht, die Schutzdauer von Arzneimittelpatenten zu verlängern und die Entwicklung heterogener nationaler Regelungen in diesem Bereich zu vermeiden, dieses Ziel jedoch gegen eine Reihe miteinander konkurrierender politischer, wirtschaftlicher und sozialer Interessen abgewogen werden muss. Der Inhaber eines solchen Patents hat ein Monopol auf den Verkauf der unter das Patent fallenden Medikamente, was seine Chancen erhöht, das in die Forschung investierte Geld zurückzuerhalten, aber den Markteintritt von Generika verzögert und die Preise der Medikamente zum Nachteil der Patienten und der nationalen Sozialversicherungssysteme erhöht. Die Regeln über den Anwendungsbereich, die Laufzeit und die Bedingungen für die Erteilung eines ESZ stellen ein empfindliches Gleichgewicht zwischen diesen einander widerstreitenden Interessen dar. Das Urteil Neurim hat dieses Gleichgewicht jedoch zugunsten der Pharmaunternehmen verändert.

D.      Zwischenergebnis

58.      Im Urteil Neurim hat der Gerichtshof eine teleologische Auslegung der Verordnung Nr. 469/2009 vorgenommen. Diese Auslegung verleiht der ESZ-Regelung unbestreitbar Flexibilität und entspricht höchstwahrscheinlich eher den aktuellen Anforderungen der pharmazeutischen Forschung, die sich von denen, die zur Annahme der Verordnung Nr. 1768/92 führten, offensichtlich unterscheiden. Die Entwicklung weiterer medizinischer Verwendungen bereits bekannter Stoffe nimmt im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen zweifellos einen bedeutenden Platz ein, da, wie Santen in ihren schriftlichen Erklärungen betont, ein großer Teil der pharmazeutischen Forschung derzeit auf diesen Sektor ausgerichtet ist(89). Darüber hinaus ermöglicht die im Urteil Neurim gewählte Auslegung die Gewährung eines ausreichenden Rechtsschutzes für jede Innovation, die zur Verstärkung der therapeutischen Wirksamkeit bereits bekannter Wirkstoffe oder zu ihrer Verwendung bei der Behandlung neuer Erkrankungen führt, was dem Ziel einer kontinuierlichen Verbesserung der öffentlichen Gesundheit entspricht, das auch eines der mit der Schaffung des ESZ verfolgten Ziele ist(90).

59.      Allerdings weicht die im Urteil Neurim gewählte Auslegung von Art. 3 Buchst. d sowie der Art. 4 und 13 der Verordnung Nr. 469/2009, wie wir gesehen haben, vom Wortlaut dieser Bestimmungen ab und findet offensichtlich weder in den Vorarbeiten zu dieser Verordnung eine solide Basis, noch entspricht sie der vom Gemeinschaftsgesetzgeber bei der Schaffung des ESZ vorgesehenen Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen. Die Regeln, die dieses Gleichgewicht widerspiegeln und die den Begriff „Erzeugnis“, die Bedingungen für die Erteilung, den Gegenstand und die Laufzeit des ESZ betreffen, sind unverändert geblieben, obwohl die Verordnung Nr. 469/2009 kürzlich geändert wurde(91). Die vorgenannten systemischen Widersprüche, die durch die Rechtsprechung entstanden sind, müssen daher durch die Rechtsprechung selbst gelöst werden. Der vorliegende Fall gibt dem Gerichtshof Gelegenheit dazu.

60.      Die vereinheitlichende Rolle des Gerichtshofs ist bei der Auslegung der Verordnung Nr. 469/2009 von größter Bedeutung, da es sich bei dem ESZ um einen nationalen Titel handelt und das Patentrecht nicht harmonisiert ist, was eine oft uneinheitliche Anwendung dieser Verordnung durch die nationalen Patentämter begünstigt. Ebenso sollte in einem so komplexen und sensiblen Sektor wie dem der Arzneimittel besonders darauf geachtet werden, dass die Kohärenz der Rechtsprechung gewährleistet ist und den verschiedenen betroffenen Wirtschaftsteilnehmern ein höchstmögliches Maß an Rechtssicherheit geboten wird. Die Verordnung Nr. 469/2009 betrifft ein hochtechnisches Gebiet; ihre Verabschiedung erforderte die Berücksichtigung und Abwägung verschiedener Interessen und brachte heikle Entscheidungen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik mit sich. Aus diesem Grund halte ich die Befürwortung einer teleologischen Lesart dieser Verordnung, die zwar das Verdienst hat, andere Formen der Arzneimittelforschung zu schützen und zu fördern, aber vom klaren Wortlaut ihrer Bestimmungen abweicht, in denen sich das vom Gemeinschaftsgesetzgeber beabsichtigte und vom Unionsgesetzgeber aufrechterhaltene Gleichgewicht zwischen den verschiedenen auf dem Spiel stehenden Interessen widerspiegelt, nicht für einen Weg, der eingeschlagen werden sollte.

61.      Nach alledem stimme ich daher mit Generalanwalt Saugmandsgaard Øe in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Abraxis Bioscience (C‑443/17, EU:C:2018:1020) darin überein, dass der Gerichtshof den im Urteil Neurim eingeführten „Grundpatent-Schutzbereichstest“ aufgeben und zu einer grammatischen Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 zurückkehren sollte. Es ist in der Tat Sache des Unionsgesetzgebers und nicht des Gerichtshofs, zu entscheiden, ob und in welchem Umfang der Vorteil des ESZ auf die Entwicklung späterer pharmazeutischer oder medizinischer Verwendungen ausgedehnt werden sollte.

62.      Hinsichtlich der Methode zur Vornahme einer solchen Revision bin ich der Meinung, dass eine „Marginalisierung“ des Urteils Neurim durch die Beschränkung seiner Tragweite auf den einzigen – statistisch sehr seltenen – Fall einer ersten Verkehrsgenehmigung für ein Tierarzneimittel und einer zweiten Verkehrsgenehmigung für ein Humanarzneimittel keine zufriedenstellende Option darstellt. Zunächst einmal kann dieses Urteil, wie oben ausgeführt, nicht als Ausnahme verstanden werden, deren Anwendung streng auf die tatsächlichen Umstände des Ausgangsverfahrens, das zu ihm geführt hat, beschränkt ist. Zweitens würde eine solche Marginalisierung die derzeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestehenden Widersprüche und ihre Auswirkungen auf die systemische Kohärenz der ESZ-Regelung nicht beseitigen. Es erscheint mir daher vorzugswürdig, dem Urteil Abraxis zu folgen und sinngemäß die in dessen Rn. 24 bis 40 enthaltene Analyse zu übernehmen. In diesem Teil der Gründe des Urteils Abraxis ist der Gerichtshof, ausgehend von einer Zusammenfassung der Rechtsprechung zum Begriff „Erzeugnis“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 469/2009, zu einer „engen Auslegung“ von Art. 3 Buchst. d dieser Verordnung gelangt, die als solche mit der vom Gerichtshof im Urteil Neurim verfolgten Argumentation unvereinbar ist. Wenn der Gerichtshof im Urteil Abraxis nicht so weit gegangen ist, das Urteil Neurim zu revidieren, sondern lediglich zu dem Schluss gekommen ist, dass es jedenfalls nicht den Fall einer neuen Formulierung eines bereits bekannten Erzeugnisses betrifft(92), muss der Gerichtshof meines Erachtens diesen Schritt in seinem bevorstehenden Urteil vornehmen.

63.      Ich schlage dem Gerichtshof daher in erster Linie vor, auf die von der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 in Verbindung mit Art. 1 Buchst. b dieser Verordnung dahin auszulegen ist, dass die in Art. 3 Buchst. b genannte Genehmigung für das Inverkehrbringen, auf die sich die Anmeldung eines ESZ für eine andere, neue Verwendung eines alten Wirkstoffs bezieht, nicht als erste Genehmigung für das Inverkehrbringen des betreffenden Erzeugnisses als Arzneimittel angesehen werden kann, wenn dieser Wirkstoff bereits als solcher Gegenstand einer derartigen Genehmigung war.

64.      Sollte sich der Gerichtshof hingegen entscheiden, das Urteil Neurim aufgrund von Erwägungen wie denen in Rn. 58 dieser Schlussanträge zu bestätigen, müsste er entweder den Begriff „Erzeugnis“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 469/2009, wie er im Beschluss Yissum im Zusammenhang mit späteren Verwendungen bestehender Wirkstoffe benutzt wurde, überprüfen oder die in den Rn. 32 bis 39 des Urteils Abraxis vertretene Auslegung von Art. 3 Buchst. d dieser Verordnung aufgeben(93). Aus Gründen, die sowohl mit der Einhaltung des Wortlauts dieser Bestimmung als auch mit der Kohärenz des Systems der Verordnung Nr. 469/2009 zusammenhängen, ziehe ich die erste Option vor. Die folgenden Überlegungen werden nur hilfsweise für den Fall angestellt, dass der Gerichtshof sich entschließt, das Urteil Neurim zu bestätigen und seine Tragweite durch Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zu klären.

E.      Hilfsweise: zu den Vorlagefragen

1.      Zur ersten Vorlagefrage

65.      Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob der Begriff „andere Verwendung“ im Sinne des Urteils Neurim eng oder weit zu verstehen ist. Dieses Gericht führt verschiedene Auslegungsmöglichkeiten an, die zwischen zwei Extremen liegen: Das eine beschränkt die Tragweite dieses Begriffs auf den alleinigen Fall einer Verwendung als Humanarzneimittel im Anschluss an eine Verwendung als Tierarzneimittel, die andere legt ihn nach denselben Kriterien aus, die für die Beurteilung der Patentierbarkeit der Erfindung gelten, d. h., indem sie auch unterschiedliche Formulierungen, Dosierungen und/oder Verabreichungsmethoden einbezieht(94).

66.      Aus den zum Teil bereits erläuterten Gründen scheint mir keines dieser beiden Extreme der Logik zu entsprechen, die dem Urteil Neurim zugrunde liegt. Erstens gibt es, wie ich bereits mehrfach betont habe, in den Gründen dieses Urteils, in deren Licht dessen Tenor zu lesen ist, nichts, was seine Tragweite auf den einzigen Fall der Anwendung beim Menschen nach einer tierärztlichen Anwendung beschränken würde(95). Darüber hinaus erlauben weder die in den Rn. 25 und 26 dieses Urteils(96) verwendete Terminologie noch die vom Gerichtshof entwickelte Argumentation – die aus den Zielen und der Entstehungsgeschichte der Verordnung Nr. 469/2009 das Recht der Inhaber von Patenten, die neue Verwendungen alter Wirkstoffe schützen, auf das ESZ ableitet – die Annahme, der Gerichtshof habe auch Situationen erfassen wollen, in denen ein solches Patent nur geringfügige Änderungen bekannter Verwendungen dieser Wirkstoffe betrifft, wie z. B. unterschiedliche Formulierungen, Dosierungen und/oder Verabreichungsmethoden, die im Übrigen ausdrücklich vom Anwendungsbereich des Verordnungsvorschlags ausgenommen wurden(97).

67.      Die Tragweite des Urteils Neurim muss daher, sollte der Gerichtshof beschließen, es zu bestätigen, zwischen den beiden vorgenannten Extremen angesiedelt werden. Meiner Meinung nach sollten zwei Fälle als von diesem Urteil erfasst angesehen werden. Der erste ist der einer neuen therapeutischen Verwendung, d. h. der Fall, dass die durch das Patent, auf dem die ESZ-Anmeldung beruht, geschützte Erfindung die Behandlung einer neuen Krankheit ermöglicht(98). Sollte der Gerichtshof beschließen, diese Lesart des Urteils Neurim zu akzeptieren, müsste er das Urteil MIT überprüfen. Der zweite – von der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen(99) ins Auge gefasste – Fall ist der, dass der alte Wirkstoff eine eigene „pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung“ ausübt, die sich von der bisher bekannten unterscheidet. Beim Vorliegen einer solchen neuen Wirkung wäre der alte Wirkstoff im Kern einem neuen Erzeugnis gleichzustellen(100).

68.      Zwar erschweren die oben vorgeschlagenen Kriterien, wie die französische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung hervorgehoben hat, die von den nationalen Patentämtern bei ESZ-Anmeldungen durchzuführende Prüfung. Ich würde diese Schwierigkeiten jedoch nicht überbewerten. Diese Ämter müssten nämlich einerseits in der Lage sein, Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung der genannten Kriterien zu lösen, und andererseits würde es, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung zu Recht ausgeführt hat, dem ESZ-Anmelder obliegen, die erforderlichen Nachweise für die Feststellung der neuen therapeutischen Indikation oder der neuen Wirkung des bekannten Wirkstoffs oder der bekannten Zusammensetzung zu erbringen, da andernfalls die Anmeldung zurückgewiesen würde.

69.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof hilfsweise vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass die Erteilung eines ESZ für eine andere Verwendung eines Wirkstoffs, für den in dem betreffenden Mitgliedstaat eine Verkehrsgenehmigung erteilt wurde, im Sinne des Urteils Neurim verlangt, dass die Verkehrsgenehmigung, auf der die ESZ-Anmeldung beruht, eine neue therapeutische Indikation für diesen Wirkstoff erfasst oder sich auf eine Verwendung dieses Wirkstoffs bezieht, bei der dieser eine neue, eigene pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung ausübt.

2.      Zur zweiten Vorlagefrage

70.      Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, wie der im Urteil Neurim enthaltene Begriff „Anwendung, die in den Schutzbereich des Grundpatents fällt“ auszulegen ist. Es fragt insbesondere, ob dieser Begriff impliziert, dass das Grundpatent sich auf die neue medizinische Verwendung beschränken muss, die der therapeutischen Indikation der Verkehrsgenehmigung entspricht, auf die sich die ESZ-Anmeldung stützt. Aus der Vorlageentscheidung geht klar hervor, dass das INPI das Urteil Neurim in diesem Sinne auslegt und anwendet.

71.      Wie Santen vorträgt, ist zu beachten, dass das Urteil Neurim keine Gesichtspunkte enthält, die eine Schlussfolgerung in dem vom INPI beabsichtigten Sinne zulassen würden. Wenn der Gerichtshof nämlich in diesem Urteil klarstellt, dass die andere Verwendung des bekannten Wirkstoffs in den Schutzbereich des Grundpatents fallen müsse, lehnt er lediglich das in Rn. 26 dieses Urteils aufgestellte Kriterium ab, wonach die Genehmigung für das Inverkehrbringen des ersten Arzneimittels, das für „eine therapeutische Verwendung zugelassen ist, die derjenigen entspricht, die durch das Patent geschützt ist, auf das sich die Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats bezieht“, zugelassen ist, die erste Verkehrsgenehmigung für dieses Erzeugnis im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 darstellt.

72.      Allerdings ist das Anliegen des INPI und der französischen Regierung, zu vermeiden, dass die Erteilung eines ESZ für eine andere Verwendung eines alten Erzeugnisses womöglich dazu führt, dass der Zeitpunkt, zu dem der Wirkstoff als solcher gemeinfrei wird, hinausgezögert wird, oder dazu, dass der Geltungsbereich dieses ESZ gemäß Art. 4 der Verordnung Nr. 469/2009 auf andere Verwendungen des Erzeugnisses als Arzneimittel, die durch das Grundpatent geschützt und vor Ablauf des Zertifikats zugelassen sind, ausgedehnt wird, völlig gerechtfertigt. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass das Urteil Neurim selbst besagt, dass der Geltungsbereich eines solchen ESZ in jedem Fall nur die neue Verwendung des alten Wirkstoffs erfassen kann, wie sie durch das Grundpatent geschützt und von der Verkehrsgenehmigung erfasst ist, auf der die ESZ-Anmeldung beruht. In keinem Fall kann sich der Geltungsbereich eines solchen ESZ auf den Wirkstoff als solchen oder auf andere Verwendungen dieses Wirkstoffs erstrecken. Dies ergibt sich aus Rn. 25 des Urteils Neurim und daraus, dass dieses Urteil zugleich Art. 4 der Verordnung Nr. 469/2009 auslegte, der den Gegenstand des ESZ definiert. Wenn ein ESZ für eine andere Verwendung eines alten Wirkstoffs erteilt wird, ist daher das „Erzeugnis“, das von der Verkehrsgenehmigung für das entsprechende Arzneimittel erfasst wird und auf das sich der durch das ESZ gewährte Schutz gemäß diesem Art. 4 erstreckt, nicht der „Wirkstoff“ selbst, sondern die „andere Verwendung dieses Wirkstoffs“, die in den Schutzbereich des Grundpatents fällt(101). Wenn man also davon ausgeht, dass die ESZ-Anmeldung von Santen die in der Antwort auf die erste Vorlagefrage genannten Kriterien erfüllt, was das nationale Gericht festzustellen hat, würde das ESZ nur die Verwendung von „Cyclosporin zur Behandlung von Keratitis“ erfassen.

73.      In ihren schriftlichen Erklärungen bezweifelt die Kommission, dass diese Verwendung des Wirkstoffs „Cyclosporin“ Teil der durch das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Grundpatent geschützten Erfindung ist. Hierzu ist festzustellen, dass – wie die Kommission im Übrigen selbst ausführt – das vorlegende Gericht von der Prämisse ausgeht, dass die in Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 aufgestellte Bedingung erfüllt ist (oder zumindest davon, dass eine solche Prämisse unstreitig ist) und daher insoweit keine Fragen aufwirft. Der Gerichtshof ist daher nicht verpflichtet, Stellung zu nehmen. In jedem Fall geht es bei der Frage, ob die Zweifel der Kommission berechtigt sind, um die Anwendung der Verordnung Nr. 469/2009 und nicht um deren Auslegung. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere im Urteil Teva(102), das die Kriterien für die Anwendung der in Art. 3 Buchst. a dieser Verordnung aufgestellten Bedingung zusammenfasst, enthaltenen Hinweise zu beurteilen, ob die neue Verwendung von „Cyclosporin“, auf die sich die ESZ-Anmeldung von Santen stützt, in den Geltungsbereich des Grundpatents des Ausgangsverfahrens fällt.

74.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof hilfsweise vor, auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 4 der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass, wenn sich das ESZ auf eine andere Verwendung eines alten Wirkstoffs bezieht, der Begriff „Erzeugnis“ im Sinne dieser Vorschrift nur diese Verwendung bezeichnet und sich nicht auf den Wirkstoff als solchen oder auf andere Verwendungen dieses Wirkstoffs erstreckt.

IV.    Ergebnis

75.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof in erster Linie vor, der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) wie folgt zu antworten:

Art. 3 Buchst. d der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel in Verbindung mit Art. 1 Buchst. b dieser Verordnung ist dahin auszulegen, dass die in Art. 3 Buchst. d genannte Genehmigung für das Inverkehrbringen, auf die sich die Anmeldung eines ergänzenden Schutzzertifikats für eine andere, neue Verwendung eines alten Wirkstoffs bezieht, nicht als erste Genehmigung für das Inverkehrbringen des betreffenden Erzeugnisses als Arzneimittel angesehen werden kann, wenn dieser Wirkstoff bereits als solcher Gegenstand einer derartigen Genehmigung war.

Hilfsweise schlage ich dem Gerichtshof für den Fall, dass er sich entschließt, eine Auslegung des Urteils Neurim vorzunehmen, vor, die von der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 3 der Verordnung Nr. 469/2009 ist dahin auszulegen, dass die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats für eine andere Verwendung eines Wirkstoffs, für den in dem betreffenden Mitgliedstaat eine Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt wurde, im Sinne des Urteils vom 19. Juli 2012, Neurim Pharmaceuticals (1991) (C‑130/11, EU:C2012:489), verlangt, dass die Verkehrsgenehmigung, auf der die Anmeldung eines ergänzenden Schutzzertifikats beruht, eine neue therapeutische Indikation für den genannten Wirkstoff erfasst oder sich auf eine Verwendung dieses Wirkstoffs bezieht, bei der dieser eine neue, eigene pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung ausübt.

2.      Art. 4 der Verordnung Nr. 469/2009 ist dahin auszulegen, dass, wenn sich das ergänzende Schutzzertifikat auf eine andere Verwendung eines alten Wirkstoffs bezieht, der Begriff „Erzeugnis“ im Sinne dieser Vorschrift nur diese Verwendung bezeichnet und sich nicht auf den Wirkstoff als solchen oder auf andere Verwendungen dieses Wirkstoffs erstreckt.







































































































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