C-321/19 – Bundesrepublik Deutschland (Détermination des taux des péages pour l’utilisation d’autoroutes)
Language of document : ECLI:EU:C:2020:480
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
HENRIK SAUGMANDSGAARD ØE
vom 18. Juni 2020(1)
Rechtssache C‑321/19
BY,
CZ
gegen
Bundesrepublik Deutschland
(Vorabentscheidungsersuchen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen [Deutschland])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge – Richtlinie 1999/62/EG – Richtlinie 2006/38/EG – Berechnung der Mautgebühren – Art. 7 Abs. 9 – Grundsatz der Anlastung von Infrastrukturkosten – Kosten der Verkehrspolizei – Betriebskosten – Externe Kosten – Kosten für die Kapitalverzinsung – Art. 7a Abs. 1 bis 3 – Unmittelbare Wirkung – Geringfügige Kostenüberschreitung –Nachträgliche Berechnung – Zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen“
I. Einleitung
1. In der vorliegenden Rechtssache geht es um die Festlegung der Mautgebühren für die Benutzung deutscher Autobahnen durch schwere Nutzfahrzeuge.
2. Das Vorabentscheidungsersuchen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (Deutschland) ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Betreibern eines Verkehrsunternehmens, BY und CZ (im Folgenden: Kläger des Ausgangsverfahrens), und der Bundesrepublik Deutschland (im Folgenden: Beklagte des Ausgangsverfahrens) wegen der Rückerstattung von Mautgebühren.
3. Es betrifft hauptsächlich die Auslegung von Art. 7 Abs. 9 der Richtlinie 1999/62/EG(2) in der durch die Richtlinie 2006/38/EG(3) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2006 geänderten Fassung (im Folgenden: geänderte Richtlinie 1999/62). Diese Vorschrift sieht vor, dass die Mautgebühren auf dem Grundsatz der ausschließlichen Anlastung von Infrastrukturkosten beruhen, und zählt die Faktoren für die Berechnung der Mautgebühren auf.
4. Der Gerichtshof wird um Klärung der Frage ersucht, ob Art. 7 Abs. 9 dieser Richtlinie unmittelbare Wirkung hat und ob in die Berechnung der Mautgebühren Faktoren wie die Kosten der Verkehrspolizei einfließen können. Zudem wird sich der Gerichtshof zu der Frage äußern müssen, ob eine geringfügige Kostenüberschreitung eine Verletzung dieses Artikels darstellt und, falls diese Frage zu bejahen ist, ob diese Vorschrift eine nachträgliche Berechnung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens zulässt.
5. Im Anschluss an meine Würdigung werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62, auf dessen unmittelbare Wirkung sich ein Einzelner berufen kann, dahin auszulegen, dass er die Kosten der Verkehrspolizei nicht einschließt. Ich werde ihm auch vorschlagen, zu entscheiden, dass selbst eine geringfügige Überschreitung der Infrastrukturkosten als Verletzung dieser Vorschrift anzusehen ist und dass diese Vorschrift sowie Art. 7a Abs. 1 und 2 der geänderten Richtlinie 1999/62 einer nachträglichen Berechnung entgegenstehen, durch die nachgewiesen werden soll, dass der festgesetzte Mautsatz im Ergebnis die ansatzfähigen Kosten tatsächlich nicht überschreitet.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
6. Art. 2 der geänderten Richtlinie 1999/62 bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
a) ‚transeuropäisches Straßennetz‘ das in Anhang I Abschnitt 2 der Entscheidung Nr. 1692/96/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 1996 über gemeinschaftliche Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes [(ABl. 1996, L 228, S. 1), zuletzt geändert durch die Verordnung Nr. 1791/2006 des Rates vom 20. November 2006 (ABl. 2006, L 363, S. 1)] … festgelegte und auf Karten dargestellte Straßennetz. Die Karten beziehen sich auf die entsprechenden Abschnitte im verfügenden Teil und/oder in Anhang II der genannten Entscheidung;
aa) ‚Baukosten‘ die mit dem Bau verbundenen Kosten, gegebenenfalls einschließlich der Finanzierungskosten, von
– neuen Infrastrukturen oder neuen Infrastrukturverbesserungen (einschließlich umfangreicher struktureller baulicher Instandsetzung) oder
– Infrastrukturen oder Infrastrukturverbesserungen (einschließlich umfangreicher baulicher Instandsetzung), die nicht mehr als 30 Jahre vor dem 10. Juni 2008 fertig gestellt wurden, soweit Mautsysteme am 10. Juni 2008 bereits eingeführt sind, bzw. deren Bau nicht mehr als 30 Jahre vor der Einrichtung neuer Mautsysteme, die nach dem 10. Juni 2008 eingeführt werden, abgeschlossen wurde; …[(4)]
…
ii) … Die Kosten für Infrastrukturen oder Infrastrukturverbesserungen dürfen spezielle Infrastrukturaufwendungen zur Verringerung der Lärmbelästigung oder zur Verbesserung der Verkehrssicherheit und tatsächliche Zahlungen des Infrastrukturbetreibers für objektive umweltbezogene Aspekte, wie z. B. Schutz gegen Bodenverseuchung, einschließen;
ab) ‚Finanzierungskosten‘ Kreditzinsen und/oder Verzinsung des Eigenkapitals der Anteilseigner;
…
b) ‚Mautgebühr‘ eine für eine Fahrt eines Fahrzeugs auf einem der in Artikel 7 Absatz 1 genannten Verkehrswege zu leistende Zahlung, deren Höhe sich nach der zurückgelegten Wegstrecke und dem Fahrzeugtyp richtet;
ba) ‚gewogene durchschnittliche Mautgebühr‘ sämtliche Einnahmen aus Mautgebühren in einem bestimmten Zeitraum, geteilt durch die Anzahl der in diesem Zeitraum in einem bestimmten mautpflichtigen Straßennetz zurückgelegten Fahrzeugkilometer, wobei sowohl die Einnahmen als auch die Fahrzeugkilometer für die mautpflichtigen Fahrzeuge berechnet werden;
…“
7. In Art. 7 Abs. 1, 9 und 10 dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten dürfen Maut- und/oder Benutzungsgebühren auf dem transeuropäischen Straßennetz oder auf Teilen dieses Netzes nur unter den in den Absätzen 2 bis 12 genannten Bedingungen beibehalten oder einführen. …
…
(9) Die Mautgebühren beruhen auf dem Grundsatz der ausschließlichen Anlastung von Infrastrukturkosten. Die gewogenen durchschnittlichen Mautgebühren müssen sich ausdrücklich an den Baukosten und den Kosten für Betrieb, Instandhaltung und Ausbau des betreffenden Verkehrswegenetzes orientieren. Die gewogenen durchschnittlichen Mautgebühren können auch eine Kapitalverzinsung oder Gewinnmarge zu Marktbedingungen umfassen[(5)].
(10) a) Unbeschadet der gewogenen durchschnittlichen Mautgebühren nach Absatz 9 können die Mitgliedstaaten die Mautgebührensätze für Zwecke wie die Bekämpfung von Umweltschäden, die Verringerung der Verkehrsüberlastung, die Minimierung von Infrastrukturschäden, die Optimierung der Nutzung der betreffenden Verkehrswege oder die Förderung der Verkehrssicherheit differenzieren, sofern diese Differenzierung
…
– nicht auf die Erzielung zusätzlicher Mauteinnahmen ausgerichtet ist, wobei ein unbeabsichtigter Anstieg der Einnahmen (mit dem Ergebnis gewogener durchschnittlicher Mautgebühren, die nicht mit Absatz 9 im Einklang stehen) durch eine Änderung der Differenzierungsstruktur ausgeglichen wird, die innerhalb von zwei Jahren nach Ende des Rechnungsjahres, in dem die zusätzlichen Einnahmen erzielt wurden, vorzunehmen ist;
…“
8. Art. 7 Abs. 11 dieser Richtlinie sieht vor, dass in Ausnahmefällen bei Verkehrswegen in Bergregionen nach Unterrichtung der Europäischen Kommission ein Mautaufschlag für bestimmte Straßenabschnitte erhoben werden kann, falls es zu einer akuten, den ungehinderten Fahrzeugverkehr beeinträchtigenden Verkehrsüberlastung oder erheblichen Umweltschäden durch deren Benutzung durch Fahrzeuge kommt, vorausgesetzt, dass bestimmte Bedingungen eingehalten werden, insbesondere die Obergrenzen für die Überschreitung der gewogenen durchschnittlichen Mautgebühren, die als Prozentsatz derselben ausgedrückt werden.
9. Art. 7a dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Bei der Festlegung der Höhe der gewogenen durchschnittlichen Mautgebühren für das betreffende Infrastrukturnetz oder einen eindeutig ausgewiesenen Teil dieses Netzes berücksichtigen die Mitgliedstaaten die in Artikel 7 Absatz 9 genannten Kosten. Die berücksichtigten Kosten müssen sich auf das Netz oder den Teil des Netzes, auf dem Mautgebühren erhoben werden, und auf die mautpflichtigen Fahrzeuge beziehen. Die Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, diese Kosten nicht oder nur teilweise über die Mauteinnahmen anzulasten.
(2) Die Mautgebühren werden nach Artikel 7 und Absatz 1 des vorliegenden Artikels festgelegt.
(3) Im Falle neuer, von den Mitgliedstaaten nach dem 10. Juni 2008 eingeführter Mautsysteme ohne konzessionsgebundene Mautgebühren berechnen die Mitgliedstaaten die Kosten anhand einer Methodik, bei der die in Anhang III aufgeführten Eckpunkte für die Berechnung zugrunde gelegt werden.
…
Mautsysteme, die am 10. Juni 2008 bereits eingeführt sind oder für die vor dem 10. Juni 2008 Angebote oder Antworten auf Einladungen zur Teilnahme am Verhandlungsverfahren vorliegen, die im Rahmen eines öffentlichen Vergabeverfahrens unterbreitet wurden, sind von diesem Absatz ausgenommen, solange sie in Kraft bleiben und sofern sie nicht wesentlich geändert werden.
…“
10. Anhang III („Eckpunkte für die Anrechnung der Kosten und die Berechnung der Mautgebühren“) dieser Richtlinie bestimmt in den Nrn. 2.1, 3 und 4:
„2.1 Kosten der Investitionen in Infrastrukturen
– Die Kosten der Investitionen in Infrastrukturen müssen die Baukosten (einschließlich der Finanzierungskosten) und die Kosten für die Entwicklung der Infrastruktur sowie gegebenenfalls einen Zinsertrag für das investierte Kapital oder eine Gewinnmarge umfassen. Sie müssen außerdem die Kosten für den Landerwerb, die Planung, die Auslegung, die Überwachung der Bauaufträge und das Projektmanagement, die Kosten für archäologische und sonstige Bodenuntersuchungen sowie sonstige einschlägige Nebenkosten einschließen.
…
– Alle in der Vergangenheit entstandenen Kosten müssen auf den gezahlten Beträgen beruhen. Künftig noch anfallende Kosten werden auf der Grundlage von angemessenen Kostenschätzungen in Anschlag gebracht.
– Bei öffentlichen Investitionen kann davon ausgegangen werden, dass die Finanzierung über Kredite erfolgt. Auf die in der Vergangenheit angefallenen Kosten sind die Zinssätze anzuwenden, die in dem betreffenden Zeitraum für öffentliche Anleihen galten.
…
– Erwartete Kapitalerträge oder Gewinnmargen müssen eine im Lichte der Marktbedingungen angemessene Höhe aufweisen und können abgestuft werden, um vertraglich beteiligten Dritten mit Blick auf die Anforderungen an die Qualität der Dienstleistungen Leistungsanreize zu bieten. Die Kapitalerträge können unter Verwendung wirtschaftlicher Indikatoren wie der internen Verzinsung (Internal Rate of Return on Investment, IRR) oder dem gewichteten Kapitalkostensatz (Weighted Average Cost of Capital, WACC) bewertet werden.
…
3. Betriebs‑, Bewirtschaftungs- und Mauteinzugskosten
Hierunter fallen sämtliche Kosten des Infrastrukturbetreibers, die nicht in Abschnitt 2 erfasst sind und die Einrichtung, den Betrieb und die Bewirtschaftung der Infrastruktur und des Mautsystems betreffen. …
…
4. Anteil des Güterverkehrs, Äquivalenzfaktoren und Korrekturmechanismen
– Die Berechnung der Mautgebühren muss auf dem tatsächlichen oder prognostizierten Anteil des Schwerlastverkehrs an den Fahrzeugkilometern beruhen; die Gebühren können, sofern dies gewünscht wird, durch Äquivalenzfaktoren korrigiert werden, um den erhöhten Kosten für den Bau und die Instandsetzung der von Nutzfahrzeugen genutzten Infrastruktur gebührend Rechnung zu tragen.
– Die folgende Tabelle enthält als Anhaltspunkt eine Auswahl von Äquivalenzfaktoren. Wendet ein Mitgliedstaat Äquivalenzfaktoren mit anderen als den in der Tabelle angegebenen Werten an, so müssen sie auf sachlich zu rechtfertigenden Kriterien beruhen und öffentlich bekannt gegeben werden.
…
– Mautsysteme, die auf der Vorhersage des Verkehrsaufkommens beruhen, müssen einen Korrekturmechanismus enthalten, durch den die Höhe der Maut regelmäßig angepasst wird, damit eine Berichtigung erfolgt, wenn die Kostendeckung aufgrund von Vorhersagefehlern nicht erreicht bzw. überschritten wird.“
B. Deutsches Recht
11. Die Mautgebühren für die Benutzung der deutschen Bundesautobahnen für den Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis zum Ablauf des 31. Dezember 2014 werden nach den Angaben des vorlegenden Gerichts gemäß § 14 Abs. 3 des Bundesfernstraßenmautgesetzes vom 12. Juli 2011 (BGBl. 2011 Teil I, S. 1378) durch dessen Anlage 4 festgelegt. Darin wird die Maut pro Kilometer für Fahrzeuge oder Fahrzeugkombinationen mit bis zu drei Achsen und mit vier oder mehr Achsen in vier Kategorien entsprechend dem Grad der Emissionen festgelegt. Die Mautgebühren betragen zwischen 0,141 und 0,288 Euro.
12. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Mautgebühr für den Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis 18. Juli 2011, für den die Erstattung beantragt werde, auf der Grundlage der „Aktualisierung der Wegekostenrechnung für die Bundesfernstraßen in Deutschland“, auch „Wegekostengutachten“ vom 30. November 2007 genannt (im Folgenden: WGK 2007), mit einem Kalkulationszeitraum von 2007 bis 2012 berechnet worden sei. Was die Bewertung der für den Autobahnbau verwendeten Grundstücke anlangt, so wurden nach den Angaben des vorlegenden Gerichts die Ergebnisse der „Wegekostenrechnung für das Bundesfernstraßennetz unter Berücksichtigung der Vorbereitung einer streckenbezogenen Autobahnbenutzungsgebühr“ (Wegekostengutachten 2002) vom März 2002 mit dem Kalkulationszeitraum 2003 bis 2010 gemäß einer Ergänzung vom 22. September 2008 zum WKG 2007 zugrunde gelegt.
III. Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof
13. Die Kläger des Ausgangsverfahrens betrieben bis zum 31. August 2015 in der Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts nach polnischem Recht („Spólka cywilna“) eine Spedition mit Unternehmenssitz in Polen, die u. a. Transportfahrten in Deutschland durchführte. In diesem Rahmen entrichteten die Kläger des Ausgangsverfahrens für die Benutzung deutscher Bundesautobahnen für den Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis 18. Juli 2011 Mautgebühren.
14. Da sie diesen Betrag als überhöht erachteten, erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens im Namen ihrer Gesellschaft bürgerlichen Rechts beim Verwaltungsgericht Köln (Deutschland) Klage auf Erstattung des gezahlten Betrags(6). Nachdem Letzteres ihre Klage abgewiesen hatte, legten die Kläger des Ausgangsverfahrens beim vorlegenden Gericht Berufung ein und machten im Wesentlichen geltend, die Kostenkalkulation der hier anzuwendenden Mautsätze sei überhöht und verstoße gegen Unionsrecht.
15. Um diese Frage entscheiden zu können, ist nach Ansicht des vorlegenden Gerichts zunächst zu prüfen, ob Art. 7 Abs. 9 und Art. 7a Abs. 1 und 2 der geänderten Richtlinie 1999/62 unmittelbare Wirkung haben und ob diese Vorschriften ordnungsgemäß in deutsches Recht umgesetzt wurden.
16. Insoweit weist dieses Gericht erstens darauf hin, dass der Gerichtshof in der Rechtssache, in der das Urteil Rieser Internationale Transporte(7) ergangen sei, entschieden habe, dass sich ein Einzelner bei unterbliebener oder unvollständiger Umsetzung dieser Richtlinie gegenüber einer staatlichen Stelle nicht auf die ursprüngliche Fassung von Art. 7 Abs. 9 der Richtlinie 1999/62(8) berufen könne. Nach Ansicht des Gerichtshofs könne diese Bestimmung nicht als unbedingt und hinreichend genau angesehen werden, so dass sich der Einzelne gegenüber einer staatlichen Stelle nicht auf sie berufen könne.
17. Das vorlegende Gericht ist jedoch der Ansicht, dass Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 nach Änderungen durch den Unionsgesetzgeber unmittelbare Wirkung habe. Durch die Änderungsrichtlinie seien normative Klarstellungen erfolgt, die als „unbedingt und hinreichend genau“ angesehen werden könnten. Das vorlegende Gericht weist auch darauf hin, dass Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 seiner Ansicht nach ein Kostenüberschreitungsverbot enthalte, nach dem überhöhte, nicht durch die Kosten der Infrastruktur gerechtfertigte Mautgebühren unzulässig seien.
18. Zweitens möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Kosten der Verkehrspolizei, die bei der Festlegung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mautgebühren in Ansatz gebracht worden seien, unter den Begriff „Betriebskosten“ im Sinne von Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 fallen. Seiner Ansicht nach dient die Tätigkeit der Verkehrspolizei nicht dazu, das In-Funktion-Sein der Infrastruktur zu gewährleisten, sondern vielmehr dazu, die Einhaltung der Verkehrsregeln durch die Verkehrsteilnehmer zu überwachen und sich mit den Folgen etwaiger Verstöße zu befassen. Das vorlegende Gericht führt ferner aus, dass die im deutschen Recht festgesetzten Mautgebühren auf Rechenfehlern beruhten, insbesondere was die Berechnung des Zinsertrags für das in den Kauf von Grundstücken investierte Kapital anlange, auf denen Autobahnen gebaut worden seien, und möchte gleichzeitig wissen, ob bei geringfügiger Überschreitung der Infrastrukturkosten eine Verletzung von Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 festgestellt werden könne.
19. Drittens und letztlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass eine überhöhte Mautgebühr nach nationalem Recht im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens nachträglich korrigiert werden könne. Es möchte jedoch unter Bezugnahme auf Rn. 138 des Urteils Kommission/Österreich(9) wissen, ob eine solche Regelung mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Insoweit wirft das vorlegende Gericht auch die Frage auf, ob bei einer nachträglichen Kostenberechnung nach Ablauf der Kalkulationsperiode in vollem Umfang von den tatsächlichen Kosten und den tatsächlichen Mauteinnahmen auszugehen ist.
20. Unter diesen Umständen hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Kann ein einzelner Mautpflichtiger sich gegenüber nationalen Gerichten auf die Einhaltung der Vorschriften über die Kalkulation der Maut nach Art. 7 Abs. 9, Art. 7a Abs. 1 und 2 der geänderten Richtlinie 1999/62 (unabhängig von den dortigen Regelungen nach Art. 7a Abs. 3 in Verbindung mit dem Anhang III) berufen, wenn der Mitgliedstaat bei der gesetzlichen Festlegung der Mautgebühren diese Vorschriften nicht in vollem Umfang eingehalten oder zulasten des Mautpflichtigen fehlerhaft umgesetzt hat?
2. Für den Fall, dass Frage 1 zu bejahen ist:
a) Können als Kosten des Betriebs des Verkehrswegenetzes im Sinne des Art. 7 Abs. 9 Satz 2 der geänderten Richtlinie 1999/62 auch Kosten der Verkehrspolizei angesetzt werden?
b) Führt eine Überschreitung der mit der gewogenen durchschnittlichen Mautgebühr ansatzfähigen Infrastrukturkosten im Bereich
aa) bis 3,8 %, insbesondere dann, wenn Kosten in Ansatz gebracht werden, die schon dem Grunde nach nicht ansatzfähig sind,
bb) bis 6 %
zu einem Verstoß gegen das Kostenüberschreitungsverbot nach Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 mit der Folge, dass das nationale Recht insoweit nicht anwendbar ist?
3. Für den Fall, dass Frage 2 b) zu bejahen ist:
a) Ist die Rn. 138 des Urteils Kommission/Österreich so zu verstehen, dass eine erhebliche Kostenüberschreitung im Ergebnis nicht mehr durch eine im gerichtlichen Verfahren eingereichte nachträgliche Kostenberechnung ausgeglichen werden kann, durch die nachgewiesen werden soll, dass der festgesetzte Mautsatz im Ergebnis die ansatzfähigen Kosten tatsächlich nicht überschreitet?
b) Für den Fall, dass Frage 3 a) zu verneinen ist:
Ist für eine nachträgliche Kostenberechnung nach Ablauf der Kalkulationsperiode in vollem Umfang von den tatsächlichen Kosten und den tatsächlichen Mauteinnahmen, d. h. nicht von den diesbezüglichen Annahmen in der ursprünglichen prognostischen Kalkulation, auszugehen?
21. Die Kläger des Ausgangsverfahrens, die Beklagte des Ausgangsverfahrens, die deutsche Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Dieselben Parteien und Beteiligten waren in der mündlichen Verhandlung vom 4. März 2020 vertreten.
IV. Würdigung
22. Ich schlage vor, bei der Prüfung der Fragen des vorlegenden Gerichts mit der zweiten Vorlagefrage zu beginnen, bei der es im Wesentlichen darum geht, ob die Kosten der Verkehrspolizei Kosten für den Betrieb des Verkehrswegenetzes im Sinne von Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 sind und ob eine geringfügige Überschreitung der Infrastrukturkosten zu einem Verstoß gegen diese Vorschrift führt (Abschnitt A). Dieser Ansatz ermöglicht es, festzustellen, inwieweit eine Berechnung der Mautgebühren wie die im vorliegenden Fall vorgenommene ein Problem der Vereinbarkeit mit der geänderten Richtlinie 1999/62 aufwirft. Diese Aspekte der Analyse werden im Rahmen der Prüfung der ersten Vorlagefrage betreffend die unmittelbare Wirkung der Vorschriften dieser Richtlinie ein Anhaltspunkt sein (Abschnitt B). Sodann werde ich mich der Prüfung der dritten und letzten Vorlagefrage widmen, die die nachträgliche Berechnung zum Gegenstand hat (Abschnitt C). Schließlich werde ich mich mit der Frage der zeitlichen Beschränkung der Wirkungen des Urteils des Gerichtshofs befassen (Abschnitt D).
A. Zu den Kosten der Verkehrspolizei und zur geringfügigen Überschreitung der Infrastrukturkosten (zweite Vorlagefrage)
23. Ich prüfe in einem ersten Schritt, ob die Infrastrukturkosten die Kosten der Verkehrspolizei umfassen, und sodann in einem zweiten Schritt, ob eine geringfügige Überschreitung der Infrastrukturkosten im Einklang mit der geänderten Richtlinie 1999/62 stehen kann.
1. Zu den Kosten der Verkehrspolizei (zweite Vorlagefrage, Buchst. a)
24. Ich bin der Meinung, dass die Kosten der Verkehrspolizei keine Infrastrukturkosten darstellen, insbesondere keine Betriebskosten im Sinne von Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62.
25. Nach klassischer Auslegungsmethode(10) stützt sich meine Analyse auf den Wortlaut dieser Vorschrift, auf die Vorarbeiten der geänderten Richtlinie 1999/62 und auf den Zweck dieser Richtlinie.
a) Zur Auslegung des Wortlauts
26. Es ist auf den Wortlaut von Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 insgesamt abzustellen. Ich stelle zunächst fest, dass in dieser Vorschrift die Kosten der Verkehrspolizei im Rahmen der Berechnung der „Mautgebühren“ in keiner Weise erwähnt werden(11). Im Übrigen ergibt sich aus der Analyse des Wortlauts der Termini dieser Vorschrift, dass diese die Faktoren, die in diese Berechnung einfließen können, abschließend aufzählt.
27. So sieht der erste Satz von Art. 7 Abs. 9 dieser Richtlinie vor, dass die Mautgebühren, die als eine für eine Fahrt eines Fahrzeugs auf einem Verkehrsweg zu leistende Zahlung definiert sind, auf dem Grundsatz der ausschließlichen Anlastung von Infrastrukturkosten beruhen. Dieser Grundsatz wird in den folgenden Sätzen in Bezug auf die „gewogene durchschnittliche Mautgebühr“ erläutert, die mit Bezugnahme auf die Einnahmen aus Mautgebühren in einem bestimmten Zeitraum, nach Maßgabe der Anzahl der zurückgelegten Fahrzeugkilometer, definiert wird(12). Der zweite Satz stellt klar, dass sich die gewogenen durchschnittlichen Mautgebühren ausdrücklich an den Baukosten und den Kosten für Betrieb, Instandhaltung und Ausbau des betreffenden Verkehrswegenetzes orientieren müssen. Im dritten Satz heißt es, dass die gewogenen durchschnittlichen Mautgebühren auch eine Kapitalverzinsung oder Gewinnmarge zu Marktbedingungen umfassen können.
28. Die Verbindung zwischen dem ersten Satz, der die Mautgebühren betrifft, und den Kosten, die bei ihrer Berechnung ansatzfähig sind, ergibt sich aus der Verwendung des Ausdrucks „plus précisément“ oder einer vergleichbaren Terminologie in den verschiedenen Sprachfassungen(13). Diese Verbindung ergibt sich auch aus dem dritten Satz, in dem dargelegt wird, welche sonstigen Elemente die gewogenen durchschnittlichen Mautgebühren „auch … umfassen [können]“.
29. Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 legt somit die einzigen Faktoren fest, die bei der Berechnung der gewogenen durchschnittlichen Mautgebühren berücksichtigt werden können.
30. Was die relevanten Kosten anlangt, so sind diese auf die Baukosten und die Kosten für Betrieb, Instandhaltung und Ausbau des betreffenden Verkehrswegenetzes beschränkt. Die Baukosten werden in Art. 2 Buchst. aa der geänderten Richtlinie 1999/62 definiert und umfassen die Kosten für die Verkehrspolizei nicht. Bei den anderen Kosten sind die Kosten für Instandhaltung und Ausbau des betreffenden Netzes kaum geeignet, die Kosten der Verkehrspolizei mit abzudecken, und das vorlegende Gericht befragt den Gerichtshof im Übrigen speziell nur zu den Betriebskosten.
31. Wie das vorlegende Gericht, die Kläger des Ausgangsverfahrens und die Kommission bin ich der Ansicht, dass die Kosten der Verkehrspolizei keine Betriebskosten sind. Der Begriff „Betriebskosten“ bezieht sich nämlich auf die Kosten, die durch den Betrieb des betreffenden Bauobjekts entstehen. Der Betrieb einer Autobahn erstreckt sich jedoch nicht auf polizeiliche Tätigkeiten.
32. Wie die Kommission hervorgehoben hat, fallen diese Tätigkeiten in die Verantwortung des Staates, der in einer anderen Eigenschaft als als der Betreiber einer Autobahninfrastruktur handelt, nämlich als Behörde, die hoheitliche Befugnisse ausübt.
33. Diese Auslegung des Begriffs „Betriebskosten“ wird durch die Vorschriften von Anhang III Nr. 3 der geänderten Richtlinie 1999/62 bestätigt, worin es heißt, dass es sich um Kosten des Betreibers handelt. Dieser Anhang III ist zwar rationae temporis nicht auf die Berechnung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mautgebühren anwendbar, da er gemäß Art. 7a Abs. 3 dieser Richtlinie nicht für Mautsysteme gilt, die, wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende System, am 10. Juni 2008 bereits eingeführt waren, aber er kann zumindest eine Grundlage für die Auslegung der im übrigen Teil dieser Richtlinie verwendeten Terminologie sein. Insoweit weise ich darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen solchen Kosten und dem Betreiber vor allem in der deutschen Sprachfassung der geänderten Richtlinie 1999/62 deutlich wird, in deren Art. 7 Abs. 9 von den „Kosten für Betrieb“ und in deren Anhang III Nr. 3 von „Kosten des Infrastrukturbetreibers“ gesprochen wird(14). Ich füge hinzu, dass in Anhang III nirgends die Rede von Kosten der Verkehrspolizei ist.
34. Zur Stützung dieser Auslegung möchte ich hinzufügen, dass andere Vorschriften dieser Richtlinie darauf abzielen, die Kosten zu begrenzen, die bei der Berechnung der Mautgebühren ansatzfähig sind.
35. So sieht Art. 7 Abs. 1 der geänderten Richtlinie 1999/62 vor, dass die Mitgliedstaaten Maut- und/oder Benutzungsgebühren auf dem Straßennetz nur unter den in Art. 7 Abs. 2 bis 12 dieser Richtlinie genannten Bedingungen beibehalten oder einführen dürfen. Nach Art. 7a Abs. 1 dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Höhe der gewogenen durchschnittlichen Mautgebühren die in Art. 7 Abs. 9 dieser Richtlinie genannten Kosten. Ebenso beschränken Art. 7 Abs. 10 Buchst. a, insbesondere der dritte Gedankenstrich dieser Vorschrift(15), und Art. 7 Abs. 11 Buchst. b zweiter Gedankenstrich(16) der geänderten Richtlinie 1999/62 den Anstieg der gewogenen durchschnittlichen Mautgebühren, indem sie auf Art. 7 Abs. 9 dieser Richtlinie verweisen.
36. Daher bin ich der Ansicht, dass aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 weder ausdrücklich noch implizit hervorgeht, dass die Kosten der Verkehrspolizei von dieser Vorschrift, insbesondere von dem darin enthaltenen Begriff „Betriebskosten“, erfasst werden.
b) Zu den Vorarbeiten
37. Die Vorarbeiten bestätigen diese Auslegung, indem sie jegliche Frage nach den Absichten des Gesetzgebers in Bezug auf die Berücksichtigung der Kosten der Verkehrspolizei im Rahmen der Infrastrukturkosten ausblenden.
38. Insoweit weise ich darauf hin, dass die Kommission schon bei der Annahme des Grünbuchs der Kommission mit dem Titel „Faire und effiziente Preise im Verkehr“(17), in dem die Möglichkeiten der Internalisierung der externen Kosten geprüft werden(18), beabsichtigt hatte, die Kosten der Verkehrspolizei in die Infrastrukturkosten einzubeziehen, die ebenso wie die Kosten der Verschmutzung als externe Kosten angesehen wurden. Der Unionsgesetzgeber hat diesen Ansatz jedoch sowohl für den Erlass der Richtlinie 1999/62 als auch für den der Richtlinie 2006/38, die zur geänderten Richtlinie 1999/62 geführt hat, verworfen.
39. Was erstens die Vorarbeiten zur Richtlinie 1999/62 anlangt, so hatte die Kommission in der Begründung ihres Richtlinienvorschlags(19) die Ansicht vertreten, dass den externen Kosten die Kosten für Polizeidienst und Unfälle zuzurechnen seien(20), aber sie hatte in diesem Stadium nicht beabsichtigt, sie in den Text der Richtlinie selbst einzubeziehen. Letzterer sah lediglich vor, dass die Mautgebühren einen Bestandteil zur Deckung externer Kosten beinhalten, wobei diese als „die durch Verkehrsstaus, Luftverschmutzung und Lärm verursachten Kosten“ definiert wurden(21).
40. Im Europäischen Parlament gab der Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Verbraucherschutz eine Stellungnahme ab(22), wonach die Richtlinie auf die im Grünbuch genannten vier wichtigsten Ursachen externer Kosten im Transportwesen Bezug nehmen müsse, nämlich den Verkehr, die Luftverschmutzung, die Lärmbelastung und die Unfälle. Das Parlament folgte dieser Stellungnahme jedoch nicht und schlug sogar vor, alle Bestimmungen zu streichen, die auf eine Einbeziehung externer Kosten abzielten, bis weitere Erkenntnisse hierzu vorlägen(23).
41. Da der Rat der Europäischen Union die Auffassung der Kommission(24) nicht teilte, nahm er einen Gemeinsamen Standpunkt an, der dem Ansatz des Parlaments folgte und daher das Konzept der „externen Kosten“ nicht enthielt, und merkte dazu an, dass hierfür noch keine eingehende Untersuchung vorliege(25). Zudem betonte der Rat, dass die Mitgliedstaaten, die Mautgebühren erhöben, das Grundprinzip einhalten müssten, wonach die Höhe der Mautgebühren an die Infrastrukturkosten geknüpft sein müsse(26).
42. Die schließlich vom Parlament und vom Rat erlassene Richtlinie 1999/62 sah keine Vorschrift zu den externen Kosten vor(27).
43. Was zweitens die Vorarbeiten zur Richtlinie 2006/38 anlangt, so geht aus dem Richtlinienvorschlag(28) hervor, dass die Kommission diesmal vorgesehen hatte, die Kosten der Verkehrspolizei zu berücksichtigen, indem sie in Art. 7 Abs. 9 Unfallkosten einbezog, sofern diese nicht von den Versicherungen übernommen wurden(29).
44. Das Parlament hatte auch beabsichtigt, die Unfallkosten zu berücksichtigen und zugleich deren Umfang auf die Kosten entsprechend den tatsächlichen Zahlungen des Infrastrukturverwalters für Investitionen zum Schutz vor und zur Verringerung von Unfällen zu beschränken(30).
45. Der Rat nahm jedoch einen Gemeinsamen Standpunkt an, in dem die Unfälle in keiner Weise erwähnt werden. Dieses Organ übernahm daher insoweit den Vorschlag des Parlaments nicht, der indessen nicht so weit ging wie der Vorschlag der Kommission(31). Der Text der geänderten Richtlinie 1999/62 in der Gestalt, in der er schließlich angenommen wurde, enthält keine Vorschrift zu den externen Kosten.
46. Daher ist festzustellen, dass die Vorarbeiten die Auslegung stützen, wonach Art. 7 Abs. 9 zweiter Satz der geänderten Richtlinie 1999/62 die Kosten der Verkehrspolizei in keiner Weise einschließt.
c) Zur teleologischen Auslegung
47. Der mit der geänderten Richtlinie 1999/62 verfolgte Zweck führt zu keinem anderen Ergebnis. Aus den Erwägungsgründen 1 und 2 ergibt sich, dass der Gesetzgeber beschlossen hat, die Abgabesysteme schrittweise zu harmonisieren und gerechte Mechanismen für die Erhebung von Gebühren von den Verkehrsunternehmern einzuführen, um Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Verkehrsunternehmen in der Union zu beseitigen(32).
48. Die geänderte Richtlinie 1999/62 sieht somit Regeln vor, die für alle Mitgliedstaaten gelten, und erwägt gleichzeitig Änderungen für die Zukunft.
49. Diese Änderungen betreffen vor allem die Internalisierung externer Kosten und damit die Anwendung des Verursacherprinzips. Wie aus den Erwägungsgründen 18 und 19(33) der Richtlinie 2006/38 hervorgeht, sind diese Änderungen nur für die Zukunft vorgesehen. Der auf die Zukunft gerichtete Charakter dieses Vorhabens wird durch Art. 11 Abs. 3 der geänderten Richtlinie 1999/62 bestätigt, wonach es Sache der Kommission ist, ein allgemein anwendbares, transparentes und nachvollziehbares Modell zur Bewertung aller externen Kosten sowie eine Analyse der Auswirkungen der Internalisierung externer Kosten vorzulegen.
50. Folglich hat der Unionsgesetzgeber einstweilen die Internalisierung externer Kosten und insbesondere der Kosten der Verkehrspolizei bewusst aus dem Anwendungsbereich der geänderten Richtlinie 1999/62 ausgenommen, und diese Kosten konnten in Anbetracht der durch Art. 7 Abs. 9 dieser Richtlinie gesetzten Grenzen von den Mitgliedstaaten bei der Berechnung der Infrastrukturkosten nicht einbezogen werden.
51. Ich teile daher die Ansicht der deutschen Regierung nicht, wonach die Sicherheit des Verkehrs oder der Nutzung der Infrastruktur, auf die die Verkehrspolizei abziele, ein Merkmal des Straßennetzes sei, weshalb deren Nichtberücksichtigung als Infrastrukturkosten dem Grundsatz, dass die Kosten vom Nutzer getragen würden, und dem „Verursacherpinzip“ widerspreche. Ich teile auch die Auffassung der Beklagten des Ausgangsverfahrens nicht, wonach die Nichtberücksichtigung dieser Kosten im Fall eines öffentlichen Betreibers zu einer unterschiedlichen Behandlung öffentlicher und privater Betreiber führe, da die Kosten für die Gewährleistung der Sicherheit der Infrastruktur durch „patrouilleurs autoroutiers“ (Autobahnkontrolleure), französische Konzessionäre oder die Autobahnpolizei(34) Kosten des privaten Infrastrukturbetreibers und folglich Betriebskosten im Rahmen von Konzessionsverträgen seien(35).
52. Insoweit weise ich erstens darauf hin, dass die speziellen Infrastrukturaufwendungen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit zu den Finanzierungskosten für Infrastrukturen im Sinne von Art. 2 Buchst. aa zweiter Gedankenstrich Ziff. ii Unterabs. 3 der geänderten Richtlinie 1999/62 gehören. Darüber hinaus teile ich den Standpunkt der Kommission, den sie in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof geäußert hat, nämlich dass die Kosten der Verkehrspolizei im Gegensatz zu den Kosten ziviler Einsätze, beispielsweise für Straßenwärter in Deutschland oder „patrouilleurs autoroutiers“ (Autobahnkontrolleure) in Frankreich, keine Betriebskosten darstellen.
53. Zweitens heißt es auch in der Richtlinie 1999/62 in der zuletzt durch die Richtlinie 2013/22/EU(36) geänderten Fassung, die in ihrem Art. 2 Buchst. bb eine „Gebühr für externe Kosten“ vorsieht, dass eine solche Abgabe zur Anlastung der Kosten, die in einem Mitgliedstaat durch verkehrsbedingte Luftverschmutzung und/oder Lärmbelastung entstehen, gedacht ist. Unfallkosten, die zu den Kosten der Verkehrspolizei gehören, finden weder in dieser Definition noch in einer anderen Vorschrift dieser Richtlinie ihren Niederschlag.
54. Ich füge drittens hinzu, dass die Stellungnahme der Kommission vom 10. Dezember 2014(37), auf die sich die Beklagte des Ausgangsverfahrens als Nachweis dafür beruft, dass die Kommission der Ansicht sei, dass die Kosten der Verkehrspolizei Infrastrukturkosten und insbesondere Betriebskosten darstellten, sowie die Stellungnahme der Kommission vom 16. Januar 2019(38) auf die Wegekostengutachten für Deutschland für die Jahre 2013 bis 2017 und die Jahre 2018 bis 2022 Bezug nehmen. Sie erfassen somit nicht den im vorliegenden Fall relevanten Zeitraum. Da eine Stellungnahme der Kommission zudem keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugt(39), kann sie die rechtliche Tragweite einer vom Parlament und vom Rat erlassenen Richtlinie nicht verändern.
55. Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, auf Buchst. a der zweiten Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 dahin auszulegen ist, dass er die Kosten der Verkehrspolizei nicht als Infrastrukturkosten und insbesondere nicht als Betriebskosten umfasst.
2. Zur geringfügigen Überschreitung der Infrastrukturkosten (zweite Frage, Buchst. b)
56. Das vorlegende Gericht führt aus, nach dem Urteil Kommission/Österreich(40) stelle eine Überschreitung der Kosten für Bau, Betrieb und weiteren Ausbau einer Autobahn um mehr als 150 % einen Verstoß gegen die Verpflichtungen aus Art. 7 Buchst. h der Richtlinie 93/89 dar. Es möchte vom Gerichtshof wissen, ob eine geringfügige Überschreitung dieser Kosten die gleichen Konsequenzen hat.
a) Zur Überschreitung der Infrastrukturkosten durch die Berücksichtigung externer Kosten, die in die geänderte Richtlinie 1999/62 keinen Eingang gefunden haben
57. Wie ich oben ausgeführt habe(41), schließt Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 es aus, dass die Mautgebühren andere Bestandteile als die in dieser Vorschrift genannten erfassen. Daher stellt die Überschreitung der Infrastrukturkosten aufgrund einer Berücksichtigung solcher anderen Faktoren einen Verstoß gegen diese Vorschrift dar, und es ist davon auszugehen, dass die Verpflichtung, eine auf solche Faktoren gestützte Mautgebühr zu zahlen, einer rechtlichen Grundlage entbehrt.
58. Was die Kosten der Verkehrspolizei anbelangt, so steht Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 insoweit einer Überschreitung um 3,8 % bzw. jeglicher Überschreitung entgegen, da diese Kosten weder unter den Begriff „Betriebskosten“ noch – allgemeiner – unter den der „Infrastrukturkosten“ fallen. Daher braucht nicht geprüft zu werden, ob bei der Berechnung dieser Kosten ein möglicher Rechenfehler in dem Sinne aufgetreten ist, dass nicht nur die Kosten der Verkehrspolizei im eigentlichen Sinne, sondern auch Kosten im Zusammenhang mit der Verbrechensbekämpfung im Allgemeinen angesetzt wurden(42). Da all diese Kosten nichts mit den in Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 genannten Kosten zu tun haben, müssen sie in ihrer Gesamtheit ausgeschlossen werden. Somit ist es nicht nötig, zu klären, ob sich die Kosten in Höhe von ungefähr 730 Mio. Euro für das Jahr 2010 ausschließlich aus mit der Verkehrspolizei in Zusammenhang stehenden Kosten zusammensetzen, was das vorlegende Gericht und die Kläger des Ausgangsverfahrens bezweifelt haben.
59. Ich werde im Folgenden die geringfügige Überschreitung von Kosten untersuchen, die der geänderten Richtlinie 1999/62 nicht fremd, sondern in ihr vorgesehen sind; im vorliegenden Fall sind dies die Kosten für die Verzinsung des investierten Kapitals nach Art. 7 Abs. 9 dritter Satz der genannten Richtlinie.
b) Zur geringfügigen Überschreitung der Infrastrukturkosten für die Verzinsung des investierten Kapitals
60. Ich schlage dem Gerichtshof vor, zu entscheiden, dass selbst eine geringfügige Überschreitung der in Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 vorgesehenen Infrastrukturkosten für die Verzinsung des investierten Kapitals einen Verstoß gegen diese Vorschrift darstellt.
61. Im vorliegenden Fall würde sich die Überschreitung aufgrund von Rechenfehlern bei der Verzinsung des investierten Kapitals auf 2,2 % (6 % bis 3,8 %) belaufen.
62. Eine solche Überschreitung ist zwar nicht mit der im Urteil Kommission/Österreich festgestellten Überschreitung um mehr als 150 % vergleichbar.
63. Dennoch weise ich darauf hin, dass weder Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 noch andere Vorschriften dieser Richtlinie eine De-minimis-Regel enthalten. Zudem bestimmt Art. 7 Abs. 9 erster Satz dieser Richtlinie, dass die Mautgebühren auf dem Grundsatz der ausschließlichen Anlastung von Infrastrukturkosten beruhen, was einer Überschreitung entgegensteht, wie gering sie auch sein mag.
64. Daher ist davon auszugehen, dass selbst eine geringfügige Überschreitung der Infrastrukturkosten für die Verzinsung des investierten Kapitals einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 darstellt.
65. Was die Frage angeht, ob es zu einer Überschreitung der Infrastrukturkosten für die Verzinsung des investierten Kapitals gekommen ist, weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof dazu nicht ausdrücklich befragt wird. Gleichwohl möchte ich, hilfsweise und um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, Folgendes klarstellen.
66. Ich weise darauf hin, dass das vorlegende Gericht der Ansicht ist, dass insoweit Fehler unterlaufen seien, als der Wert des Grundvermögens, d. h. der Grundstücke, auf denen die betreffenden Autobahnen gebaut worden seien, der zur Berechnung der Zinsen gedient habe, nicht auf der Basis der Tagesneuwerte dieses Grundvermögens hätte berechnet werden dürfen. Dadurch sei die Berechnung auf die Betriebsfiktion eines teilprivaten und teilweise öffentlichen Unternehmens gestützt worden, was falsch sei, weil eine Privatisierung des Autobahnnetzes in dem betreffenden Zeitraum nicht ernstlich beabsichtigt gewesen sei(43).
67. Wenn man eine andere „Fiktion“ verwende, nämlich die Betriebsfiktion „öffentliche Verwaltung“, wie es dieses Gericht ausdrückt, könnten die Grundstückswerte, auf deren Grundlage die Zinsen berechnet würden, nur zu den Anschaffungskosten eingestellt werden. Diese Werte dürfen seiner Ansicht nach in der Folge nicht weiter angepasst werden, wie dies im vorliegenden Fall geschehen sei, weil dadurch nicht lediglich das aufgewandte Kapital einschließlich der Inflation verzinst werde, sondern eine zusätzliche Einnahme erwirtschaftet werde, die die Kosten der Wiederbeschaffung der Grundstücke berücksichtige, obwohl Letztere nicht wiederbeschafft werden müssten.
68. Insoweit weise ich darauf hin, dass die Möglichkeit der Kapitalverzinsung in Art. 7 Abs. 9 dritter Satz der geänderten Richtlinie 1999/62 vorgesehen ist. In dieser Vorschrift heißt es ausdrücklich, dass die gewogenen durchschnittlichen Mautgebühren eine Kapitalverzinsung zu Marktbedingungen umfassen können. Zudem sieht Art. 2aa dieser Richtlinie vor, dass die Baukosten gegebenenfalls die Finanzierungskosten umfassen, die in Art. 2ab der genannten Richtlinie als Kreditzinsen und/oder Verzinsung des Eigenkapitals der Anteilseigner definiert werden.
69. Wenngleich den Mitgliedstaaten bei der Berechnung der Mautgebühren ein Spielraum zugestanden wird, damit sie u. a eine bestimmte Berechnungsmethode anstelle einer anderen anwenden und das Ertragsniveau der Infrastruktur bestimmen können, so ist es dennoch wichtig, dass die getroffenen Entscheidungen realistisch sind und dass die Kosten der bestehenden oder geplanten wirtschaftlichen Realität entsprechen. Andernfalls würde Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 seiner praktischen Wirksamkeit beraubt.
70. Wenn weder eine Privatisierung noch eine Wiederbeschaffung von Autobahnen und Grundstücken, auf denen sie errichtet werden, vorgesehen war und keine weiteren einschlägigen wirtschaftlichen Argumente vorliegen, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat, so kann es zu Recht davon ausgehen, dass es nicht realistisch war, bei der Berechnung der Mautgebühren den Neuwert dieser Grundstücke anzusetzen.
71. Ich teile daher die Ansicht des vorlegenden Gerichts, wonach im Rahmen der Überwachung der Einhaltung von Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 zu prüfen ist, ob die Beurteilung der Verzinsung des investierten Kapitals nicht auf falschen Annahmen beruht, die die bestehende oder geplante wirtschaftliche Realität verzerren.
72. Nach alledem ist meines Erachtens auf den Buchst. b der zweiten Vorlagefrage zu antworten, dass auch eine geringfügige Überschreitung der in Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 vorgesehenen Infrastrukturkosten einen Verstoß gegen diese Vorschrift darstellt.
73. Hilfsweise weise ich darauf hin, dass Art. 7 Abs. 9 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer Berechnung der Kapitalverzinsung entgegensteht, die sich auf Werte stützt, die die wirtschaftliche Realität nicht berücksichtigen.
B. Zur unmittelbaren Wirkung (erste Vorlagefrage)
74. Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob Art. 7 Abs. 9 und Art. 7a Abs. 1 und 2 der geänderten Richtlinie 1999/62 unmittelbare Wirkung haben.
75. Ich weise darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs in allen Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, diese Bestimmungen, wenn fristgemäß erlassene Durchführungsmaßnahmen fehlen, allen innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften gegenüber geltend gemacht werden können; der Einzelne kann sich auf diese Bestimmungen auch berufen, wenn sie Rechte festlegen, die dem Staat gegenüber geltend gemacht werden können(44).
76. Nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. Juni 2008(45) stellt sich nur die Frage, ob die genannten Vorschriften als hinreichend genau angesehen werden können.
77. Wie ich in Nr. 69 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, sieht Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 im Bereich der Berechnung der gewogenen durchschnittlichen Mautgebühren einen Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten vor. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs beeinträchtigt dieser Umstand jedoch nicht die Genauigkeit und Unbedingtheit einer Vorschrift, soweit ein Mindestschutz feststellbar ist, den die Mitgliedstaaten verwirklichen müssen, und durch eine gerichtliche Überprüfung geklärt werden kann, ob die Mitgliedstaaten dieses Mindestmaß gewahrt haben(46).
78. Zudem schließt ein Ermessensspielraum nicht aus, dass gerichtlich überprüft werden kann, ob die nationalen Behörden dieses Ermessen überschritten haben(47) und ob sich folglich die innerstaatliche Regelung und deren Anwendung in den Grenzen des von der betreffenden europäischen Vorschrift definierten Ermessensspielraums halten(48).
79. Was die Richtlinie 1999/62 anlangt, so hat der Gerichtshof im Urteil Rieser Internationale Transporte festgestellt, dass Art. 7 Abs. 9 dieser Richtlinie nicht als unbedingt oder hinreichend genau angesehen werden kann, so dass sich der Einzelne gegenüber einer staatlichen Stelle auf ihn berufen könnte, weil diese Vorschrift noch ungenauer als Art. 7 Buchst. h der Richtlinie 93/89 ist. Aus diesem Urteil geht hervor, dass Art. 7 Abs. 9 der Richtlinie 1999/62 den Mitgliedstaaten zwar eine allgemeine Leitlinie für die Berechnung der Mautgebühren vorgab, jedoch keine konkrete Berechnungsmethode enthielt und den Mitgliedstaaten insoweit einen sehr weiten Spielraum beließ(49). Genauer gesagt war Art. 7 Abs. 9 der Richtlinie 1999/62, abgesehen von der Verwendung des Begriffs „gewogene durchschnittliche Mautgebühren“ anstelle von „Mautgebühren“, ebenso formuliert wie Art. 7 Buchst. h der Richtlinie 93/89, ohne jedoch diesen Begriff zu definieren(50).
80. Art. 7 Buchst. h der Richtlinie 93/89 bestimmte, dass sich die Mautgebühren an den Kosten für Bau, Betrieb und weiteren Ausbau des betreffenden Straßennetzes orientieren. Nach Ansicht des Gerichtshofs konkretisierte dieser Artikel die Natur dieses Zusammenhangs nicht und wurden in dieser Bestimmung weder die drei fraglichen Kostenkategorien – für Bau, Betrieb und weiteren Ausbau – noch der Begriff des „betreffenden Straßennetzes“ definiert(51).
81. Ich weise darauf hin, dass Art. 7 Abs. 9 zweiter Satz der geänderten Richtlinie 1999/62 seinem Wortlaut nach auch vorsieht, dass sich die gewogenen durchschnittlichen Mautgebühren an den Baukosten und den Kosten für Betrieb, Instandhaltung und Ausbau des betreffenden Verkehrswegenetzes orientieren müssen. Wie ich jedoch oben dargelegt habe(52), stellt dieser Artikel nunmehr eindeutig klar, dass die Mautgebühren auf dem Grundsatz der ausschließlichen Anlastung von Infrastrukturkosten beruhen, die in dieser Vorschrift abschließend aufgezählt sind, was den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten entsprechend verringert.
82. Zudem definiert die geänderte Richtlinie 1999/62 im Gegensatz zu den früheren Fassungen in ihrem Art. 2 das betreffende Infrastrukturnetz, nämlich das „transeuropäisches Straßennetz“, sowie die Begriffe „gewogene durchschnittliche Mautgebühren“, „Baukosten“ und „Finanzierungskosten“, wobei Letztere gegebenenfalls in den Baukosten enthalten sein können.
83. Daraus folgt meiner Ansicht nach, dass die Hauptmängel, die der Gerichtshof im Urteil Rieser Internationale Transporte aufgezeigt hat und die einer unmittelbaren Wirkung von Art. 7 Abs. 9 der Richtlinie 1999/62 entgegenstanden, vom Gesetzgeber in der geänderten Richtlinie 1999/62 behoben wurden. Art. 7 Abs. 9 der letztgenannten Richtlinie erlegt den Mitgliedstaaten meines Erachtens eine klare Verpflichtung auf, sich bei der Festlegung der Mautgebühren ausschließlich auf die in dieser Vorschrift aufgezählten Kosten zu stützen. Das Vorhandensein eines Ermessensspielraums und die Unanwendbarkeit von Anhang III der geänderten Richtlinie 1999/62 im vorliegenden Fall(53) hindern nationale Gerichte nicht daran, auf Antrag eines Einzelnen zu überprüfen, ob diese Verpflichtung eingehalten wurde, wobei diese Kontrolle darin besteht, zumindest zu prüfen, ob nicht Kosten, die nichts mit den in der Richtlinie vorgesehenen zu tun haben, wie die Kosten der Verkehrspolizei, in die Berechnung der Mautgebühren eingeflossen sind(54).
84. Daher ist meiner Ansicht nach auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass sich ein Einzelner vor einem nationalen Gericht auf die unmittelbare Wirkung von Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 berufen kann, um überprüfen zu lassen, ob sich die innerstaatliche Regelung und deren Anwendung in den Grenzen des von Art. 7 Abs. 9 dieser Richtlinie definierten Ermessensspielraums halten, wenn Kosten der Verkehrspolizei bei der Festlegung der Mautgebühren berücksichtigt werden.
C. Zur nachträglichen Berechnung (dritte Vorlagefrage)
85. Mit seiner dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Folgen eine Auslegung von Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 hat, wonach, wie ich vorschlage, die im Rahmen des Ausgangsverfahrens geprüfte Mautberechnung unzutreffend ist. Dieses Gericht möchte wissen, ob eine nachträgliche Berechnung der Infrastrukturkosten auf der Grundlage der tatsächlichen Kosten und der tatsächlich als Mautgebühren erhobenen Gebühren möglich ist. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist eine solche Berechnung unter bestimmten Umständen nach deutschem Recht erlaubt, doch könne sich daraus eine Nichtrückzahlung der von den Klägern geforderten Beträge ergeben.
86. Sofern diese Kosten höher als die erhobenen Gebühren seien(55), könnten sie die Mautsätze ausgleichen, die in Bezug auf die geänderte Richtlinie 1999/62 als überhöht angesehen würden. Das vorlegende Gericht führt aus, ein solcher Ausgleich nach einer nachträglichen Berechnung sei nach deutschem Recht erlaubt, sofern der Fehler nicht schwer und offenkundig sei. Dieses Gericht fragt sich jedoch, ob ein solcher Ausgleich im Licht des Urteils Kommission/Österreich und insbesondere seiner Rn. 138 im Einklang mit der geänderten Richtlinie 1999/62 steht.
87. Ich weise darauf hin, dass der Gerichtshof in diesem Punkt die Rechtfertigung der Erhöhung des Mautsatzes für die Brennerautobahn (Österreich) zurückgewiesen hat, die auf eine neue Methode zur Berechnung der Kosten gestützt war, die von der Republik Österreich im Gerichtsverfahren geltend gemacht worden war. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass dieser Mitgliedstaat nicht dargelegt hatte, inwieweit diese neue Methode für die Berechnung der Kosten der betreffenden Autobahn geeigneter sein sollte.
88. Der Gerichtshof hat hinzugefügt, dass Art. 7 Buchst. h der Richtlinie 93/89 voraussetzt, dass die Anpassung der Mautsätze später erfolgt als die Berechnung, die ihrer Rechtfertigung dient, und dass daher eine Erhöhung von Mautgebühren nicht mit einer im Nachhinein angestellten Berechnung gerechtfertigt werden kann.
89. Es ist somit zu prüfen, ob die geänderte Richtlinie 1999/62, insbesondere ihr Art. 7 Abs. 9 und ihr Art. 7a Abs. 1 und 2, im Licht dieses Urteils dahin auszulegen ist, dass sie einer im gerichtlichen Verfahren vorgenommenen nachträglichen Berechnung entgegensteht, durch die nachgewiesen werden soll, dass der festgesetzte Mautsatz im Ergebnis die ansatzfähigen Kosten tatsächlich nicht überschreitet.
90. Insoweit weise ich erstens darauf hin, dass ein Gericht nach Art. 260 Abs. 1 AUEV die Maßnahmen zu ergreifen hat, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben. Wenn sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergibt, dass die Berechnung der Kosten für die Festlegung der Mautgebühren im Hinblick auf die geänderte Richtlinie 1999/62 unzutreffend ist, wird das mit der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits befasste nationale Gericht daher auf Antrag die Rückerstattung der zu viel erhaltenen Beträge anordnen müssen.
91. Ohne gegen diesen Art. 260 Abs. 1 AEUV zu verstoßen und ohne die Wirksamkeit der geänderten Richtlinie 1999/62 in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof zu beeinträchtigen, könnte dieses Gericht keine nachträglichen Berechnungen berücksichtigen, um dann zu entscheiden, dass eine Rückerstattung des aufgrund falscher Berechnungen zu viel gezahlten Betrags nicht notwendig sei.
92. Ich möchte zweitens hinzufügen, dass Art. 7 Abs. 9 und Art. 7a Abs.1 und 2 der geänderten Richtlinie 1999/62 keinerlei Hinweise auf die Möglichkeit einer nachträglichen Berechnung enthalten. Ich weise auch darauf hin, dass Art. 7 Abs. 9 dieser Richtlinie die Faktoren, die in die Berechnung der Mautgebühren einfließen können, abschließend aufzählt.
93. Schließlich möchte ich drittens anmerken, dass die geänderte Richtlinie 1999/62 eine auf die tatsächlichen Kosten gestützte Anpassung der Mautgebühren nicht ausschließt, sofern die Berechnungsmethode vor dieser Anpassung festgelegt und diese Anpassung der Öffentlichkeit bekannt gegeben wird. Ich weise darauf hin, dass diese Auslegung durch Anhang III Nr. 4 erster und dritter Gedankenstrich dieser Richtlinie untermauert wird, worin es heißt, dass die Mautgebühren regelmäßig angepasst und korrigiert werden können, damit eine Berichtigung erfolgt, wenn die Kostendeckung aufgrund von Vorhersagefehlern nicht erreicht bzw. überschritten wird. Diese Auslegung entspricht der Analyse des Gerichtshofs in Rn. 138 des Urteils Kommission/Österreich, wonach die Anpassung der Mautsätze später als die Berechnung, die ihrer Rechtfertigung dient, zu erfolgen hat.
94. Daher schlage ich vor, auf die dritte Vorlagefrage zu antworten, dass die geänderte Richtlinie 1999/62, insbesondere ihr Art. 7 Abs. 9 und ihr Art. 7a Abs. 1 und 2, dahin auszulegen ist, dass sie einer im gerichtlichen Verfahren vorgenommenen nachträglichen Berechnung entgegensteht, durch die nachgewiesen werden soll, dass der festgesetzte Mautsatz im Ergebnis die ansatzfähigen Kosten tatsächlich nicht überschreitet.
D. Zur zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen
95. Für den Fall, dass der Gerichtshof auf die dritte Vorlagefrage die von mir vorgeschlagene Antwort geben sollte, beantragt die Beklagte des Ausgangsverfahrens eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen des zu erlassenden Urteils. Ich weise darauf hin, dass dieser Antrag verspätet, nämlich im Stadium der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof, gestellt worden ist.
96. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die zeitliche Beschränkung der Wirkungen eines Urteils, in dem der Gerichtshof eine Bestimmung des Unionsrechts im Wege der Vorabentscheidung auslegt, eine Ausnahme, die voraussetzt, dass zwei grundlegende Kriterien erfüllt sind, nämlich guter Glaube der Betroffenen und die Gefahr schwerwiegender Störungen(56).
97. Der Gerichtshof hat auf diese Lösung nur unter ganz bestimmten Umständen zurückgegriffen, namentlich, wenn eine Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen bestand, die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhingen, die in gutem Glauben auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen worden waren, und wenn sich herausstellte, dass die Einzelnen und die nationalen Behörden zu einem mit dem Unionsrecht unvereinbaren Verhalten veranlasst worden waren, weil hinsichtlich der Tragweite der Unionsbestimmungen eine bedeutende objektive Unsicherheit bestand, zu der eventuell auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission beigetragen hatte(57).
98. Im vorliegenden Fall hat die Beklagte des Ausgangsverfahrens nichts vorgetragen, was diese beiden kumulativen Kriterien erfüllen könnte.
99. Zum einen hat sie den guten Glauben der Betroffenen nicht nachgewiesen. Genauer gesagt hat sie nicht angegeben, inwiefern die Stellungnahmen der Kommission von 2014 und 2019(58), mit denen sich die Kommission für neue Mautsysteme ausgesprochen hat, die die mit der Verkehrspolizei im Zusammenhang stehenden Infrastrukturkosten umfassen, dazu beigetragen hätten, die Tragweite von Art. 7 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 1999/62 objektiv und in bedeutender Weise in Frage zu stellen. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mautgebühren für den Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis 18. Juli 2011 wurden nämlich auf der Grundlage des WKG 2007 berechnet, das einen Berechnungszeitraum von 2007 bis 2012 betrifft(59).
100. Somit ist festzustellen, dass diese Stellungnahmen nach dem betreffenden Zeitraum abgegeben wurden und daher bei der Festlegung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mautgebühren nicht berücksichtigt werden konnten.
101. Zum anderen hat die Beklagte des Ausgangsverfahrens, die in der mündlichen Verhandlung eine zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Urteils beantragt hat, keine näheren Angaben zu einer Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Störungen gemacht. Ich bin mir der potenziellen wirtschaftlichen Bedeutung dieser Rechtssache bewusst. Allerdings reicht der in der Vorlageentscheidung angeführte und von der Beklagten des Ausgangsverfahrens in der mündlichen Verhandlung in Erinnerung gerufene Betrag von 200 Mio. Euro pro Jahr für die den Schwerfahrzeugen zuzurechnenden Ausgaben für die Verkehrspolizei für sich genommen und unter Berücksichtigung der Anwendung der vom nationalen Recht vorgeschriebenen Verjährungsvorschriften nicht aus, um eine Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen nachzuweisen.
102. Daher schlage ich vor, den Antrag auf zeitliche Beschränkung der Wirkungen des zu erlassenden Urteils zurückzuweisen.
V. Ergebnis
103. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (Deutschland) wie folgt zu beantworten:
1. Ein Einzelner kann sich vor einem nationalen Gericht auf die unmittelbare Wirkung von Art. 7 Abs. 9 und Art. 7a Abs. 1 und 2 der Richtlinie 1999/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 1999 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge in der durch die Richtlinie 2006/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2006 geänderten Fassung berufen, um überprüfen zu lassen, ob sich die innerstaatliche Regelung und deren Anwendung in den Grenzen des von Art. 7 Abs. 9 dieser Richtlinie definierten Ermessensspielraums halten, wenn Kosten der Verkehrspolizei bei der Festlegung der Mautgebühren berücksichtigt werden.
2. Art. 7 Abs. 9 der Richtlinie 1999/62 in der durch die Richtlinie 2006/38 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er die Kosten der Verkehrspolizei nicht als Infrastrukturkosten und insbesondere nicht als Betriebskosten umfasst.
Auch eine geringfügige Überschreitung der in diesem Art. 7 Abs. 9 vorgesehenen Infrastrukturkosten stellt einen Verstoß gegen diese Vorschrift dar.
3. Die Richtlinie 1999/62 in der durch die Richtlinie 2006/38 geänderten Fassung, insbesondere ihr Art. 7 Abs. 9 und ihr Art. 7a Abs. 1 und 2, ist dahin auszulegen, dass sie einer im gerichtlichen Verfahren vorgenommenen nachträglichen Kostenberechnung entgegensteht, durch die nachgewiesen werden soll, dass der festgesetzte Mautsatz im Ergebnis die ansatzfähigen Kosten tatsächlich nicht überschreitet.
Leave a Comment cancel
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.